Kommentar zum Deutschen Ärztetag

Das wurde auch Zeit!

Video-Sprechstunden, Terminvereinbarungen über das Internet, der Umgang mit Gesundheits-Apps – der 120. Deutsche Ärztetag hat sich das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen auf die Fahne geschrieben. Es wurde auch Zeit.

Was mittlerweile auch im Gesundheitswesen gang und gäbe ist, wurde thematisiert und kritisch beleuchtet. Und um es vorwegzunehmen: Die Diskussion hat sich gelohnt. Ein bundeseinheitliches Gütesiegel für Gesundheits-Apps und die Etablierung einer Digitalisierungsstrategie – mitgestalten, statt abwarten. „Digitalisierung im Gesundheitswesen – Ärzteschaft gestaltet mit“, lautete denn auch lapidar der mit überwältigender Mehrheit vom Ärztetag angenommene Generalbeschluss zur Digitalisierung. Ärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery konstatierte einen erheblichen Stimmungsumschwung im Vergleich zu früheren Ärztetagen: Viele ehemalige Ablehner stünden jetzt an der Spitze der Bewegung.

Bereits seit mehreren Jahren beobachten Ärzte und Zahnärzte – im Krankenhaus wie ambulant – einen mündigeren Patienten. Heute lautet die Frage nicht mehr „Was habe ich?“, sondern „Im Internet habe ich dazu aber noch das und das gelesen“. Der unwissende Patient wandelt sich zum „Nutzer“ oder „Kunden“, wie es Prof. Dr. Christiane Woopen von der Forschungsstelle Ethik an der Uniklinik Köln und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates in ihrem viel beachteten Vortrag vor dem Ärztetag treffend formuliert hatte.

Krankschreibungen – nur im Ausdruck! Unglaublich!

Diese Selbstbestimmung des Patienten wird gefördert. Für Ärzte und Zahnärzte heißt das: Ihre Entscheidungen müssen nachvollziehbar sein. Doch nicht nur das. Patienten fordern zunehmend die eigenen Gesundheitsdaten ein. Da hakt es in Deutschland. Die elektronische Gesundheitskarte steckt aus verschiedensten Gründen immer noch in den Kinderschuhen. Und die Industrie kommt nicht nach in der Entwicklung kompatibler Systeme. Erschreckend. Woopen fürchtet um den Datenschutz und fordert eine „autorisierte Institution“ zur Prüfung. Gute Idee – doch wer soll es machen: der Staat, die Selbstverwaltung der Leistungserbringer, die Krankenkassen? Eine unabhängige Institution wohl eher.

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Digitalisierung ist eine Chance – und zwar eine große. Sie verbessert die partnerschaftliche Arzt-Patienten-Beziehung. Vorausgesetzt Ärzte und Zahnärzte lassen sich darauf ein. Denn informierte Patienten sind – nun leider oder sehr gut – unbequem. Laut Gesundheitsmonitor 2016 stimmten 45 Prozent der befragten Ärzte der Aussage zu, die Selbstinformation der Patienten erzeuge vielfach unangemessene Erwartungen und Ansprüche, die die Arbeit der Mediziner belasten. Das mögen die Pessimisten so sehen, vor allem jedoch werden Ärzte und Zahnärzte gefordert. Gut so, das treibt die Innovationen voran und setzt auch die Krankenkassen unter Druck. Und hier gibt es Nachholbedarf. Ist es nicht unglaublich, dass Krankschreibungen immer noch umständlich ausgedruckt werden müssen, damit der Patient sie nach wie vor per Post an seine Kasse schickt? Und wer versteht noch, warum Heil- und Kostenpläne für die Versorgung von Zahnersatz nicht digital gleich an die Kasse weitergeleitet werden können?

Wie die Digitalisierung uns hilft, zeigt die klinische Forschung. Während früher – bedingt durch ein spezifisches Profil der gesuchten Patienten – meist Jahre notwendig waren, um eine ausreichende Anzahl von Probanden für eine wissenschaftliche Studie zu rekrutieren, hat sich dieser Vorgang durch die Nutzung von sozialen Netzwerken auf Tage bis Wochen reduziert. Und denken wir nur an den Austausch von Informationen per Telemedizin über Fachrichtungen hinweg für eine schnelle Diagnose und Therapie. Sie ist gerade auf dem Land nicht mehr wegzudenken.

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Dass die Delegierten des Ärztetages fordern, digitalisierte Versorgungsangebote in die Regelversorgung zu überführen, ist nur nachvollziehbar. Die Patienten werden es den Ärzten und Zahnärzten danken, die sich unvoreingenommen auf Neues einstellen. Wenn ein Selbstverwaltungsgremium wie die KV Baden-Württemberg diesen Weg geht, beweist das zusätzliche Schlagkraft. Seit Februar sind die Weichen für die VideoSprechstunde gelegt. Im Herbst soll dort das Projekt „Medcall 2.0“ starten: Patienten erhalten über die KV die Möglichkeit, telefonisch, online oder per Video Kontakt mit einem Arzt aufzunehmen. Ulrich Clever, Präsident der dortigen Landesärztekammer, konnte auf dem Ärztetag darüber berichten, dass seine Kammer sich nahezu einstimmig für eine Modellklausel in der Berufsordnung ausgesprochen hat, die eine ausschließliche Fernbehandlung ermöglicht. Der Ärztetag folgt dieser Richtung der Lockerung des Verbots der ausschließlichen Fernbehandlung mit einem ebenfalls mit überwältigender Mehrheit angenommenen Beschluss, von Montgomery als „Weichenstellung für die Zukunft“ bezeichnet.

Digitalisierung „geht nicht weg“

Und auch bei den Zahnärzten wird verstärkt die Sprechstunde per Chat angeboten – beispielsweise nach einer Implantation oder für eine Zweitzahnarzt-Beratung.

Medizin im digitalen Zeitalter bedeutet fundamentale Veränderungen in Bezug auf Patienten, Ärzte und medizinische Praxis. Neue Kompetenzprofile der Ärzte sind gefordert. Die Veränderungen sind nicht zu verhindern, Digitalisierung „geht nicht weg“. Die Ärzteschaft tut gut daran, diese Fortschritte auch mitzugestalten.

Prof. Dr. Andreas Lehr LetV Verlag Berlin, Universität Köln

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