Markantes Kinn, hervorstehende Unterlippe, herabhängende Nase

Habsburger Kiefer beruht auf Inzucht

Auf Basis 66 gemalter Historienporträts von Adligen haben Forscher zusammen mit internationalen MKG-Chirurgen die Gesichtsdeformitäten der Habsburger Dynastie analysiert: Schuld am Defekt war Inzucht, kein dominantes Gen.

Das Haus Habsburg war ab dem späten Mittelalter fast 500 Jahre lang eine der mächtigsten Herrscherdynastien Europas. Markantes Merkmal vieler Habsburger war ein auffallend vorstehender Unterkiefer kombiniert mit einem unterentwickelten Oberkiefer und einer herabhängenden Nase. Schon früh vermutete man, dass die Heirat unter Verwandten ein Grund dafür sein könnte. Allerdings blieb offen, warum sich diese Gesichtszüge so lange und ausgeprägt in dieser Familie halten konnten. Und damit die Frage, ob die Habsburger Lippe auf rezessive oder dominante Gene zurückgeht.

Der Habsburger Kiefer / die Habsburger Lippe

Als Habsburger Lippe bezeichnet man die stark ausgeprägte Unterlippe der Habsburger. Sie resultiert aus einer erblichen Überentwicklung des Unterkiefers (echte Progenie) und einer Zahnfehlstellung der Klasse III und bildet einen Teil des charakteristischen Habsburger Gesichts. Der Habsburger Kiefer trat sehr häufig bei den spanischen und österreichischen Monarchen der Habsburger Dynastie und ihren Ehefrauen auf.

Quelle: Wikipedia 

Internationale ForscherInnen haben nun die Gesichtsdeformitäten der berühmten Königsfamilie anhand historischer Porträts und der Zuordnung der Verwandtschaftsgrade analysiert. Das Team unter Vorsitz der spanischen Universität Santiago de Compostela (USC) fragte sich, ob eine direkte Beziehung zwischen dem deformierten Gesicht und der Verwandtschaftsbeziehung bestehen könnte – also ob Inzucht im Spiel ist. Die WissenschaftlerInnen baten zehn MKG-ChirurgInnen, insgesamt 66 Porträts von 15 Habsburgern zu analysieren. Die ZahnmedizinerInnen suchten nach insgesamt 18 Merkmalen, die die Fehlbildungen von Ober- und Unterkiefer kennzeichnen.

Inzucht oder nur ein dominantes Gen?

Schon lange ist sich die Forschung relativ sicher, dass die „Habsburger Lippe“ auf eine erbliche Veranlagung zurückgeht – ein oder mehrere Genvarianten verliehen den Habsburgern demnach die für sie typische Kombination aus schwach ausgeprägtem Oberkiefer und vorstehendem Unterkiefer. Strittig war aber, ob es sich nur um ein dominant vererbtes Familienmerkmal handelte, oder ob die Inzucht durch die vielen Verwandtenehen die Weitergabe dieser Gesichtsmerkmale förderte.Die Inzucht wäre dann der ausschlaggebende Faktor, wenn die „Habsburger Lippe“ auf rezessive Gene zurückgeht, weil sich das Merkmal nur dann entwickelt, wenn ein Kind von beiden Elternteilen die auslösende Genvariante erbt. Anders wenn das auslösende Gen dominant ist – dann reicht es, wenn der Nachwuchs diese Genvariante nur von einem Elternteil erbt. In diesem Fall kann ein Merkmal in Familien gehäuft auftreten, ohne dass es auf Inzucht zurückzuführen ist.

So wurden die Porträts ausgewählt

Die Auswahl der Bilder erfolgte nach zwei grundlegenden Kriterien:

1. Die Verfügbarkeit hochwertiger Bilder aus bedeutenden Kunstmuseen – fast 70 Prozent sind Fotografien von Gemälden, die derzeit im Prado in Madrid oder im Kunsthistorischen Museum in Wien aufbewahrt werden –, was den Zugang zu zuverlässigen Informationen über jedes der Gemälde und deren Zuordnung zu einem bestimmten Maler ermöglicht.

2. In den meisten Fällen wurde historisch bestätigt, dass der Maler die dargestellte Person persönlich gesehen hat. Anhand dieser Bilder wurde ermittelt, wie stark ausgeprägt die genannten Fehlbildungen bei den einzelnen Habsburgern waren.

Trotz des unterschiedlichen künstlerisch-bildnerischen Stils boten alle Porträts eine realistische Darstellung des menschlichen Gesichts. Für ihre Untersuchung führten die Chirurgen ein System zur Bewertung des Grads der Luxation des Unterkiefers für jedes Mitglieds der Habsburgerfamilie ein.

Die Chirurgen diagnostizierten elf charakteristische Merkmale des Unterkiefergelenks sowie sieben Hinweise auf einen Oberkieferdefekt – besonders auffällig waren dabei die extreme Unterlippe und die herabhängende Nasenspitze. Die Unterkiefer-Fehlbildung war am stärksten bei Philip IV. ausgeprägt, zwischen 1621 und 1640 Herrscher über Spanien und Portugal. Der letzte spanische Habsburger-König Karl II. – er regierte von 1665 bis 1700 – besaß eine besonders extreme Oberkiefer-Fehlbildung. Den höchsten Grad an Luxation wiesen Maximilian I., König ab 1493, seine Tochter Margarete von Österreich, sein Neffe Carlos I. von Spanien und Carlos, Urenkel Philips IV., auf.

Zusätzlich analysierten die WissenschaftlerInnen den Stammbaum der Habsburger – 6.000 Mitglieder und 20 Generationen. Sie bestimmten die Verwandtschaftsbeziehungen, um das Ausmaß der Inzucht in der Familie zu ermitteln, und verglichen das Ergebnis mit der Porträtanalyse.

Ja, es war Inzucht!

Im Ergebnis können die ForscherInnen bestätigen, dass der „Habsburger Kiefer“ die Folge von Inzucht ist. Sie konnten mit ihrer Untersuchungsmethoden zum ersten Mal den eindeutigen Zusammenhang herstellen. „Die Habsburger-Dynastie war eine der einflussreichsten in Europa, aber sie war bekannt für ihre Inzucht, die schließlich zu ihrem Untergang führte. Erstmals kann bestätigt werden, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Endogamie und dem Auftreten des Habsburger Kiefers besteht“, bekräftigt Studienleiter Román Vilas von der USC. Sein Team stellte fest, dass insbesondere jene Familienmitglieder ausgeprägte Fehlbildungen besaßen, deren Vorfahren besonders eng verwandt waren. Das untermauert die These, dass die typischen Gesichtszüge der Habsburger tatsächlich auf Inzucht zurückgehen. Besonders der hervorstehende Unterkiefer verrät demnach enge Verwandtschaftsbeziehungen, auch bei der Habsburger Nase und Unterlippe gibt es einen Zusammenhang, allerdings ist der nicht so auffällig.

Das Gen ist rezessiv

Die genetischen Grundlagen der Fehlbildungen lassen sich bisher nicht klar ermitteln. Die WissenschaftlerInnen sind sich jedoch sicher, dass die Unterkiefer-Fehlbildungen rezessiv vererbt werden. Das bedeutet, dass das Merkmal bei einem Kind nur auftritt, wenn es die genetische Anlage von beiden Elternteilen geerbt hat. Die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, wenn zwei nähere Verwandte, die oftmals beide das rezessive Merkmal tragen, ein gemeinsames Kind bekommen.

Quelle:

Román Vilas, Francisco C. Ceballos, Laila Al-Soufi et al.: Is the „Habsburg jaw“ related to inbreeding?, in Annals of Human Biology, Published online 2 December 2019.

Klinische Analyse / Methode

Die Diagnose des unterentwickelten Oberkiefers (maxillary deficiency, MD) und der mandibulären Prognathie (mandibular prognathism, MP) aus Porträts wurde anhand von elf dysmorphen Merkmalen durchgeführt [Peacock et al., 2014].

  • Die Merkmale der Oberkieferhypoplasie waren: Anteil der sichtbaren Sklera („scleral show“) (MD1), Exorbitismus (MD2), „peri-alar hollowing“ (MD3), markante Nasolabialfalten (MD4), schmale Nasenbasis (MD5), konvexer Nasenrücken (MD6), überhängende Nasenspitze (MD7), stumpfer Nasolabialwinkel (MD8), dünne Oberlippe (MD9), überzogener Unterkiefer (MD10), und gestülpte oder markante Unterlippe (MD11).

  • Die Merkmale der Unterkieferhyperplasie waren: vergrößerte thyromentale Distanz (Abstand zwischen Adamsapfel und Kinn, TMD) (MP1), straffes submentales Weichgewebe (MP2), stumpfer Gonion-Winkel (MP3), flache Labiomentalfalte (MP4), spitzer Kinnhalswinkel (MP5), vergrößerte Tiefe des unteren Gesichtsdrittels (MP6) und Weichgewebepogonion > 5 mm anterior bis Nullmeridian nach González-Ulloa (MP7).

    Die Bilder wurden von zehn MKG-Chirurgen unabhängig voneinander auf das Vorhandensein der 18 dysmorphen Merkmale untersucht. Jedes Merkmal erhielt eine Punktzahl von 1, wenn vorhanden, und 0, wenn nicht vorhanden oder unbestimmt. Die Punktzahlen wurden zu Indizes von MD und MP addiert, so dass die maximale Gesamtpunktzahl für MD 11 und 7 für MP beträgt.

    Durchschnittlich 4,4 Gemälde wurden pro Person untersucht. Jede Expertise entstand unabhängig voneinander. Die Gesamtpunktzahl für jeden König und jede Dame wurde als Durchschnitt der Ergebnisse ermittelt.

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