Editorial

Ein Eisberg namens TSVG

Uwe Axel Richter

Heutige Gesetzgebungsverfahren haben es an sich, dass deren einfache Bezeichnung in krassem Gegensatz zu ihrer inhaltlichen Komplexität steht. Das gilt auch für das TSVG: Fast jeder im Gesundheitswesen Tätige kennt den Namen, aber nur wenige haben realisiert, was in dieser Wundertüte so alles drinsteckt. Klar, jeder der Protagonisten schaut üblicherweise nur auf den eigenen Bereich und versucht, das Optimum für die eigene Klientel zu realisieren. Aber trägt die Hoffnung wirklich, dass es da einen gibt, der das große Ganze im Blick hat und die vielen Einzelmaßnahmen sinnhaft zu dem führt, was auf der Webseite des BMG zum TSVG angekündigt wird? „Schnellere Termine, mehr Sprechstunden, bessere Angebote für gesetzlich Versicherte.“ 

Zweifel sind da durchaus erlaubt, denn das Gesetzgebungsverfahren führt ob seines mittlerweile erreichten Komplexitätsgrades und der dadurch ausgelösten Art und Weise seiner Administrierung zu ganz anderen Fragestellungen. Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbands, darf man durchaus als Durchblicker bezeichnen. Er beschrieb die Situation kürzlich so: „Es existiert doch keiner mehr, der genau weiß, was etwa noch drin und was noch draußen ist im Terminservice- und Versorgungsgesetz. Ich war ja acht Jahre lang Leiter der zuständigen Abteilung im Ministerium. Dass man den einen oder anderen Trick anwendet, um das Gewünschte ins Bundesgesetzblatt zu bekommen, hat es in dieser Zeit auch gegeben. Aber das man so gezielt mit Änderungsanträgen umgeht, die wieder zurücknimmt, wieder reinbringt, zum Teil sogar in ein ganz anderes Gesetz – das ist schon eine Dehnung des Rechtsstaates.“ 

Eine Dehnung des Rechtsstaates! Ich möchte nicht so weit gehen, dass der Minister und sein Stab nicht wüssten, was sie täten. Aber damit andere folgen können, zum Beispiel die Parlamentarier, die den Regierungsentwurf erst zu einem Gesetz werden lassen, wäre dringlich Komplexitätsreduktion angesagt. Und eben nicht nur Fraktionszwang … Es empfiehlt sich daher wirklich, wenigstens kurz auf den Gesetzesentwurf zu schauen. Für einen Eindruck reichen ein paar wenige der 191 Seiten aus dem Erstentwurf, zu finden unter www.bundesgesundheitsministerium.de/terminservice-und-versorgungsgesetz.html

Nach dieser kurzen Lektüre könnte man statt TSVG auch die Überschrift wählen: Die Komplexitätsfalle am Beispiel der Gesetzgebung für das TSVG im Gesundheitswesen. Nun zeichnet sich Selbiges seit Jahren, um nicht zu sagen seit Jahrzehnten, durch stetig steigende Regelungsdichte bei gefühlter steter Abnahme des gesunden Menschenverstands aus. An dieser Stelle deshalb ein kurzer Blick auf die Definition von Komplexität, entnommen dem Gabler Wirtschaftslexikon: „Komplexität ist durch Anzahl und Art der Elemente und deren Beziehungen untereinander bestimmbar. Komplexe Prozesse weisen eine Eigendynamik auf und sind meist irreversibel, sodass Handlungen nicht rückgängig gemacht werden können. Wichtigstes Merkmal komplexer Situationen ist die Intransparenz für den Entscheider: Er hat keine Möglichkeit, das Netzwerk zirkulärer Kausalität intuitiv zu erfassen, keine Möglichkeit exakter Modellierung und exakter Prognosen, er muss mit Überraschungen und Nebenwirkungen rechnen. Der Umgang mit komplexen Systemen erfordert ein hohes Maß an Wissen über die kausalen Zusammenhänge der Systemelemente (Art der Vernetzung) und die Fähigkeit, Komplexität auf wenige Merkmale und Muster zu reduzieren (Komplexitätsreduktion).“

Ob letzteres dem Minister gelingen wird? Oder hilft dann nur noch zunehmender Druck auf die verschiedenen Akteure, seien es GBA, die Selbstverwaltungen oder die handstreichartige Übernahme der gematik, wenn die bisherigen Gesellschafter nicht im Sinne des Ministers spuren? Oder müssen gar Ersatzvornahmen her? 

Auch wenn diese Aufzählung nicht einmal vollständig ist, sei daher die Frage erlaubt: Was wird passieren, wenn bei dieser Form der Politikgestaltung der Hauptakteur nicht mehr im Gesundheitsministerium weilt? Im Industrieanzeiger fand ich einen Artikel, der diesen Teufelskreis so beschreibt: „Gerade traditionsreiche Technologieunternehmen sterben häufig schlicht und einfach an Überkomplexität. Das Problem: Die Märkte haben sich verändert – die Unternehmen aber nicht ... Klassische Technologieunternehmen sind meist durch ausgeprägte Heldenkulturen gekennzeichnet ...“. Letzterer Satz sollte zu denken geben, bezieht er sich nicht nur auf den Aufstieg – sondern eben auch auf den Absturz. 

Dr. Uwe Axel Richter
Chefredakteur

Dr. Uwe Axel Richter

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