Der besondere Fall

Avulsion mit Lippenperforation nach Sportunfall

195823-flexible-1900

Eine 69-jährige Frau wurde nach einem Sturz beim Joggen in der Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie vorstellig. Die Patientin zeigte anamnestisch und klinisch keine Commotiozeichen. Der Tetanusimpfstatus war unklar. Extraoral waren keine Frakturzeichen festzustellen, allerdings zeigte sich in der Oberlippe ein perforierender Defekt von 15 mm x 10 mm mit Durchtrennung des Musculus orbicularis oris in Form einer Riss-Quetschwunde auf Höhe der Lippen-Rot-Weiß-Grenze und des Philtrums (Abbildung 1).

Der avulsierte Zahn 11 war in einer Dose mit isotonischer Kochsalzlösung gelagert, seine Wurzeloberfläche stark verschmutzt, die exakte extraorale Verweildauer unklar. Die Alveolenwände zeigten sich bei Inspektion intakt. In der angefertigten Panoramaaufnahme waren keine Anzeichen auf Knochenfrakturen zu erkennen (Abbildung 2). Aufgrund der starken Verschmutzung des avulsierten Zahnes 11 wurde nach Reinigung der Wurzeloberfläche und 30-minütiger Lagerung im Dentosafe eine extraorale Wurzelbehandlung durchgeführt. Der Zahn wurde dazu mit einer Unterkiefer-Prämolaren-Zange an der Krone gehalten, um ein berührungsloses Arbeiten zu ermöglichen.

Nach wassergekühlter Trepanation mit einem zylindrischen Diamanten wurde Zahn 11 mittels Mtwo (VDW GmbH, München) bis auf ISO Größe 40 maschinell aufbereitet und mit Apexit (Ivoclar Vivadent, Ellwangen), alpha Guttapercha Größe 40.06 und BeeFill (VDW GmbH, München) wurzelgefüllt.

Zur Spülung wurde isotonische Kochsalzlösung angewandt, um das Desmodont nicht weiter zu traumatisieren. Anschließend wurde der Zahn 11 koronal mit VenusFlow in Säureätztechnik verschlossen. Dann erfolgten die schichtweise Versorgung der Weichteilwunde des Musculus orbicularis oris nach Reinigung der Wundränder mittels physiologischer Kochsalzlösung mit einer resorbierbaren Naht (Serafit 3.0, Serag-Wiessner GmbH, Naila) und der intraorale Verschluss der Mukosa.

Die äußeren Wundanteile wurden vorsichtig unter korrekter Annäherung der Lippen-Rot-Weiß-Grenze mit Polyamid 6.0 (Supramid 6.0, Serag-Wiessner GmbH, Naila) adaptiert und die Wunde zur Überprüfung des Ergebnisses intermediär mit physiologischer Kochsalzlösung gereinigt. Nach vorsichtiger Reinigung der Alveole von Koagelresten und Replantation erfolgte eine Schienung des betroffenen Zahnes mittels Draht-Komposit-Schiene für zehn Tage (Abbildung 3). Systemisch erfolgte eine Antibiose mit Amoxicillin 1000 mg, 1–1–1 für fünf Tage. Abschließend wurde die Patientin zur Auf-frischung der Tetanusimpfung an den Durchgangsarzt überwiesen. Nach sieben Tagen wurden die Fäden entfernt.

Die Verlaufskontrolle nach 14 Tagen ergab eine günstige Abheilungstendenz mit einem schönen Verlauf der Lippen-Rot-Weiß-Grenze (Abbildung 4). Außerdem wurde Contratubex (Merz Pharmaceuticals GmbH, Frankfurt) ab der vierten Woche empfohlen. Die Rekonstruktion der Schmelz-Zement-Defekte erfolgte alio loco beim Hauszahnarzt.

Bei der Kontrolle nach acht Wochen zeigte sich insgesamt ein gutes äußeres Gesamtbild mit Abnahmetendenz des Narbenzuges (Abbildung 5). Klinisch reagierten die Zähne 12, 21 und 22 vital auf Kältetest. Der Perkussionstest ergab den üblichen, dunklen Klopfschall bei Abwesenheit von Zahnlockerungen. Im zur Verlaufskontrolle angefertigten Zahnfilm in Regio 11 waren der PA-Spalt deutlich durchgezeichnet und keine Resorptionszeichen sichtbar (Abbildung 6).

Diskussion

Bei einer Zahnavulsion kommt es bezüglich der Prognose essenziell auf die Erstversorgung an. Die Wahl der Behandlungsmethode richtet sich nach der Wurzelreife (offenes oder geschlossenes Foramen apikale) und dem Zustand der Zellen des parodontalen Ligaments auf (PDL) der Wurzelober-fläche [Andersson et al., 2012]. Im vorliegenden Fall waren die PDL-Zellen höchstwahrscheinlich vital, aber in einem kompromittierten Zustand aufgrund einer kurzen extra-oralen Verweilzeit und konsekutiver Lagerung in einem Nährmedium. Wurde der Zahn in einem physiologischen Aufbewahrungsmedium gelagert, sollte die Wurzeloberfläche mit physiologischer Kochsalzlösung gespült werden und nach Applikation einer Lokalanästhesie manuell in seine Alveole reponiert werden. Weichteilwunden werden genäht und der Zahn mit einer flexiblen Draht-Komposit-Schiene fixiert. Zusätzlich wird eine systemische Antibiose appliziert. Im vorliegenden Fall wurde aufgrund der kontinuierlichen Blutung primär auf eine Versorgung der Weichteilwunde geachtet, um nach Zwischenlagerung im Dentosafe in relativer Trockenheit mittels Draht-Komposit-Schienung versorgt zu werden. Wird ein Zahn in einer Zahnrettungsbox gelagert, so kann der Zahn nach notwendiger Erstversorgung immer noch bis zu 24 Stunden replantiert werden [Pohl, 2006].

Sieben Tage später soll vor der Splintentfernung eine Wurzelkanalbehandlung eingeleitet werden. Sind die PDL-Zellen aufgrund trockener Lagerung über 60 Minuten oder Lagerung in einem unphysiologischen Medium devital, hat der Zahn eine deutlich schlechtere Prognose, wobei Ankylose und Ersatzresorption drohen. Das avitale Gewebe auf der Wurzeloberfläche sollte entfernt werden, der Zahn mit Bifluorid zur Resorptionsprophylaxe imprägniert und eine extraorale Wurzelbehandlung durchgeführt werden [Ingle, 2008; Andersson et al., 2012]. Nach Applikation einer Lokalanästhesie wird der Zahn manuell in seine Alveole reponiert und mit einer flexiblen Draht-KompositSchiene fixiert. Bei Luxationsverletzungen mit hohem Dislokationsgrad wie laterale Luxation, Intrusion oder Avulsion ist mit einem Abriss des apikalen Gefäß-Nervenstrangs zu rechnen. In diesen Fällen sollte bei bereits abgeschlossenem Wurzelwachstum eine Wurzelbehandlung zur Resorptions-prophylaxe eingeleitet werden. War es bisher bei Luxationsverletzungen an Zähnen mit abgeschlossenem Wurzelwachstum üblich, den Zahn zu reponieren und eine erhoffte, aber meist nicht auftretende Revaskularisierung abzuwarten und den Patienten in engen Recall zu nehmen, so wird aktuell eine möglichst frühzeitige Wurzelkanal- behandlung befürwortet.

Dies hat folgenden Grund: Da das apikale Foramen sehr klein ist (etwa 300 bis 400µm) [Kerekes und Tronstad, 1977], kann keine Neubesiedelung durch Granulationsgewebe und konsekutiver Angiogenese erfolgen, wie von Kling et al. bereits 1985 nachgewiesen [Kling et al., 1985]. Da der Zahn aber nicht über eine kollaterale Versorgung verfügt, stirbt die Pulpa ab. Dies wiederum kann zu einer Ersatzresorption oder zu einer entzündlichen Resorption der Zahnwurzel führen. Bei Jugendlichen unter 18 Jahren sollte nach Avulsion bleibender Zähne auf alle Fälle eine Replantation durchgeführt werden, um den Knochen lokal zu stabilisieren. Ist das Foramen apikale weit offen, werden regelmäßige Recalls durchgeführt, Vitalitätstests auf Kälte oder Strom können dabei oft negativ verlaufen. Die betroffenen Zähne sind in der Regel vital, reagieren aber nicht sensibel. Oftmals kann an solchen Zähnen eine Dunkelfärbung beobachtet werden. Dies kann ein Hinweis auf eine Pulpennekrose oder ein reversibles Hämatom sein, das nach einigen Tagen wieder abklingt. Deshalb sollten verfärbte Zähne nicht sofort trepaniert werden. Eine Röntgenkontrolle ist trotzdem sinnvoll, um eventuell vorhandene Resorptionen frühzeitig zu erkennen. Bei Weichteilwunden ist die Erhebung der Angaben zum Impfstatus (Tetanusschutz) unerlässlich. Fehlt eine Grundimmunisierung oder die entsprechende Auffrischung, ist eine Tetanus-Immunprophylaxe unverzüglich durchzuführen. Fehlende Impfungen der Grundimmunisierung sind entsprechend nachzuholen. Sinnvollerweise erfolgt dazu die Überweisung zum Durchgangsarzt. Der dortige Termin beinhaltet auch die Abklärung auf Anzeichen eines Schädel-HirnTraumas (Commotio oder Compressio cerebri). Leitsymptom einer Commotio cerebri ist die retrograde Amnesie, manchmal auch der Bewusstseinsverlust. An Diagnostik bei Weichteilwunden der Lippe sollte bei Verlust von Zähnen oder Zahnteilen zusätzlich ein Röntgenbild der Weichteile erfolgen, um etwa in die Tiefe versprengte Zahnteile zu entdecken. Dazu wird beispielsweise ein Zahnfilm im Vestibulum vor der Zahnreihe eingebracht. Eine frühzeitige Versorgung erhöht dabei in allen Fällen die Wahrscheinlichkeit eines befriedigenden Ergebnisses.

PD Dr. D. D. BrüllmannDr. Kristian KnierimPD Dr. Dr. Peer KämmererProf. Dr. Bernd d’HoedtPoliklinik für Zahnärztliche ChirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität MainzAugustusplatz 2, 55131 Mainzbruellmd@uni-mainz.de

1. Andersson L, Andreasen JO, Day P, Heithersay G, Trope M, Diangelis AJ, Kenny DJ, Sigurdsson A, Bourguignon C, Flores MT, Hicks ML, Lenzi AR, Malmgren B, Moule AJ, Tsukiboshi M (2012): International Association of Dental Traumatology guidelines for the management of traumatic dental injuries: 2. Avulsion of permanent teeth, in: Dental Traumatology 28(2), 88-96.2. Horst Kirschner, Yango Pohl, Andreas Filippi: Unfallverletzungen der Zähne. Ein Kompendium für Studium und Praxis. München: Elsevier2006.3. Ingle (2008) Ingle's endodontics 6. Hamilton Ontario.4. Kerekes K, Tronstad L (1977): Morphometric observations on root canals of human anterior teeth, in: Journal of Endodontics,  3, 24–29.5. Kling M, Cvek M, Mejare I (1986): Rate and predictability of pulp revascularization in therapeutically reimplanted permanent incisors. Endodontics & dental traumatology, 2,83–9

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