Ausstellung im Wilhelm-Fabry-Museum in Hilden

20.000 Kilometer unter dem Roten Kreuz

Heftarchiv Gesellschaft
Kay Lutze
Mensch sein in Zeiten des Krieges: Wir gehen 120 Jahre zurück in der Geschichte und treffen auf ein mutiges Ehepaar aus Deutschland, das sich im Russisch-Japanischen Krieg von 1904–1905 und im 1914–1918 wütenden Ersten Weltkrieg mit einem Lazarettzug um die Opfer kümmerte: Elisabeth und Walter von Oettingen.

Er war Chirurg, sie OP-Schwester. Das Ehepaar Dr. Walter und Elisabeth von Oettingen fuhr mit Lazarettzügen des Roten Kreuzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Kriegsfronten und dokumentierte mit der Kamera seine Reisen in einem Hospital auf Schienen. „So entstanden, zuerst vor der Kulisse des heute fast völlig vergessenen Russisch-Japanischen Krieges 1904/05, ungewöhnliche Fotos, die neben der medizinischen Arbeit, die Landschaft und die Menschen in einem fernen und fremden Land zeigen“, schreibt das Wilhelm-Fabry-Museum in Hilden, das die Geschichte der Reisen jetzt anhand der Original-Glasplattennegative in einer Ausstellung zeigt.

Bereits 1905 veröffentlichte Elisabeth ihre abenteuerlichen Erlebnisse in dem Buch „Unter dem Roten Kreuz im Russisch-Japanischen Kriege“. In der Folge zeigten Elisabeth und Walter von Oettingen ihre Fotoplatten von dem Kriegsgeschehen an der Front auch in zahlreichen Lichtbildvorträgen, um Spenden für das Rote Kreuz zu sammeln. Dass die 645 Negative der Nachwelt erhalten geblieben sind, ist dem Engagement des Düsseldorfer Medizinhistorikers Prof. Dr. med. Hans Schadewaldt (1923–2009) zu verdanken.

Der Russisch-Japanische Krieg

Die Ursache des Krieges im Fernen Osten war der Streit zwischen Russland und Japan um die mandschurische Halbinsel Liaotung mit dem Stützpunkt Port Arthur innerhalb des chinesischen Kaiserreichs.

Der Osteuropahistoriker Günther Stökl fasste die Ereignisse so zusammen:

„Anfang 1904 riß den Japanern die Geduld. Sie hatten sich inzwischen auf einen Krieg vorbereitet und wußten sich durch das 1902 zustandegekommene Bündnis mit England abgedeckt. Nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen erfolgte in der Nacht vom 8./9. Februar 1904 ein Angriff auf die russischen Kriegsschiffe in Port Arthur, die erste einer ununterbrochenen Reihe russischer Niederlagen zu Lande und zur See. Die russischen Landstreitkräfte in der Mandschurei erwiesen sich außerstande, Port Arthur zu entsetzen, und mußten nach der Kapitulation des Marinestützpunktes im Januar 1905 in der Schlacht bei Mukden eine schwere Niederlage hinnehmen. Als schließlich die aus der Ostsee herangeführte russische Flotte, anstatt den Japanern die Seeherrschaft streitig zu machen, am 27. Mai 1905 in der Tsuschimastraße von der viel moderneren japanischen Flotte unter Admiral Togo vollständig aufgerieben wurde, mußte Rußland, dem der kleine Krieg inzwischen seine erste Revolution gebracht hatte, die Friedensvermittlung des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt annehmen“ [Stökl, 1997].

Die Fotos wurden weitgehend von Walter von Oettingen aufgenommen, der mit einer Goerz-Anschütz-Kamera arbeitete, die bis zu 460 Goldmark kosten konnte – das Fünffache eines damaligen monatlichen Durchschnittslohns. Die „Ango“ galt als erster Pressefotoapparat. Die Abzüge bestechen auch nach über hundert Jahren durch die detailgenaue Wiedergabe und Qualität. Neben den Kriegsschauplätzen, den medizinischen Einrichtungen, Land und Leuten werden auch private Fotografien der Familie gezeigt.

Dass die von Oettingens den Fernen Osten des Russischen Reiches überhaupt mit dem Zug erreichen konnten, verdankten sie dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn, die auf Veranlassung von Zar Alexander III. (1845–1894) ab 1891 gebaut wurde. Davor mussten sich die Menschen ihren Weg mühsam über die sibirische Poststraße bahnen, die im Sommer im Schlamm versank, im Winter durch Schnee oft unpassierbar war und die der russische Schriftsteller Anton Tschechow (1860–1904) als die „hässlichste Straße auf der ganzen Welt“ bezeichnet hatte. „Pünktlich“ zu Kriegsbeginn war eine Durchquerung der Weiten Sibiriens möglich, wobei die südliche Trasse der Bahn, die Transmandschurische Eisenbahn, durch chinesisches Gebiet verlief.

Wenige Minuten später krachten die ersten Schüsse

Auf ihrer Hinreise mussten die von Oettingens aber noch mit einer Fähre den Baikalsee überqueren, da die Umfahrung nicht fertig war. Elisabeth beschreibt in ihrem Buch die Überfahrt so: „Der Dampfer fährt mit seinem Heck an den geöffneten Prahm heran und verschluckt gleich einem Moloch lange Züge von Waggons, die von der Lokomotive hineingeschoben werden. 27 bis 29 Wagen fasst der Schiffsbauch, dann schließen sich die Tore. Nun wendet sich der Dampfer, mit gewaltigem Ruck tritt der Eisbrecher in Kraft" [Elisabeth von Oettingen, 1905].

Natürlich war das Engagement für das Rote Kreuz für das medizinische Personal nicht ungefährlich: „In der zweiten Nacht der Reise wurde plötzlich unser Zug auf einer Station angehalten, weil Chinesen den Kommandanten von einem bevorstehenden Angriff von 3.000 Chunchusen [chinesisch „Rotbärte“: Räuberbanden in der Mandschurei, Anm. d. Autors] in Kenntnis gesetzt hatten; ihre Absicht war, die Bahn zu zerstören. Sofort telephonierte man nach einem Zug mit Grenzsoldaten, mehrere Schützen wurden in den einzelnen Waggons untergebracht, der Zug von beiden Seiten mit Militärwaggons gleich einer Wagenburg umstellt und alle Lichter ausgelöscht. In gewisser Spannung harrten wir in der Dunkelheit der kommenden Ereignisse und fühlten uns merklich erleichtert, als der erwartete Zug mit Verstärkung eintraf. Wenige Minuten später krachten die ersten Schüsse, alles griff zum Gewehr. Die Angreifer wurden bald zurückgeschlagen“ [Elisabeth von Oettingen, 1905].

Die von Oettingens versorgten auch im Ersten und im Zweiten Balkankrieg die Opfer an der Front. Im diesem Krieg kämpften Serben, Griechen, Montenegriner und Bulgaren gegen das Osmanische Reich zur Befreiung ihrer christlichen Landsleute. Walter wurde im September 1912 Chefarzt des Serbischen Roten Kreuzes in Beograd und Skopje. Seine Frau übernahm die Ausbildung des Pflegepersonals, das aus der einheimischen Bevölkerung stammte. Mit Beginn des Zweiten Balkankrieges der sich gegen Bulgarien richtete, stand Walter als Chirurg beratend der serbischen Armee in Niš zur Seite.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, machten sich die von Oettingens erneut auf die Reise an die Fronten eines Konflikts, der zum Trauma des beginnenden 20. Jahrhunderts werden sollte. Als mobiler medizinischer Stützpunkt diente dem Ehepaar der „Vereins-Lazarettzug L. Kronprinzessin Cecilie“ (1886–1954). Die Patronage des Zuges durch die letzte preußisch-deutsche Kronprinzessin führte zur Korrespondenz zwischen den von Oettingens und Cecilie von Preußen. Ein Brief und ein Telegramm der Kronprinzessin sind in der Ausstellung zu sehen.

Walter von Oettingen (1873–1948)

... wurde im estnischen Dorpat, heute Tartu, geboren. Die Familie entstammt einem westfälischen Adelsgeschlecht. Er studierte ab 1890 Medizin in Dorpat und folgte nach seinem Abschluss seinen Eltern 1896 nach Leipzig. In Berlin machte er ein Volontariat bei dem berühmten Professor Ernst von Bergmann (1836–1907), der 1888 der behandelnde Arzt des an Kehlkopfkrebs erkrankten Kaiser Friedrich III. (1831–1888) war. Er arbeitete auch als Schiffsarzt einer Hamburger Reederei, die die Route zwischen Deutschland und Deutsch-Ostafrika bediente. 1903 begann er als von Bergmanns Assistent an der Königlichen Klinik in Berlin. Im selben Jahr heiratete der Chirurg Elisabeth Schambach (1875–1972), deren Ausbilder er während ihrer Lehre zur Operationsschwester in der Klinik war.

Die von Oettingens waren sowohl an der Westfront in Frankreich als auch an der Ostfront in der Ukraine, deren galizischer Teil damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Zum Kriegsende wurde der Lazarettzug von den Franzosen angegriffen, dabei wurde Elisabeth verletzt.

Nach dem Krieg war Walter als Mediziner in verschiedenen Funktionen in Deutschland tätig. Von 1922 bis 1934 arbeitete das Ehepaar in Brasilien. 1927 erschien Walters Buch „Die Chirurgie des Land-, Schiffs, und Kolonialarztes“. Die Rückkehr nach Deutschland erfolgte 1935. Im Zweiten Weltkrieg war er noch als Lazarettarzt aktiv.

Ihre Erlebnisse werden durch die damals entstandenen Glasplattennegative wieder lebendig und für die heutigen Seher greifbar. Es gibt auch kolorierte Glasplattennegative, die ausschließlich aus dem Russisch-Japanischen Krieg stammen.

Die Ausstellung „20.000 Kilometer unter dem Roten Kreuz“im Wilhelm-Fabry-Museum in Hilden läuft noch bis zum 15. September 2024, Benrather Str. 32a, 40721 Hilden.

Literaturliste

  • Elisabeth von Oettingen, Unter dem Roten Kreuz, Im Russisch-Japanischen Kriege, Leipzig 1905

  • Stökl, Günther: Russische Geschichte, Stuttgart 1997, S. 534/535

Kay Lutze

Historiker, M.A.

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