Gastkommentar

Pro sozialer Rechtsstaat

Die solidarische Gesellschaftsordnung und deren Garantie durch Verfassung und Gerichtsbarkeit stehen wieder hoch im Kurs, meint Dr. Andreas Lehr, Gesundheitspolitischer Fachjournalist, L et V Verlag, Berlin

Das Bundessozialgericht feierte am 11. September seinen 60. Geburtstag im Rahmen der alljährlich stattfindenden Richterwoche mit einer Festveranstaltung, zu der nicht nur die Crème de la Crème der deutschen Richterschaft dem BSG seine Aufwartung machte. Auch viele der Spitzen der deutschen Sozialversicherung waren in Kassel erschienen. In ihrem Grußwort versicherte die hessische Justiz-ministerin Eva Kühne-Hörmann, dass sie vehement für den Erhalt der Selbstständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit eintrete und eine Zusammenlegung mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie gelegentlich immer mal wieder angedacht, strikt ablehne.

Den Festvortrag hielt Bundespräsident Joachim Gauck, der begeistert die Verdienste des Gerichts pries, wohl Balsam auf die Seele der gelegentlich angefeindeten Richter des BSG und seines Präsidenten Peter Masuch.

Was an diesem Tag gefeiert wird, so Gauck, sei ein wichtiger Teil des Gemeinwesens. Das soziale Versprechen sei keine Option, sondern Verpflichtung, die man in der Bundesrepublik vor unabhängigen Gerichten einklagen könne. Dies sei Realität und stehe nicht, wie seinerzeit in der DDR, nur auf dem Papier. Jedem stehe der Rechtsweg, gebunden an geltendes Recht, offen. Das Recht sei die stärkste Waffe der Machtlosen. Der Soziale Rechtsstaat sei verwegen und schön, evoziere die Zuneigung vieler zu unserem Gemeinwesen.

Bedürftige hätten Rechte, benötigten kein Almosen. Das Grundgesetz definiere die Verfassungsnorm, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen, und daraus seien Ansprüche erwachsen. Die Sozialgerichte bis hin zum BSG sorgten für die materielle Gerechtigkeit.

Die Sozialgerichte erhielten immer neue Aufgaben, ihre Eigenständigkeit habe sich bewährt, hätten die kürzeste Verfahrensdauer und formten konkret die gesellschaftliche Realität mit – ein El Dorado für Soziologen. Man könne anhand der Urteile den gesellschaftlichen Wandel im Zeitraffer erleben. Er begrüße deshalb außerordentlich, dass das BSG keine Festschrift, sondern eine inter- disziplinäre Denkschrift (der erste Teil mit 800 Seiten) zu seinem Jubiläum initiiert habe, in der die Auswirkungen der Sozialgerichtsbarkeit auf die Realität untersucht werden. Dies sei Lese- und Lernstoff und müsse in einen interdisziplinären Dialog münden. Man könne so erkennen, wo Defizite liegen und wie Lösungen aussehen können. Zu Gesprächen dazu lade er gern ein.

Die Denkschrift wurde von Masuch und den Herausgebern, unter anderem Stephan Leibfried und Ulrich Becker, dem Bundespräsidenten übergeben. Die Herausgeber mahnten an, dass die sozialwissenschaftliche Forschung gegenüber der Ökonomie heute ins Hintertreffen geraten sei, die Zahl der Publikationen sei seit den 80er-Jahren dramatisch gesunken. Der Sozialstaat stehe vor großen Herausforderungen wie Europäisierung, Globalisierung, der demografischen Entwicklung und vielem mehr. Ohne valide sozialwissenschaftliche Daten werde Sozialpolitik zu einem Blindflug.

Die Bundesregierung vertrat Gabriele Lösekrug-Möller, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), mit einem Schlusswort.

Selten konnte man in den vergangenen Jahren eine solch hochpolitische Festveranstaltung miterleben, in der mit klaren, verständlichen Worten die Bedeutung unserer solidarischen Gesellschaftsordnung, ihre Verankerung als Verfassungsnorm und deren Garantie in der Praxis durch die Sozialgerichtsbarkeit affirmativ vorgetragen wurden. Die gerade überreichte Denkschrift wird Aufschluss über die Realität und die bestehenden Defizite geben. Die Bereitschaft Gaucks, einen Dialog zu moderieren, zeigt: Das Thema Sozialstaat steht wieder auf der Agenda.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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