„Einmal helfen und wieder gehen, das konnte ich nicht!“
Herr Grivel, Sie haben 26 Jahre lang pro bono Bedürftige zahnmedizinisch versorgt. Allerdings nicht in Afrika oder in Südostasien, sondern Sie haben Leprakranke in Griechenland behandelt. Wie kam es dazu?
Dr. Julien Grivel: Als ich 1972 meine Zahnarztpraxis in Genf aufmachte, fragte mich ein Freund, der an den Dreharbeiten zu dem Film „L'ordre“ des Franzosen Jean-Daniel Pollet über Lepra in Griechenland beteiligt war, ob ich bereit wäre, nach Athen zu kommen, um einen Leprakranken zahnmedizinisch zu behandeln. Ich war überrascht, dass diese Krankheit so nahe bei uns grassierte.
Ich hörte zwei Stimmen in mir: Die eine sagte: „Mach schon, es lohnt sich.“ Die andere sagte: „Sichere deine Zukunft!“ Ich ging zur Verzweiflung meiner Eltern das Risiko ein und machte mich auf den Weg nach Athen. Ich hörte auf meine innere Stimme. Das gab mir eine große Freiheit im Denken und Handeln.
Was fanden Sie konkret in Athen vor?
Der Patient, den ich behandeln sollte, Herr Epaminondas Remoundakis, war durch die Krankheit stark stigmatisiert. Er litt an multibazillärer Lepra: Der Nasenknochen verschwindet, dazu kamen eine Atrophie des oberen Alveolarfortsatzes und des oberen Nasendorns sowie eine Gaumenperforation, die eine Mund-Antrum-Verbindung zur Folge hatte. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es für diesen Patienten war, zu essen und zu trinken.
Wie fühlten Sie sich?
Wie Sie sich vorstellen können, war ich sehr erschüttert. Aber dieser Mann hatte trotz seiner Blindheit und Verstümmelung eine solche Ausstrahlung, eine solche Vitalität in sich, dass seine innere Schönheit zum Vorschein kam. Wie edel er war! Er wurde von seiner Frau Tassia unterstützt, die ihn führte und sich mit zärtlicher Fürsorge um ihn kümmerte. Er nannte sie „meine kleine Öllampe, mein tröstender Engel“. Die Kraft und Hoffnung, die von ihm ausgingen, linderten den schmerzhaften Eindruck. Und anstatt vor Emotionen zu erstarren, sagte ich mir, dass ich da war, um ihm wieder eine Kaufunktion und damit eine Würde zu verleihen.
Wie war damals die Situation der Leprakranken in Griechenland?
Die war schwierig, übrigens für die gesamte griechische Bevölkerung. Die meisten Kranken lebten seit 1957 in der Leprastation, die im Krankenhaus für Infektionskrankheiten Aghia Barbara eingerichtet worden war. Damals wurden alle Leprakranken Griechenlands dorthin gebracht. Am Ende ihrer Behandlung erhielten sie ihre Entlassungspapiere. Sie lebten wie in einem Dorf in Hütten, die über ein großes Gelände verteilt waren. Einige hatten Gemüsegärten, Hühner und Kaninchen. Unter ihnen herrschte eine große Solidarität.
Welche Symptome hatten die Patientinnen und Patienten?
Sie hatten Verstümmelungen, körperliche Missbildungen und Blindheit. Es handelte sich vor allem um Menschen, die ein Leben lang ihrer Schönheit und ihren Träumen nachtrauerten.
Welche zahnmedizinischen Behandlungen fielen denn an?
Die Patienten litten vor allem an Atrophien des oberen Alveolarfortsatzes und an Zahnverlust aufgrund einer schwierigen Zahnhygiene bei verstümmelten Gliedmaßen, seltener an einer Mund-Antrum-Verbindung. Ich führte natürlich Extraktionen durch, machte Füllungen, Brücken und vor allem Teil- und Totalprothesen. Unterstützt wurde ich dabei von meiner Frau Christiane, die lieber an meiner Seite blieb, als am Strand zu liegen.
Waren die Behandlungen durch die Erkrankung erschwert? Falls ja, inwiefern?
Die schwierigsten Behandlungen waren die Fälle, in denen die Zähne eines Oberkiefers so weit elongiert waren, dass sie in Kontakt mit der gegenüberliegenden zahnlosen Schleimhaut kamen. Für den Patienten war dadurch das Kauen möglich, aber für mich war es unmöglich, eine Prothese auf der zahnlosen Oberfläche anzufertigen, weil es keinen Platz gab und der Patient nicht wollte, dass ich diese elongierten Zähne entfernte.
Wie waren die Einsätze in Griechenland mit Ihrer Praxis in der Schweiz vereinbar?
Ich besuchte die Klinik in Griechenland zweimal im Jahr für vierzehn Tage und hatte in Genf eine sehr geduldige Patientenschaft.
Warum blieb es nicht bei einer einmaligen Hilfe?
Das konnte ich nicht. Als ich damals die zahnmedizinischen Probleme in diesem Krankenhaus sah – es gab dort damals etwa 500 Patienten –, bat ich den griechischen Gesundheitsminister Spiros Doxiadis um die Erlaubnis, die Arbeit fortsetzen zu dürfen. Und er gab sie mir. Ich fühlte mich nützlich.
Was hat Sie besonders beeindruckt im Umgang mit den Leprapatienten?
Die Einstellung dieser Menschen zum Leben: Ich habe mich oft gefragt, wie sie die Fähigkeit hatten, ein Leben zu leben, das ein barbarisches Schicksal war, und trotzdem aufrecht zu bleiben. Ich erinnere mich an einen Patienten, der mir sagte: „Trotz meiner Blindheit habe ich nie zugelassen, dass die Dunkelheit in meine Gedanken eindringt!“ Er hat das Licht verloren – wie man auf Griechisch sagt, wenn man erblindet – aber er hat ein anderes Licht gefunden, das Licht des Lebens. Das ist es, was sie mir weitergegeben haben. Außerdem freundete ich mich mit Herrn Manolis Foundoulakis an, einem weiteren Protagonisten in Psillakis' Film, der mir half, viele Freundschaften in Griechenland zu knüpfen.
Gab es Kooperationen mit griechischen Zahnärzten vor Ort?
Natürlich gab es eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem griechischen Zahnarzt des Krankenhauses. Vor allem aber begleitete mich ein Freund und Kollege, Alain Morgantini aus dem italienischsprachigen Teil der Schweiz, etwa zehn Jahre lang in die Leprakolonie.
1998 beendeten Sie Ihr Engagement, blieben dem Land aber tief verbunden.
Ja, ich kenne das Land mittlerweile seit einem halben Jahrhundert. Meine Beziehung ist nicht nur touristisch, mythologisch, historisch, sondern auch mental. Griechenland ist für mich nicht nur ein Land mit Meer, wilden Landschaften in ungezähmter Natur, sondern es ist zu einer Dimension geworden.
Im März feierte der griechische Dokumentarfilm „Sculptured Souls“ Premiere, der Filmemacher Stavros Psillakis würdigt darin Ihren Einsatz für die Leprakranken. Wie kam es zu diesem Projekt?
Dieser Dokumentarfilm ist kein Film über Lepra. Er beleuchtet die Tatsache, dass – wenn Angst und Vorurteile verschwinden – eine unwahrscheinliche Begegnung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten durch Akzeptanz, Respekt und Liebe möglich wird. Wie die Zeitung Neakriti am 27. April schrieb, „ist dieser Film eine Ode an die Tiefe des Bewusstseins, die Macht des Gebens und die überwältigende Schönheit, die entsteht, wenn zwei Menschen sich nicht mit dem Verstand, sondern mit der Seele begegnen“.
Das Projekt entstand nach einer Veranstaltung zu meinen Ehren, bei der ich über meine Begegnung mit diesen Patienten gesprochen hatte. Der Regisseur Stavros Psillakis kam auf mich zu und sagte: „Ich bin Dokumentarfilmer und würde gerne einen Film über dich machen.“
Was bedeutet Ihnen der Film?
30 Jahre lang war diese Mission still und leise verlaufen. Und das war mir recht. Dann wollte mein Freund, Herr Foundoulakis, ein ehemaliger Leprakranker, dass meine Dissertation „Lepra in Griechenland und Kreta im 20. Jahrhundert“ (1998) ins Griechische übersetzt wird, weil er wollte, dass die Menschen wissen, was diese Kranken durchgemacht hatten, und dass die Vorurteile gegenüber dieser Krankheit verschwinden. Von da an stellte ich meine Arbeit in Griechenland und auf Kreta vor, schrieb zwei Bücher und wurde ein wenig bekannt. Ich hatte keine Erwartungen, aber dieser Film ist eine schöne Anerkennung, zumal meine Frau Christiane, die Protagonistin des Films, mich bei dieser Mission begleitete und mir bei meinen Behandlungen half. Sie wurde von allen Patienten in dieser Leprakolonie geliebt.
Das Gespräch führte Marius Gießmann.