Arzt-Kontaktzeiten im europäischen Vergleich

Deutsche Arztbesuche sind kurz, aber häufig

In Deutschland dauert ein Arztbesuch im Durchschnitt weniger als 15 Minuten. Die Patienten gehen dafür oft zum Arzt. In Schweden sind es dagegen mehr als 25 Minuten, dafür sind die Konsultationen seltener. Warum es in Europa so große Unterschiede gibt, hat das Leibniz-Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) untersucht.

So sind in Deutschland (7,6 Minuten; 80 Prozent der Besuche unter 15 Minuten) und Großbritannien (8,9 Minuten; 86 Prozent der Besuche unter 15 Minuten) die Arztbesuche sehr kurz. In der Schweiz und in Frankreich liegen die Kontaktzeiten im Mittelfeld – hier verbringen die Ärzte im Schnitt einige Minuten mehr mit ihren Patienten. Die skandinavischen Länder weisen die längsten Kontaktzeiten auf. Die Länge des Arztbesuchs sagt aber noch nichts über die Qualität und die Effektivität der Gesundheitsversorgung in einem Land aus, stellen die Autorinnen und Autoren klar.

Ein Faktor, der laut Studie stark mit der durchschnittlichen Kontaktzeit zusammenhängt, ist die Art, wie ärztliche Leistungen vergütet werden. Dabei setzen die meisten Länder auf einen Mix der Vergütungsformen, allerdings mit sehr unterschiedlichen Gewichtungen.

Separate Abrechnungen der Leistungen = längere Kontakte

So hat Dänemark ein System, in dem das Arzteinkommen zu circa 30 Prozent aus Kopfpauschalen und zu 70 Prozent aus Fee-for-Service-Einnahmen besteht. Auch Österreich und Frankreich haben sehr hohe Anteile durch Fee-for-Service-Einnahmen. In den baltischen Ländern, in Deutschland oder auch in Italien gibt es dagegen einen sehr hohen Anteil von Kopfpauschalen. In einigen wenigen Ländern wie Finnland und Spanien erhalten Ärzte im öffentlichen Gesundheitssystem auch Festgehälter. In Deutschland sind auch P4P-Elemente, beispielsweise durch Selektivverträge, möglich.

Das Fazit der Wissenschaftler: Länder, in denen jede Leistung einzeln abgerechnet wird, haben im Schnitt die längsten, und Länder mit leistungsunabhängiger Vergütung die kürzesten Kontakte. Kürzere Kontaktzeiten mit dem Hausarzt wurden neben Deutschland auch in den Niederlanden oder im Vereinigten Königreich festgestellt. Längere Kontaktzeiten gibt es in Frankreich, in Belgien oder in der Schweiz. In den nordischen Ländern sind die Kontaktzeiten am längsten.

Die Studie unterscheidet drei Vergütungssysteme in Europa

  • Input-orientierte Vergütungsformen: Sie konzentrieren sich auf die eingebrachte Arbeitszeit und die Qualifikation der Gesundheitsdienstleister. Ein Beispiel dafür sind Fixgehälter, bei denen Ärzte ein festes Gehalt erhalten, unabhängig von der Anzahl oder der Art der erbrachten Leistungen. Sie bieten finanzielle Sicherheit, können jedoch möglicherweise Anreize zur Über- oder Unterversorgung schaffen, heißt es in der Studie.

  • Output-orientierte Vergütungsformen: Sie basieren auf den erbrachten Leistungen der Gesundheitsdienstleister und lassen sich wiederum in drei Kategorien unterteilen:

    a) Kopfpauschalen: Hier erhält die Ärztin oder der Arzt eine festgelegte Pauschale pro Patient, unabhängig von den erbrachten Leistungen. Diese Pauschalen können Impulse für eine effiziente Versorgung setzen, bergen jedoch das Risiko der Unterversorgung einzelner Patienten. Für Ärzte besteht den Autoren zufolge das Interesse, Kontakte mit den Patienten so kurz wie möglich zu halten. Das bedeute nicht zwangsläufig, dass die Qualität der Versorgung beeinträchtigt wird, könnte aber dazu führen, dass weniger Zeit für ausführliche Gespräche und Untersuchungen zur Verfügung steht.

    b) Bundling-Modell: Anstatt jede einzelne Leistung separat abzurechnen, erhalten die Ärzte eine pauschale Vergütung für einen definierten Leistungsumfang. Bundling kann die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachrichtungen fördern und die Qualität der Versorgung verbessern, führt das Autorenteam an.

    c) Fee-for-Service (FFS): Jede Leistung wird separat abgerechnet und mit einem Betrag vergütet. FFS kann laut Studie zu einer angemessenen Erbringung, aber auch zu einer übermäßigen Inanspruchnahme von Leistungen führen. Beim FFS entsteht (wie beim Bundling-Modell) der Anreiz, möglichst viele Leistungen in einer Sitzung anzubieten oder zusätzliche Untersuchungen durchzuführen, um höhere Einnahmen zu erzielen. Dies könnte zu längeren Arztbesuchen führen, bei denen auch medizinisch unnötige Untersuchungen durchgeführt werden.

  • Outcome-orientierte Vergütungsformen: „Pay for Performance“ (P4P): Ärzte erhalten zusätzliche Zahlungen, wenn sie vordefinierte Ziele erreichen. Outcome-orientierte Vergütungsmodelle sollen die Qualität der Versorgung steigern. Unter dem P4P-Modell werden Ärzte nach der Qualität und Effizienz ihrer Versorgung bewertet und entsprechend vergütet. Hier besteht der Anreiz, dass Ärzte sich mehr Zeit nehmen, um die Behandlungsergebnisse zu verbessern und dadurch höhere Boni zu erzielen.

Aber auch die Arbeitszeitbelastung eines Arztes beeinflusst die Zeit, die er mit der Beratung eines Patienten verbringt. Anhand der Literaturrecherchen erkennen die Autoren somit einen Zusammenhang zwischen der Arbeitserfahrung des Arztes und der Dauer der Konsultation. Erfahrene Ärzte führen demnach seltener längere Konsultationen durch. Auch das Geschlecht der Behandelnden spielt eine Rolle.

Erfahrene Mediziner halten das Gespräch kürzer

So kommen die meisten Literaturstudien zu dem Ergebnis, dass Ärztinnen mehr Zeit für ihre Patienten aufbringen als ihre männlichen Kollegen. Weiterhin wurde aus der Recherche deutlich, dass Ärzte einen großen Teil der Konsultationszeit am Computer verbringen, was möglicherweise die persönliche Zeit mit dem Patienten reduziert. Festgestellt wurde auch, dass Frauen tendenziell längere Konsultationen haben als Männer.

Die Arztbesuche dauern übrigens umso länger, je älter der Patient ist. Wer einen hohen sozioökonomischen Status hat, verbringt im Durchschnitt ebenfalls mehr Zeit beim Arzt, ebenso Patienten, die Dolmetscherdienste benötigen. Auch mit zunehmender Komplexität der Erkrankungen werden die Konsultationen länger, etwa bei Patienten mit chronischen Krankheiten und Multimorbidität. Und wenn ein Patient zum ersten Mal zu seinem neuen Arzt geht, benötigt er auch mehr Zeit. Längere Arztbesuche gehen oft mit einem Rückgang der Selbsteinweisung von Patienten in eine Notaufnahme und in Krankenhäusern einher.

In Interviews erfuhren die Forscher, dass die Hausärztinnen und Hausärzten der Meinung sind, dass die Digitalisierung dazu beitragen könne, administrative Prozesse in der Praxis zu beschleunigen. Dazu gehören Zeitgewinne bei Überweisungen zu Spezialisten, beim Ausstellen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder bei der Bewilligung von Medikamenten. Auch der schnelle Zugriff zu Patientendaten, Laborergebnissen und der elektronischen Patientenakte sei von Vorteil.

Fazit: Die ärztliche Kontaktzeit bleibt ein knappes Gut

Im Ergebnis unterstreichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass es weder in der gesundheitspolitischen noch in der wissenschaftlichen Diskussion Einigkeit darüber gebe, welche Kontaktzeit die beste ist. Dazu sei weiterer Forschungsbedarf notwendig.

Was die Diskussion in Deutschland über die ambulante Versorgung betrifft, müsse geklärt werden, ob die Form der Leistungserbringung gesellschaftlich gewünscht und wirtschaftlich nachhaltig sei. Eine alternde Bevölkerung, steigende Sozialversicherungsbeiträge, ein zunehmender Ärztemangel, eine voranschreitende Ambulantisierung medizinischer Leistungen und die vermehrten Möglichkeiten, Versorgung auch digital zu erbringen, würden weitere Reformen in der hausärztlichen Versorgung notwendig machen. Dabei werde die ärztliche Kontaktzeit nach wie vor ein knappes Gut bleiben.

„Ich würde mir wünschen, dass wir zuerst definieren, welche Art der Versorgung wir haben möchten!“

„Die aktuelle gesundheitspolitische Diskussion ist geprägt von Verteilungsfragen zwischen einzelnen Leistungserbringern. Ich würde mir wünschen, dass wir einen Schritt zurückgehen und zuerst definieren, welche Art der Versorgung wir haben möchten. Dann kann die Frage beantwortet werden, wie das Design der Vergütungsstrukturen aussehen muss, um die gesellschaftlich gewünschte und wirtschaftlich nachhaltige Versorgung zu erreichen.

Am Beispiel der Hausärztlichen Versorgung haben wir im Europäischen Vergleich gezeigt, dass es einen fast linearen Zusammenhang zwischen Kontakthäufigkeit und Kontaktzeit in den Praxen gibt. Deutschland nimmt hier mit sehr kurzen, aber häufigen Hausarztbesuchen eine Sonderstellung ein. Aus gesellschaftlicher Sicht sollten wir also hier die Frage beantworten, ob diese Sonderstellung gewünscht ist. Empirische Studien können helfen, die beste Art der Leistungserbringung zu identifizieren. Allerdings fehlt es hierzu insbesondere in Deutschland an Daten und entsprechen auch an fundierten Studien.“

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Prof. Dr. Simon Reif leitet die Forschungsgruppe „Gesundheitsmärkte und Gesundheitspolitik“ am ZEW in Mannheim und ist Co-Autor der Studie.

Für die Studie haben die Wissenschaftler neben einer systematischen Literaturanalyse deskriptive Daten aus verschiedenen europäischen Ländern verglichen und qualitative Interviews mit Ärztinnen und Ärzten geführt.

Die Studie:
Prof. Dr. Simon Reif, Sabrina Schubert, M.Sc., Jan Köhler, M.Sc.: Behandlungsgespräche in der Arztpraxis – Ein Europäischer Vergleich, für die Strube Stiftung gGmbH, ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH Mannheim, Mannheim, 18. Oktober 2023.

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