Aus der Wissenschaft

Eignet sich das orale Mikrobiom zur Kariesrisikobewertung?

Elmar Hellwig
Die Frage, ob sich anhand vorhandener einzelner Keime ein Kariesrisiko ablesen lässt, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Neue Studien konnten zeigen, dass das Mikrobiom bereits Jahre vor der klinischen Manifestation von Karies dysbiotisch verändert war. Aber anders als bisher angenommen spielen azidurische und azidogene Keime dabei nicht die Hauptrolle.

Die Weltgesundheitsorganisation berichtet, dass rund 530 Millionen Kinder an frühkindlicher Karies (Early Childhood Caries, ECC) leiden. ECC liegt vor, wenn eine oder mehrere zerstörte, fehlende oder gefüllte Milchzahnflächen bei Kindern unter sechs Jahren vorhanden sind. Diese Kinder haben nachweislich auch ein erhöhtes Risiko für die Entstehung neuer Kariesläsionen beziehungsweise Zahnverlust im Laufe ihres Lebens.

Für die Bestimmung eines erhöhten Kariesrisikos hat man bisher nicht nur die Anzahl bereits vorhandener Kariesläsionen und Faktoren wie Ernährungsverhalten, Mundhygieneverhalten und die Speichelfließrate, sondern auch das Vorhandensein einzelner oraler Mikroorganismen (wie Streptococcus mutans) herangezogen. Es ist bekannt, dass das orale Mikrobiom mit der Entstehung unterschiedlicher oraler Erkrankungen assoziiert ist. Es könnte also als Biomarker dienen, um die Entstehung neuer Erkrankungen vorherzusagen. Insofern könnten orale Mikroorganismen auch für eine Kariesrisikobestimmung dienlich sein.

In zwei neuen Studien wurde nun untersucht, ob sich ein solcher Mechanismus im Lichte aktueller Forschung als Indikator für eine Kariesvorhersage eignet. Beide Untersuchungen sind unter Open Access-Lizenz veröffentlicht.

Material und Methode

In der Studie von Xianyin et al. wurde die Verteilung von oralen Mikroorganismen an gesunden und kariösen Stellen bei 20 Kindern mit frühkindlicher Karies (Grad 5-6 nach ICDAS II) untersucht. Als Kontrollgruppe dienten 20 kariesfreie Kinder. Die untersuchten Kinder waren drei bis sechs Jahre alt. Zu den Inklusionskriterien gehörte, dass nur Kinder mit einem reinen Milchgebiss in die Studie aufgenommen wurden. Bei der gesunden Kontrollgruppe wurden Biofilmproben aus den Zahnzwischenräumen zwischen dem ersten und zweiten Milchmolaren entnommen. Bei den Kindern mit Karies wurde der Biofilm an einer gesunden Fläche zwischen dem ersten und zweiten Milchmolaren beziehungsweise an einer kariösen Fläche (Kavität) mit einem Exkavator entnommen. Die Biofilmproben wurden hinsichtlich ihrer bakteriellen Zusammensetzung und bezüglich ihrer Diversität mit molekularbiologischen Methoden untersucht. Neben der reinen Beschreibung der Bakterienverteilung wurde zusätzlich die funktionelle Zusammensetzung des Biofilms mitbestimmt.

Ergebnisse

Es zeigten sich signifikante Unterschiede in der Zusammensetzung der Biofilmproben zwischen Kindern mit und ohne Karies. Trotz der Berücksichtigung biofilmspezifischer Eigenschaften ging es in der Studie von Xianyin et al. letztlich darum, Bakterien des Biofilms als Biomarker zu klassifizieren, mit denen man eine Karies vorhersagen kann. Dabei zeigte sich, dass man unter Berücksichtigung von zehn Bakterienarten eine Vorhersagegenauigkeit von 90 Prozent erreichen kann.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden von einer anderen klinischen Studie bestätigt, in der Kahharova et al. nach Assoziationen zwischen unterschiedlichen Kariesrisikofaktoren (zum Beispiel Ernährung, Gesundheitsverhalten) und dem Speichel-  beziehungsweise Zahnoberflächenmikrobiom suchten. Dazu wurden 266 Kinder zu vier Zeitpunkten klinisch untersucht: im Alter von einem Jahr, 2,5, vier und 6,5 Jahren (189 Kinder). Bei den ersten drei Untersuchungen wurden Biofilmproben aus dem Speichel und von den Zahnoberflächen gewonnen und analysiert.

Die Forscher fanden heraus, dass sich das Mikrobiom auf der Zahnoberfläche ein bis zu drei Jahre vor dem klinischen Auftreten von Karies bei Kindern bereits in einem dysbiotischen Status befindet, das insbesondere durch proteolytische Bakterienstämme (Prevotella, Leptotrichia) charakterisiert ist. Diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zu der bisherigen Behauptung, dass der Biofilm bei kariesaktiven Kindern durch azidurische und azidogene Keime gekennzeichnet ist. Möglicherweise befindet sich der mikrobielle Biofilm erst im azidurischen Zustand, wenn er sich auf bereits vorhandenen, initialen Kariesläsionen etabliert hat. 

Zu allen Untersuchungszeitpunkten ließ sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Kariesstatus der Kinder und dem Konsum von zuckerhaltigen Getränken der Kinder selbst beziehungsweise der Betreuungspersonen nachweisen.

Schlussfolgerungen

Mit modernen Analysemethoden lassen sich bereits vor der klinischen Manifestation einer Karies dysbiotische Veränderungen im dentalen Biofilm erkennen. Das könnte ein neuer Ansatz für die Entwicklung moderner Kariesrisikotests sein.

Originalpublikationen:
Xianyin et al.: Oral microbiome characteristics in children with and without early childhood caries; J Clin Pediatr Dent 47: 58-67 (2023), Open Access: www.jocpd.com/articles/10.22514/jocpd.2023.012.

Kahharova et al.: Microbial Indicators of Dental Health, Dysbiosis, and Early Childhood Caries; J Dent Res 102: 759-766 (2023), Open Access: journals.sagepub.com/doi/epub/10.1177/00220345231160756.

Prof. Dr. Elmar Hellwig

Universitätsklinikum Freiburg, Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie
Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg

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