Gewalt und Deeskalation in der Zahnarztpraxis

Der aggressive Patient

Schwierige Patienten kennt jede Praxis. Aber wie reagiert man, wenn das Verhalten das „erträgliche Maß“ übersteigt? Und Patienten ausflippen und verbal und physisch auf Zahnärztinnen und Zahnärzte losgehen?

Im Oktober 2023 ereignete sich einer der bislang schwerwiegendsten Fälle im Zusammenhang mit Gewalt in einer Zahnarztpraxis: Ein 18-jähriger Patient hatte seinen Zahnarzt in dessen Praxis in Hamburg-Bergedorf mit einem Messer angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Eine Mitarbeiterin konnte sich gerade noch mit dem Sprung aus dem Fenster retten. So ein extremer Vorfall ist zum Glück selten. Nichtsdestotrotz passieren handfeste Attacken eben nicht nur in dunklen Ecken, sondern sind auch ein Problem in Arzt- und Zahnarztpraxen, Krankenhausstationen und Notaufnahmen.

Das BKA erfasst in seiner polizeilichen Kriminalstatistik nicht explizit Tätlichkeiten auf Zahnärzte, Ärzte und deren Personal. Auch die Zahnärztekammern führen keine Statistiken zu verbalen und handgreiflichen Angriffen auf Praxisinhaber und ihre Teams, doch beschreiben Zahnärztinnen und Zahnärzte in Rückmeldungen einen raueren Ton und einen kürzere Lunte bei Patienten. Gespräche mit und zwischen Kollegen bestätigen den Kammern zufolge zudem den Eindruck, dass Beschimpfungen, Beleidigungen und Einschüchterungen seitens Patienten in Qualität und Quantität zugenommen haben. Besonders während der Notdienste komme es zu aggressivem Verhalten und bedrohlichen Situationen. So weit, dass sich vor allem weibliche und junge Zahnärzte in diesen Schichten nicht mehr sicher fühlen und Angst haben.

In Sachsen-Anhalt haben Zahnärztekammer und KZV im vergangenen Jahr eine Umfrage zu „Angriffe(n) und Sicherheitsbedenken“ unter Zahnärztinnen und Zahnärzten durchgeführt. Sie ist nicht repräsentativ, vermittelt aber einen Eindruck vom Praxisalltag. Demnach sind knapp zwei Drittel von ihnen schon einmal verbal und 6 Prozent sogar körperlich angegriffen worden. Fast 80 Prozent gaben an, dass Patienten in ihrem Auftreten aggressiver und fordernder geworden sind. 44 Prozent haben Sicherheitsbedenken in den nächtlichen Notdiensten. Knapp ein Viertel hat Sicherheitstechnik wie Überwachungskameras installiert. Nur 3 Prozent haben deshalb bereits einen Kurs zur Deeskalation und Selbstverteidigung absolviert, knapp 4 Prozent haben ein solches Fortbildungsangebot in Planung und 58 Prozent daran Interesse.

Gehören Übergriffe mittlerweile einfach zum Praxis­alltag?

Was aber führt dazu, dass Patienten derart ausrasten? Fest steht: Die wenigsten Patienten haben gezielt im Sinn, Zahnärztinnen, Zahnärzten und ihren Mitarbeitern zu schaden. Als Erkrankte und Verletzte befinden sie sich vielmehr in einer für sie schlimmen Ausnahmesituation. Mitunter haben sie starke Schmerzen, vielleicht auch Angst, stehen unter Schock, fühlen sich hilflos und sind gestresst. In dieser angespannten Stimmung kann schon ein Wort das Fass zum Überlaufen bringen. Dabei sind psychische Erkrankte ebenso wie alkoholisierte Personen und Drogenkonsumenten oft besonders reizbar. Und nicht zu vergessen: In der Zahnarztarztpraxis kommen sich Patient und Zahnarzt am Stuhl sehr nah.

Letztendlich bringe jeder Patient seine eigene Persönlichkeitsstruktur mit, und darunter seien auch ausgeprägte Temperamente mit wenig Impulskontrolle, resümiert Dr. Martin J. Gunga, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Lippstadt. Er identifiziert sechs „problematische Patiententypen“ (siehe Kasten).

Diese sechs Typen sind besonders schwierig

  • Der Herrscher: Er tritt anmaßend und einschüchternd auf. Machen Sie von vornherein deutlich, welche Leistungen in der Praxis erbracht werden können und welche nicht.

  • Der Besserwisser: Er hat sich (zum Beispiel via Doc Google) informiert und will mitreden: Ihn sollten Sie nicht mit Hinweis auf fehlende Fachkenntnis ab-, sondern im Gegenteil durch Hinweis auf sein bereits erreichtes Know-how aufwerten.

  • Der Dauernörgler: Er kommt trotz der Unzufriedenheit über die bereits erfolgten Behandlungen immer wieder in die Praxis. Am besten begegnen Sie ihm mit ausgesuchter Freundlichkeit.

  • Der Querulant: Er kennt nur sein Recht und verbindet damit immer rigorosere Forderungen. Hier hilft nur eine klare Dokumentation und eine strenge Abgrenzung.

  • Der Patient mit psychischen Problemen: Er kommt mir einer großen Last aus privaten und beruflichen Problemen, Krisen und Schicksalsschlägen in die Praxis. Hier ist empathisches Zuhören gefragt, aber im Redestrom sollten Sie das Gespräch unbedingt immer wieder auf das aktuelle zahnärztliche Problem zurückführen.

  • Der manifest psychisch Kranke: Er erfordert je nach Erkrankung eine erhöhte Aufmerksamkeit im Spannungsfeld zwischen Zuwendung und Distanz. Bei akut wahnhaft Erkrankten sollten Sie darauf achten, ob die geschilderte Symptomatik der Erkrankung entspringt und er das Praxisteam in sein Wahnsystem aufnimmt. Zuwendung und Zuspruch sind wichtig, man darf sich aber nicht klammern lassen. Bei Persönlichkeitsstörungen aller Art ist der Abstand besonders wichtig.

Dr. med. Martin J. Gunga, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Aus Berichten von Zahnärztinnen und Zahnärzten an die Kammern geht hervor, dass bedrohliche Situationen häufig schon an der Rezeption entstehen. Generell sei die Anspruchshaltung gestiegen, die Hemmschwelle dagegen gesunken. Wegen nicht erfüllbarer Terminwünsche oder Therapiemaßnahmen komme es zu Frustration, ebenso wie bei zu hoch empfundenen Kosten oder nicht verstandenen Empfehlungen. In der Schusslinie stehe dann meist das Praxispersonal.

Der Zahnarztmangel in manchen Regionen auf dem Land – immer mehr Patienten strömen in immer weniger Praxen – führe zu Druck auf beiden Seiten, teilte eine Zahnärztekammer mit. Neupatienten müssten länger auf einen Termin warten, würden ungeduldig und hätten vielleicht auch unrealistische Erwartungen an die Behandlung. Hinzu komme eine steigende Zahl von Patienten mit Migrationshintergrund, die oft nicht vertraut sei mit dem Gesundheitssystem in Deutschland und teils überzogene Ansprüche an die Versorgung habe, schreibt eine Kammer und bittet um Anonymität. Zahnärzte trauten sich oft nicht, dieses Problem zu benennen aus Sorge, als Rassisten abgestempelt zu werden.

Besser einen ätzenden Patienten verlieren als einen verängstigten Mitarbeiter!

Rüsten Sie sich!

Mit speziellen Deeskalationstrainings können sich Zahnärztinnen und Zahnärzte für den Fall der Fälle im Umgang mit aggressiven Patienten wappnen und die eigene Resilienz stärken.

Im Mai zum Beispiel wird auf dem Thüringer ZMV-Tag ein Vortrag zu „Der fordernde Patient“ gehalten.

Im Juni veranstaltet die Hamburger Zahnärztekammer die Fortbildung „Erkennen problematischer Patienten und Verhaltensstrategien zum Eigenschutz des Praxisteams“.

Das Philipp-Pfaff-Institut in Berlin bietet Ende des Jahres einen interaktiven Workshop mit dem Titel „Aggressive Patienten – eine Herausforderung für die Praxis“ an.

Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) hat zum Beispiel diese Seminare im Angebot: „Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung kompetent meistern – Rolle und Aufgabe der Führungskraft“ oder „Arbeitsschutz für Führungskräfte – Sicherheit und Gesundheit kompetent organisieren“.

Wie reagiert man nun als Inhaberin und Inhaber auf diese Gefahr? „Tatsächlich hat sich jeder Praxischef als Arbeitgeber im Rahmen der sogenannten Fürsorgepflicht für seine Angestellten einzusetzen, ihnen Schutz und Fürsorge zukommen zu lassen“, erinnert Bernhard Kinold, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in Mönchengladbach. Daraus ergebe sich zwangsläufig auch die Verpflichtung, die Mitarbeitenden bestmöglich vor Übergriffen durch Patienten zu schützen.

In jedem Fall sei mäßigend auf den übergriffigen Patienten einzuwirken, sagt er. „Im Extremfall kommt auch ein Betretungsverbot für die Praxisräume in Betracht. Wird in einer gefährlichen Situation nicht gehandelt, besteht die Verletzung der Fürsorgepflicht. Kommt es schlimmstenfalls zu einer Verletzung von Mitarbeitenden durch Patienten, weil der Praxisinhaber sich nicht ausreichend gekümmert hat, sind auch Schadensersatzansprüche einschließlich Schmerzensgeld wegen Verletzung der Fürsorgepflicht denkbar. Im Zweifel verliert man also besser einen aggressiven Patienten als einen verängstigten Mitarbeiter!“

Erfahrungen aus der Praxis

Auch Zahnarzt Claus-Peter Beck aus Heidelberg wurde schon von Patienten bedroht, beschimpft und geschubst. Der Praxischef ist auch Beauftragter der KZV Baden-Württemberg für die Notdienstzentren in Heidelberg und Mannheim. Eins seiner Themen dort: die Sicherheit.

Wann werden Patienten am ehesten aggressiv?

Claus-Peter Beck: Spannungen werden oft spürbar, wenn Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Beispielsweise wenn Patienten bereits Dr. Google befragt haben und meinen, zu wissen was ihnen fehlt, ich in der Praxis oder im Notdienst aber anders diagnostiziere. Dann wird die Stimmung schon mal aggressiv, die Patienten beschweren sich lauthals, diskutieren, drohen mit Prügel und Vergeltung mit schlechten Bewertungen und Rezensionen.

Wurden Sie auch schon einmal tätlich angegriffen?

Ja, einmal kam es soweit. Ein Patient hat wutentbrannt die Rezeption abgeräumt und mich geschubst, als ich ihn zurechtwies. Ein anderes Mal hat der Onkel einer minderjährigen Notpatientin mit Gewalt gedroht, als ich deren erhaltungswürdigen Zahn nicht ziehen wollte. Wer den Arzt noch nicht kennt, also wenn noch keine Arzt-Patienten-Beziehung besteht, der tickt eher aus, so mein Eindruck.

Wie reagieren Sie auf solche bedrohlichen Situationen?

Ich versuche mich eher zurückzuziehen, vermeide die Konfrontation. Im Zweifel verweise ich auf mein Hausrecht und bitte zur Tür oder drücke sogar den installierten Notknopf.

Wie gehen Sie als Team mit schwierigen Patienten um?

Wir lassen uns regelmäßig schulen, um für solche bedrohlichen Situationen gewappnet zu sein. Dann kommt ein Kickbox-Trainer oder jemand von der Polizei und übt den Umgang mit uns. Außerdem sprechen wir über schwierige Situationen. Bei Bedarf bin ich immer ansprechbar. Beides würde ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen raten.

Und was ist mit Notwehr? „Das Strafgesetzbuch räumt den Geschädigten und beobachtenden Dritten die Handlungsmöglichkeit der Notwehr beziehungsweise Nothilfe ein, um gegenwärtige Angriffe gegen geschützte Rechtsgüter abwehren zu können, um schlimmere Verletzungsfolgen abzuwenden." Das bedeute, dass man tätig werden darf, um sich oder andere sowie auch Eigentumswerte zu schützen. Diese strafrechtlich gedeckte Gegenwehr sei jedoch nur erlaubt, solange der Angriff noch andauert oder unmittelbar bevorsteht.

Was aber auch heiße, dass man unverzüglich einschreiten muss, wenn sich eine gefährliche Situation anbahnt. Dann, und nur dann, sei eine Gegenwehr „geboten“. Darauf weist auch der vor zwei Jahren im Zahnärzteblatt Sachsen erschienene „Leitfaden für Notwehr in der Zahnarztpraxis“ hin.

In besonders schwerwiegenden Fällen kann die Praxis auch eine Behandlung oder deren Weiterführung ablehnen, weil das Vertrauensverhältnis zerstört ist. Der Sachverhalt sollte dann unbedingt dokumentiert werden. Allerdings bleibt die Pflicht des Zahnarztes bestehen, bei einem Notfall zu helfen. Bei Unsicherheiten können die Rechtsabteilung der Kammern beratend zur Seite stehen. Der Virchowbund fordert übrigens schon lange eine Gesetzesanpassung, wonach Ärzte in den Paragrafen, in denen es um Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geht, jenen gleichgestellt werden.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.