„Viele der Geprellten verdienen dieses Prädikat nicht“
Herr Prof. Antes, Sie haben sich dem Phänomen Raubzeitschriften – Englisch: predatory journals – wissenschaftlich gewidmet. Worum geht es dabei?
Prof Gerd Antes:
Wir erleben seit geraumer Zeit einen fundamentalen Wechsel der finanziellen Basis und des Bezahlsystems wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Forschung und Wissenschaft leben von der Kommunikation der Ergebnisse. Traditionell wurden wissenschaftliche Projekte durch einen Artikel abgeschlossen, der möglichst hochwertigen Zeitschriften zur Veröffentlichung angeboten wurde. Bei grundsätzlichem Interesse wurde das Manuskript im Peer Review Prozess – oft in mehreren Schleifen – zur Publikation gebracht. Finanziert wurde dieser Weg durch Bibliotheken, wissenschaftliche Institutionen und Einzelpersonen durch Abonnements oder Abnahme einzelner Artikel. Damitwaren finanzschwache Leser immer wieder vom Zugang ausgeschlossen.
Das war der Auslöser für eine Entwicklung unter dem Schlagwort Open Access, deren oberstes Ziel freierLesezugang für alle war. Erreicht wurde das durch dieVerlagerung der Bezahlung auf die Autoren, so dass dieVeröffentlichungen frei angeboten werden konnten. Während seriöse Anbieter den Begutachtungsprozess auf gleichwertigem Niveau aufrechterhielten, drängten neue Anbieter, sogenannte Raubzeitschriften oder auch -verlage, auf den Markt, die ausnutzten, dass mit Bezahlung durch Autoren die Veröffentlichung gekauft werden kann. Angebote mit Niedrigstpreisen für Veröffentlichungen sind täglich in der E-Mail-Box von Wissenschaftlern zu finden und belegeneinen beispiellosen Verfall von Qualität und Aufgabeetablierter wissenschaftlicher Prinzipien.
Seit wann sind Raubzeitschriften ein ernst zu nehmendes Problem?
Ein präziser Zeitpunkt ist schwer zu benennen. Klar ist: Die Aufdeckung der Praxis von Raubzeitschriften ist untrennbar mit dem Namen Jeffrey Beall verbunden. Der US-amerikanische Bibliothekar veröffentlichte 2010 zum ersten Mal eine Übersicht über Raubzeitschriften („predatory journals“) und prägte damit auch den heute gebräuchlichen Begriff. Diese Übersicht spielte als „Bealls Liste“ in den folgenden Jahren eine entscheidende Rolle.
Im Zusammenhang mit der Open Access Bewegung kann man bis zu Beginn der 1990er Jahre zurückgehen, um dort die Ursprünge der positiven Motivation zu finden, Forschung und Wissenschaft mit ihren Ergebnissen frei zugänglich zu machen. Der gesamte Prozess bis hin zu den gegenwärtigen massiven Verformungen erstreckt sich also tatsächlich bereits über dreißig Jahre.
Welchen Stellenwert haben Raubzeitschriften für die Disziplin Zahnmedizin?
Die Disziplin Zahnmedizin ist genau wie die Fächer der Humanmedizin betroffen von den täglichen E-Mails, mit denen der gesamte medizinische Bereich überschwemmt wird – das heißt, auch Zahnmediziner können verleitet werden, in diesen zweifelhaften Journalen zu publizieren. Schlimmer noch, auch die Zahnmedizin kann sich durch Artikel fehlinformieren lassen, weil z. B. für die Formulierung von Leitlinien Studien aus Raubzeitschriften herangezogen werden, ohne dass die Quelle als Raubzeitschrift erkannt wird. Alle negativen Effekte, mit denen der wissenschaftliche Publikationsprozess durch Raubzeitschriften überzogen wird, trifft die Zahnmedizin gleichermaßen.
Sie haben mehr als einen Monat lang die E-Mail-Eingänge in Ihrem Universitätspostfach dokumentiert. Wie war das Ergebnis?
Das Bild ist absolut typisch und heute den meisten wissenschaftlich tätigen (Zahn-)Ärzten bekannt. Pro Tag trafen ungefähr drei solcher Einladungs-E-Mails ein. Von einigen Zeitschriften kamen die Anfragen nur einmal, andere hakten nach. Nur knapp 30 Prozent der Anfragen kamen von Zeitschriften mit zahnmedizinischem Bezug, was zeigt, wie oberflächlich und unsystematisch die Ziele dieser Anfragen identifiziert werden.
Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes Artikel zu Raubzeitschriften erschien in der Reihe EbM-Splitter der Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift (DZZ). Alle Beiträge dieser von Antes gemeinsam mit Prof. Jens Türp (Basel) eingeführten Reihe sind kostenfrei als PDF auf der Webseite der DZZ verfügbar.
Dieser Link führt direkt zum Artikel „Greetings for the day!“Unsolicited e-mails from questionable journals.
Gab es unter den E-Mails auch seriöse Verlagsangebote?
Das hängt entscheidend davon ab, wie ich „seriös“ definiere. Ich neige zu der harten Sichtweise, dass solche Lockangebote per definitionem unseriös sind und insofern keine seriösen Angebote dabei sein können. Die zunehmende Grauzone macht es jedoch immer schwieriger, hier klare Grenzen zu ziehen. Insofern sind sicherlich Angebote dabei, die von Wissenschaftlern mit großzügiger Sicht auf dieQualität des Publikationsprozesses als seriös eingestuftwerden können.
Etwas, das scheinbar regelmäßig passiert.
Das Problem ist tatsächlich groß. Der Wissenschaftsbetrieb kann auf zwei Wegen massiv getroffen werden. Einmal, indem Wissenschaftler sich verleiten lassen, in solchen Zeitschriften zu publizieren. Zum anderen können Artikel in diesen Zeitschriften missbraucht werden, um speziell in der Medizin Botschaften in die Medien oder auch direkt an Patienten zu bringen, die gesundheits- oder sogar lebensgefährdend sind. So hat sich u. a. in einer großen Aufdeckungsaktion gezeigt, dass eine Heilpraktikerin sich in Artikeln in solchen Zeitschriften als Entwicklerin von Krebsarzneimitteln darstellte und ihre eigenen Produkte über alle Maßen positiv darstellte. Das Problem dabei ist, dass die Webseiten von Raubzeitschriften großenteils optisch beeindruckend professionell gestaltet sind. Damit wird es selbst für Fachleute schwierig und zeitaufwendig, diese Zeitschriften sicher als unseriös zu identifizieren. Für Patienten und Laien ist das fast unmöglich. Dort falsch informiert zuwerden, ist also nur sehr schwer zu vermeiden.
Aber seriöse Wissenschaftler fallen auf solche Betrüger doch nicht rein, oder?
Ob seriöse Wissenschaftler darauf hereinfallen? Offensichtlich ja, wie eine große Untersuchung des Medienverbunds von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung im Juli 2018 zeigte. Darin wurde 5 000 deutsche Wissenschaftler identifiziert, die in Raubzeitschriften publiziert hatten. Unter ihnen sehr hochrangige Vertreter von Universitäten oder Großforschungseinrichtungen. Ihnen blieb nur die peinliche Entscheidung, sich entweder als Getäuschten darzustellen oder aber nach Entschuldigungen zu suchen, warum man dort gegen besseres Wissen publiziert hatte.
Für die unseriösen Verlage ist das sicher ein gutes Geschäft.
Natürlich, weil sie den für hochwertige Publikationen beträchtlichen Aufwand praktisch auf Null zurückfahren und dadurch mit minimalen personellen Aufwand kaum Ausgaben für die Produktion haben. Es wäre interessant, fürsolche Zeitschriften eine ökonomische Analyse und den ausgewiesenen Profit zu sehen.
Gibt es belastbare Erfahrungsberichte von geprellten Wissenschaftlern?
Ja, in Druckprodukten und in Filmen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ist das dokumentiert. Wobei gar nicht oft genug betont werden kann, dass viele der Geprellten dieses Prädikat nicht verdienen, da bei diesen Zeitschriften so viele Dinge offensichtlich nicht stimmen, dass man sieeigentlich nicht übersehen kann.
Die Fragen stellte Marius Gießmann.