Einsatz im Ernstfall

Rettungsdienst braucht Ehrenamt

Ohne Ehrenamt geht im deutschen Rettungswesen gar nichts. Tausende Helfer unterstützen die hauptamtlichen Rettungskräfte Tag für Tag beim Einsatz. In einigen Bereichen wird die Rettung sogar ausschließlich ehrenamtlich organisiert. Davon profitieren die Bürger, das Solidarsystem und die Helfer selbst – denn ehrenamtliches Engagement fördert die sozialen Kompetenzen und sorgt für einzigartige Gemeinschaftserlebnisse.

Es ist Samstagabend. Deutschland sitzt zu großen Teilen vorm Fernseher und verfolgt die Sportschau. Um 19:37 Uhr kommt der Notruf in der Rettungsleitstelle an: Massenkarambolage auf der A2. Blitzeis. Eben hat es noch geregnet, doch der Bodenfrost hat die Fahrbahn in wenigen Minuten in eine geschlossene Eisdecke verwandelt. Dutzende Fahrzeuge sind bei hohem Tempo ineinander gerast, es ist mit vielen Verletzten und auch Toten zu rechnen. Innerhalb weniger Minuten werden alle verfügbaren Rettungswagen in der Nähe mobilisiert, Rettungshubschrauber eilen zum Unfallort. An Bord der Einsatzfahrzeuge: Notärzte und hauptberufliche Rettungsassistenten.

An ihrer Seite: ehrenamtliche Rettungshelfer und Einsatzkräfte der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV). „Beim Deutschen Roten Kreuz helfen uns bundesweit rund 15 000 Ehrenamtler bei der bodengebundenen Notfallrettung“, erklärt Eckhard Otte, Ehrenamtsbeauftragter beim Deutschen Roten Kreuz. Die ehrenamtlichen Helfer unterstützen die hauptamtlichen Kräfte im Alltag – und natürlich bei Großeinsätzen wie etwa dem Unfall auf der A2.

Speziell für Großschadensfälle wie den Massenunfall auf der Autobahn oder das Zugunglück in Eschede gibt es die Schnelleinsatzgruppe (SEG). Dabei handelt es sich um Freiwillige, die so ausgebildet und ausgerüstet sind, dass sie bei einem Großeinsatz Verletzte und andere Betroffene versorgen können. Allgemein unterstützt und ergänzt eine SEG bei größeren Schadensereignissen den für den einzelnen Notfall vorgehaltenen Rettungsdienst durch die Bereitstellung von Material, Rettungsmitteln und ehrenamtlichem Personal mit entsprechender Ausbildung.

Hilfe in den Bergen

Im Gegensatz zum bodengebundenen Rettungsdienst ist die Bergwacht des Deutschen Roten Kreuzes nahezu komplett ehrenamtlich organisiert. Über 5 500 Menschen unterstützen das bayerische DRK durch einen ehrenamtlichen Bergrettungsdienst. Die Bergwacht führt den Rettungsdienst in den alpinen Einsatzbereichen, an unwegsamen Einsatzschwerpunkten und in Höhlen durch. Sie wird auf der Basis des Bayerischen Rettungsdienstgesetzes und öffentlich-rechtlicher Verträge mit der Durchführung des Rettungsdienstes beauftragt. Die Ehrenamtler leisten jedes Jahr rund 6 000 Rettungsdienst-Einsätze, 950 Such- und Sondereinsätze zur Toten-, Gleitschirm- oder Drachenbergung und 5 000 Hilfeleistungen ohne umfangreiche medizinische Verantwortung.

Gerade einmal 17 hauptamtliche Mitarbeiter in der Verwaltung organisieren das große Ehrenamtler-Netzwerk. Ihre Finanzen verwaltet die Bergwacht Bayern unabhängig vom DRK. Das Bayerische Rettungsdienstgesetz verpflichtet die Bergwacht, den Betroffenen beziehungsweise ihren Krankenversicherungen die Rettungsleistungen in Rechnung zu stellen. Auf diese Weise wird etwa ein Drittel der jährlichen Kosten von rund 5,2 Millionen Euro über die Krankenkassen refinanziert. Ein weiteres Drittel stellt der Freistaat Bayern für die Beschaffung der Einsatzfahrzeuge, Kommunikations- und anderweitigen Rettungsmittel zur Verfügung. Der Restbetrag finanziert sich über Spenden an die 116 Bergwachten.

Retter am und im Wasser

Während die Bergwacht in Deutschland quasi allein durch das Rote Kreuz organisiert wird, teilen sich beim Wasserrettungsdienst im Wesentlichen zwei große Hilfsorganisationen – die Wasserwacht und die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) – das Arbeitsgebiet. An einigen wenigen Orten werden sie ergänzt durch die Johanniter-Unfall-Hilfe und den Arbeiter-Samariter-Bund.

Die Wasserwacht ist eine Gemeinschaft im Deutschen Roten Kreuz (DRK) – rund 60 000 ehrenamtlich tätige Mitglieder arbeiten hier im Wasser-Rettungsdienst. Auch bei der DLRG sind jedes Jahr rund 60 000 aktive Rettungsschwimmer im Einsatz.

Über ganz Deutschland verteilt sind die Ehrenamtlichen im Einsatz – an Flüssen, an Seen, am Meer und in Schwimmbädern. 2012 rettteten allein die DLRG-Rettungsschwimmer 457 Menschen vor dem Tod durch Ertrinken. Neben der qualifizierten, professionellen Lebensrettung und Ersten Hilfe bilden die Wasserrettungsdienste Rettungsschwimmer aus und beseitigen Gefahrenquellen im Wasser. Auch größere Veranstaltungen am Wasser, wie Ruder- und Segelregatten oder Triathlon-Veranstaltungen, werden durch die Helfer der Wasserwacht abgesichert. An Stellen, wo Rettungsschwimmer nicht mehr allein agieren können, kommen Taucher zum Einsatz, zum Beispiel nach Schiffsunglücken oder bei der Bergung von Verunglückten.

Wertvolle Erfahrungen

Das Fazit ist eindeutig: Ohne Ehrenamt geht im deutschen Rettungsdienst gar nichts. Das gilt auch für die kleineren Wohlfahrtsverbände mit einem Rettungsdienst, beispielsweise den Malteser-Hilfsdienst oder den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB). Bei den Maltesern arbeiten rund 1 200 Menschen ehrenamtlich im Rettungsdienst, beim ASB sind es etwa 300. Neben diesen „lupenreinen Ehrenamtlern“, die komplett unentgeltlich ihre Arbeit anbieten, gibt es noch die sogenannten Freiwilligendienste wie das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) und den Bundesfreiwilligendienst (BFD). Auch hier liegt das DRK weit vorne: Beim Deutschen Roten Kreuz unterstützen im Rahmen des FSJ oder des BFD rund weitere 2 150 Freiwillige den Rettungsdienst, bei den Maltesern sind es über 500, beim ASB weniger als 300.

„Wer herausfinden möchte, wie bereicherndes ist, anderen Menschen zu helfen, der kann sich beim DRK in einem Freiwilligen Sozialen Jahr oder während des Bundesfreiwilligendienstes engagieren. Auch ältere Freiwillige, die schon im Berufsleben standen und ihre wertvollen Erfahrungen weitergeben und neue Eindrücke hinzugewinnen möchten, heißen wir beim Bundesfreiwilligendienst herzlich willkommen“, betont Eckhard Otte vom DRK. Der Austausch mit Kollegen und die Arbeit im Team schule die Kommunikations- und die Kooperationsfähigkeit und das praktisch Erlernte werde in Seminaren vertieft. „Neue Sichtweisen und Kenntnisse werden direkt im Einsatz erprobt. Das stärkt das Selbstbewusstsein und liefert insbesondere jungen Freiwilligen das Rüstzeug für einen vielseitigen und erfolgreichen Lebensweg“, so Otte weiter.

Es sind Menschen wie Ralph Prandl, nach denen die Wohlfahrtsverbände suchen. Der 20-Jährige engagiert sich im sozialen Bereich, weil er etwas fürs Leben mitnehmen möchte. Deshalb hat der Abiturient im vergangenen Jahr beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK) im mittelfränkischen Fürth als Bundesfreiwilliger angefangen. „Ich glaube, ein Freiwilligendienst sensibilisiert für die Probleme anderer Menschen“, erklärt der junge Idealist. „Man nimmt viel stärker die Menschen um sich herum wahr und lernt, besser mit ihnen umzugehen.“ Nach seiner vierwöchigen Ausbildung zum Rettungsdiensthelfer unterstützt er nun den Fahrdienst des BRK. Prandl fährt ältere Menschen, die selbst nicht mehr mobil sind, zum Arzt oder zu anderen Terminen in der Stadt und anschließend zurück nach Hause. Seine Motivation für den BFD ist aber auch ganz pragmatischer Natur: Bevor er Medizin studiert, möchte er sichergehen, dass er sich genug für das Thema interessiert, um später in diesem Bereich zu arbeiten. Deswegen hat er sich bewusst eine Einsatzstelle im medizinischen Bereich gesucht.

Der Bundesfreiwilligendienst (BFD) ist 2011 als Initiative zur freiwilligen, gemeinnützigen und unentgeltlichen Arbeit in Deutschland eingeführt worden. Er wurde von der Bundesregierung als Reaktion auf die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 und damit auch des Zivildienstes eingeführt. Er soll das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) ergänzen und das bürgerliche Engagement fördern. Ziel ist es unter anderem auch, das Konzept des Freiwilligendienstes auf eine breitere gesellschaftliche Basis zu stellen, da der Bundesfreiwilligendienst im Gegensatz zum FSJ auch für Erwachsene über 27 Jahre offen ist. Eine Altersgrenze nach oben gibt es nicht, die Freiwilligen müssen lediglich mindestens 16 Jahre alt sein und die Regelschulzeit absolviert haben. Ähnlich wie beim FSJ dauert der Bundesfreiwilligendienst in der Regel zwölf Monate, mindestens jedoch sechs und höchstens 18 Monate. In Ausnahmefällen kann er bis zu 24 Monate geleistet werden.

Beim BFD handelt es sich grundsätzlich um einen ganztägigen Dienst. Anders als beim FSJ bietet der BFD seinen Freiwilligen über 27 Jahren die Möglichkeit, im Teilzeitdienst von mindestens 20 Stunden wöchentlich zu arbeiten. Die liebevoll „Bufdis“ genannten Freiwilligen schließen ihren Vertrag direkt mit dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA). Das BAFzA vermittelt dann die Freiwilligen an einen Träger.

Auch das FSJ ist ein Freiwilligendienst, in dessen Rahmen Menschen sich für den Rettungsdienst entscheiden können – es wendet sich aber nur an Jugendliche und junge Erwachsene von 16 bis 27 Jahren. FSJ-ler schließen ihren Vertrag über den Einsatz aber nicht mit dem Bund, sondern direkt mit dem Träger und der konkreten Einsatzstelle.

Bei den Aufwandsentschädigungen gibt es zwischen den beiden Diensten in der Regel keine Unterschiede. Generell gilt: Der Freiwillige soll ein angemessenes Taschengeld erhalten. Die Höchstgrenze liegt derzeit bei 357 Euro. Zusätzlich kann der Freiwillige Verpflegung, Unterkunft und Kleidung erhalten oder den entsprechenden Gegenwert ausbezahlt bekommen. Auch die Beiträge für Renten-, Unfall-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zahlt die Einsatzstelle. Diese entscheidet letztlich allein, wie hoch das jeweilige Taschengeld ausfällt und ob sie die zusätzlichen Leistungen anbietet oder auszahlt.

Pädagogische Begleitung

In beiden Freiwilligendiensten ist eine pädagogische Begleitung fest verankert. Bei einer zwölfmonatigen Dienstdauer sind 25 Bildungstage vorgesehen. Die pädagogische Begleitung hat zum einen das Ziel, Freiwillige auf ihren Einsatz vorzubereiten. Sie bietet ihnen aber auch die Gelegenheit, außerhalb der praktischen Arbeit in der Einsatzstelle einmal innezuhalten, um Eindrücke mit anderen Freiwilligen auszutauschen und Erfahrungen aufzuarbeiten. Darüber hinaus sollen soziale und interkulturelle Kompetenzen vermittelt und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl beziehungsweise für einen nachhaltigen Umgang mit Natur und Umwelt gestärkt werden.

„Wir waren anfangs skeptisch, ob der BFD den Zivildienst ersetzen kann, weil die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes sehr kurzfristig kam. Inzwischen können wir eine positive Bilanz ziehen, die Nachfrage für ein FSJ oder BFD ist weiterhin hoch. Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass der Bund eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Freiwilligendienste auch weiterhin finanziell ermöglicht“, betont Otte vom DRK.

Auch beim Malteser-Hilfsdienst konnte der Wegfall des Zivildienstes beim Rettungsdienst kompensiert werden. „Wir haben heute sogar mehr Freiwillige im Rettungsdienst als in den letzten Jahren im Zivildienst. Nachdem die Dauer des Zivildienstes auf unter ein Jahr gekürzt worden war, lohnte sich das Einsatzgebiet Rettungsdienst kaum noch, da aufgrund der langen Ausbildungszeiten fast keine effektive Dienstzeit mehr übrig blieb. Auch wenn wir in anderen Bereichen sozialer Dienste den Wegfall der Zivis nicht kompensieren konnten, zumindest im Rettungswesen konnte die Lücke durch Freiwillige mehr als geschlossen werden“, sagt Sabine Ulonska, Referatsleiterin Freiwilligendienste des Malteser Hilfsdienstes.

Ulonska betrachtet die beiden Freiwilligendienste als eine klassische Win-win-Situation.

Denn neben dem offensichtlichen gesellschaftlichen Gewinn durch den Einsatz Freiwilliger profitieren diese auch selber von ihrem Engagement: „Die Freiwilligen im Rettungsdienst bekommen das Gefühl vermittelt, einen anspruchsvollen Dienst zu leisten. Ein großer Anteil der Freiwilligen strebt nach dem Freiwilligendienst einen medizinischen Studiengang an. Aus diesem Grund ist die Motivation, sich im Rettungsdienst zu engagieren sehr hoch, verbunden mit der Hoffnung, durch den Freiwilligendienst Pluspunkte für die Studienplatzvergabe zu erhalten. Die Zeit des Freiwilligendienstes wird von den jungen Leuten bewusst als Zeit des Ausprobierens genutzt.“

Das Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik hat sich im Auftrag des Arbeiter-Samariter-Bundes die Hintergründe für ein ehrenamtliches Engagement beim ASB genauer angeschaut. Die Sozialforscher unterscheiden in ihrer Analyse zunächst verschiedene Freiwilligentypen. Sogenannte proaktive Freiwillige sind demzufolge Menschen, die für ein Engagement Zeit haben, sich engagieren wollen und eigenständig nach einer ehrenamtlichen Tätigkeit suchen, die sie gerne ausüben möchten. Die aktivierten Freiwilligen sind hingegen Menschen, die zwar grundsätzlich hilfsbereit sind, für ein ehrenamtliches Engagement jedoch einen Anstoß von außen brauchen. Die erfahrenen Freiwilligen sind der Studie zufolge solche Menschen, die entweder durch eine familiäre Tradition bereits Zugang zum ASB hatten oder als Jugendliche an einem Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen oder einen Zivildienst beim ASB absolviert haben.

Im Rettungsdienst finden sich der Studie zufolge besonders viele erfahrene Freiwillige. Es sind in der Regel junge Menschen im Erwerbsalter, die als Jugendliche oder durch eine familiäre Tradition im Engagement für den ASB sensibilisiert wurden. Fachliche Interessen sowie der attraktive Habitus der Dienste stellen für diese Freiwilligen wichtige Beweggründe für das Engagement dar. Sie wollen nicht nur von einer hochwertigen Ausbildung profitieren, sondern ihre Freizeit mit sinnvollen Tätigkeiten verbringen, die für die lokale Bevölkerung einen hohen Nutzen erbringen und in der Öffentlichkeit gesehen werden. Kompetente Hilfe in Notsituationen, Kameradschaft, solidarisches Miteinander sowie die Zugehörigkeit zu einem Verband mit gutem Ruf seien für diese Freiwilligen wichtige Faktoren, so die Autoren der Studie.

Hilfe für die Helfer

Immer wieder kann es passieren, dass die ehrenamtlichen Helfer trotz einer guten Ausbildung und pädagogischer Begleitung bei einem Einsatz an ihre Grenzen stoßen. „Im Rahmen der pädagogischen Begleitung werden die Freiwilligen durch die Träger auf ihren Einsatz vorbereitet. Sie werden im Rettungsdienst mit Krankheit, Verletzungen und im schlimmsten Fall auch mit dem Tod konfrontiert. Diese Erfahrungen werden in den Seminaren zur besseren Verarbeitung häufig thematisiert. Darüber hinaus findet die Reflexion auch in der Einsatzstelle und kontinuierlich durch den Träger statt“, sagt Ehrenamtsbetreuer Otte vom Deutschen Roten Kreuz.

Doch ganz egal, wie gut die Vorbereitung ist – immer wieder bringen besonders schwere Einsätze die Rettungskräfte an ihre Grenzen. Zum Beispiel Vanessa Wolf. Seit 2008 arbeitet sie als Rettungsassistentin beim DRK Offenburg. „Ich musste für einen Routineeinsatz in eine orthopädische Fachklinik im Offenburger Umland. Ich sollte dort mit meinem Team eine Patientin abholen und in eine andere Klinik verlegen“, erzählt Wolf. Während sie auf das Patientenzimmer ging, stürmte ein bewaffneter Mann in die Klinik und schoss dort wild um sich. Immer wieder hörten sie die warnenden Schreie des Pflegepersonals, dass ein Amokläufer im Krankenhaus sei. Die Rettungsassistentin verständigte per Telefon ihre Leitstelle und die Polizei – dabei wusste sie, dass die nächste Polizeidienststelle weit entfernt lag. Mit schneller Hilfe war also nicht zu rechnen. Eine gefühlte Ewigkeit verbarrikadierten sie sich mit ihrer Patientin im Zimmer. Erst kurz zuvor hatte sie sich im Rahmen der beruflichen Fortbildung mit dem Thema Amoklauf auseinandergesetzt. Nach quälend langen 20 Minuten schoss sich der Täter schließlich selbst in den Kopf – aber der Mann lebte noch. Wolf war mit dem Klinikpersonal als Erste mit notfallmedizinischer Ausbildung am Ort des Geschehens und leistete Ersthilfe, bis der Amokschütze schließlich in eine andere Klinik gebracht wurde, wo er dann seinen Verletzungen erlag.

Trotz der potenziell lebensbedrohlichen Situation, die sie gerade überstanden hatte, funktionierte die Rettungsassistentin einfach weiter. Immer noch wartete ihre Patientin auf die Verlegung in ein anderes Krankenhaus und Wolf machte einfach weiter ihren Job. Die nächsten Tage fühlte sie sich auf der Arbeit wie ferngesteuert. Sie funktionierte, war schlicht nicht in der Lage, ihre eigene Situation einzuschätzen oder ihre Hilfsbedürftigkeit mitzuteilen. Aufgrund eines Fehlers in der Einsatzdokumentation war nirgends festgehalten, dass sie in die Vorkommnisse im Krankenhaus involviert war – und zwar als Opfer. Ihr Vorgesetzter wusste also gar nicht, was ihr passiert war. Und sie war nicht in der Lage, um Hilfe zu bitten. Albträume, Panikattacken, Schlaflosigkeit – Wolf zeigte in ihrer Freizeit die klassischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Job zog sie ihre Einsatzkleidung an und funktionierte.

Erst nach vier Tagen fiel dem Vorgesetzten das apathische Verhalten seiner Mitarbeiterin auf – danach ging dann alles sehr schnell. Ein Psychologe aus dem ehrenamtlichen PSNV-Team kümmerte sich fortan um sie.

„Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich dieses Angebot nicht bekommen hätte. Aufgrund der Umstände kam die Hilfe zwar spät, aber – Gott sei Dank – nicht zu spät“, erzählt Wolf. Es dauerte vier Monate Gesprächs- und Konfrontationstherapie, bis die Rettungsassistentin wieder frei durchatmen und die psychische Störung überwinden konnte.

Aufbau von Hilfsstrukturen

Dass auch die Helfer nach schweren Einsätzen psychosoziale Hilfe brauchen, entdeckten die Verantwortlichen zum ersten Mal nach dem Flugschauunglück in Ramstein 1988. Die Katastrophe hinterließ reihenweise überforderte Rettungskräfte, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Nachdem unmittelbar nach dem Flugschauunglück in einer Kaiserslauterner Klinik auffällig viele Besucher der Flugschau, aber auch belastete Rettungskräfte nach Hilfe suchten, entwickelte zunächst das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in der Folge erste psychosoziale Hilfsangebote, die speziell für den Einsatz bei Großschadensereignissen gedacht waren und die sowohl den betroffenen Angehörigen vor Ort als auch den Rettungshelfern Unterstützung bieten sollten.

Parallel dazu entwickelten aber auch die verschiedenen Wohlfahrtsorganisationen mit Rettungsdiensten eigene Hilfsangebote. So baute Anfang der 90er-Jahre der ASB das deutschlandweit erste Kriseninterventionsteam in Regensburg auf, seit Mitte der 90er etablierte auch das Deutsche Rote Kreuz mit der psychosozialen Notfallversorgung PSNV eine „Hilfe für die Helfer“ mit zunächst regional sehr verschiedenen psychosozialen Versorgungsangeboten. Seit 2010 sorgen Leitlinien und Qualitätsstandards für ein bundesweit homogenes Angebot in diesem Bereich.

Auch in der PSNV sind es wieder hauptsächlich Ehrenamtliche, die ihre Hilfe anbieten. Allein beim DRK sind es rund 5 000 Menschen. „Es sind nicht nur die Großereignisse wie ein Zugunfall oder ein Flugzeugabsturz, die die Menschen an den Rand ihrer Kräfte bringen. Jeden Tag im Rettungsalltag können schlimme Dinge passieren, beispielsweise eine missglückte Reanimation bei einem Säugling“, erzählt Michael Steil, der beim DRK die psychosoziale Notfallversorgung bundesweit koordiniert. „In solchen Fällen schicken wir zunächst Helfer zu den hinterbliebenen Angehörigen, die wir vor Ort nicht allein zurücklassen können. Später erhalten dann auch die Rettungshelfer Angebote in den jeweiligen Leitstellen. Hier bieten psychosoziale Fachkräfte wie Psychologen, Sozialarbeiter oder Theologen den Helfern dann eine Beratung an. Oftmals fällt es den Rettungssanitätern aber auch leichter, mit einem Kollegen zu sprechen. „Deshalb arbeiten wir überall auch mit speziell fortgebildeten Rettungskräften, die dann natürlich von psychosozialen Profis fachlich begleitet werden“, erklärt Steil.

Vanessa Wolf findet diese kollegiale Hilfe sehr wichtig. In ihrer Leitstelle gab es allerdings bislang keinen entsprechend fort- gebildeten Kollegen, der ihr hätte helfen können. Sie will das ändern. Darum lässt sich die Helferin, die selbst Hilfe brauchte, nun zur kollegialen Helferin fortbilden.

Otmar MüllerGesundheitspolitischer Fachjournalist, Kölnmail@otmar-mueller.de

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