Die Zahnheilkunde der Wikinger war erstaunlich fortschrittlich
Für ihre Studie untersuchten die Forscherinnen und Forscher die Zähne von 171 Individuen, die in der späten Wikingerzeit vom 10. bis 12. Jahrhundert in der Gemeinde Varnhem, Västergötland, Schweden, gelebt hatten. Das mittlere Alter der insgesamt 133 erfassten Erwachsenen betrug 35 Jahre, sie starben im Alter zwischen 14 und über 50 Jahren; 46 waren Frauen und 87 Männer. Die 38 Kinder ereilte der Tod im Alter von einem Jahr bis 12 Jahren.
Neben der Prävalenz, Verteilung und Lage der Karies dokumentierte das Team auch die Fälle von Zahnabnutzung, andere Zahnpathologien und anatomische Anomalien. Insgesamt wurden 3.293 Zähne mit Voll- und Teilgebiss analysiert, davon – siehe oben – 33 bleibende und 38 Milch- beziehungsweise Wechselgebisse. Zu den wichtigsten Auswahlkriterien gehörten das Vorhandensein kompletter oder fragmentierter Mandibulae und maxillae. Die Gebisse wurden klinisch mithilfe einer Zahnsonde unter starker Lichtquelle untersucht, von 18 wurden Röntgenaufnahmen gemacht, um die Befunde zu überprüfen und zu ergänzen.
Essen und Trinken bei den Wikingern
Die meisten schwedischen Wikinger, so auch die aus Varnhem, lebten in bäuerlichen Gemeinschaften. Ihre Ernährung war stark saisonabhängig und umfasste Fleisch wie Rind, Schwein und Hammel. Fisch wurde ebenso verzehrt wie Milchprodukte von den Nutztieren, Brot und Brei sowie Gemüse wie Hülsenfrüchte (graue Bohnen und Saubohnen), Kohl, Rüben und Lauch. Die Wikinger aßen auch Haselnüsse und Pilze. Fermentierbare Kohlenhydrate kamen nur aus drei natürlichen Quellen: Früchte oder Beeren, Honig und Malz. Das wichtigste Getränk war Bier, das allen Gesellschaftsschichten zur Verfügung stand, aber man trank auch Milch und Met. Obwohl in der Wikingerzeit Brunnen genutzt wurden, taugte das Wassers ohne Aufbereitung nicht zum Trinken. Die Kohlenhydrate nahm an in Form von Gerste, Weizen, Hafer, Roggen und Erbsen zu sich, die zu Brot, Brei und Suppe verarbeitet wurden. Die Grobkörnigkeit der Nahrung trug zu den Abnutzungserscheinungen an den Zähnen bei. Der hohe Verzehr stärkehaltiger Nahrungsmittel in Verbindung mit mangelnder Zahnpflege und -hygiene erklären teilweise das Auftreten von Karies in dieser Bevölkerung. Den Forschern zufolge ist es allerdings unmöglich zu sagen, ob die Wikinger zusätzliche kariogene Nahrungsmittel, die für diese Zeit und diesen Ort ungewöhnlich sind, erworben und konsumiert haben. Aufgrund der multifaktoriellen Ätiologie der Krankheit sei es jedoch wichtig, Faktoren zi Zusammenhang mit Speichel, Mikroflora, Hygiene, Genetik, Kultur und Physiologie zu berücksichtigen. Auch Umweltfaktoren wie Fluorid im Trinkwasser könnten einen Einfluss auf die Kariesprävalenz haben.
Im Ergebnis hatten 62 Prozent der Erwachsenen mindestens eine kariöse Läsion, 38 Prozent hatten keine Karies. Die Anzahl kariöser Zähne pro Person reichte von 0 bis 22. Der mittlere DMFT-Wert betrug 4,4. Insgesamt 13 Prozent der Erwachsenenzähne waren von Karies betroffen, dabei war die Wurzeloberfläche am anfälligsten dafür. Der am häufigsten von Karies befallene Zahn war der erste Unterkiefermolar. Alle Individuen mit Milch- oder Wechselgebiss waren dagegen komplett kariesfrei.
Alle Kinder und Jugendlichen waren kariesfrei
Bei den Erwachsenen war zudem Zahnverlust weitverbreitet. Die untersuchten Wikinger hatten im Laufe ihres Lebens durchschnittlich 6 Prozent ihrer Zähne verloren, Weisheitszähne ausgenommen. Das Risiko des Zahnverlusts nahm mit dem Alter zu. Insgesamt gingen 953 Zähne verloren, darunter 219 Weisheitszähne. Bei den 744 Nicht-Weiheitszähnen fielen 26 Prozent ante mortem und 74 Prozent post mortem aus.
Besondere Einzelfälle
Bei fünf Individuen wurde eine Aplasie der Zähne festgestellt. Ein Wikinger besaß zwei stiftförmige Seitenzähne und zwei hatten einen nicht durchgebrochenen Eckzahn im Oberkiefer. Bei zwei Personen schien ein Backenzahn (in beiden Fällen 46) verändert worden zu sein, um eine Öffnung zur Pulpakammer zu schaffen. Eine Person wies eine Veränderung des bukkalen Zahnschmelzes an einem Schneidezahn mit apikaler Parodontitis auf. Bei sieben Personen wurden Anzeichen einer atypischen, gewohnheitsbedingten Zahnabnutzung nachgewiesen.
Darüber hinaus wiesen 4 Prozent der Zähne klinisch nachweisbare apikale Läsionen auf. Der durchschnittliche Zahnverschleiß betrug bei den Molaren 3,0 und bei den Frontzähnen 2,8. Es gab auch einen Fall von gefeilten Frontzähnen.
Mit dem Zahnstocher gegen Approximalkaries
Das hohe Auftreten von Wurzelkaries in der untersuchten Wikingerpopulation könnte den Autoren zufolge mit einer Parodontalerkrankung zusammenhängen. Wahrscheinlich wurden außer der Reinigung mithilfe von Zahnstochern keine weiteren Mundhygienemaßnahmen durchgeführt, so dass der Biofilm über längere Zeit auf den Wurzeloberflächen verbleiben konnte.
Große kariöse Läsionen deuten für die Wissenschaftler darauf hin, dass diese untersuchten Wikinger unter heftigen Zahnschmerzen gelitten hatten, da die Karies bis in die Nähe der Pulpa vorgedrungen war. Wahrscheinlich blieben auch Speisereste in den offenen kariösen Stellen stecken, was zu Nahrungseinlagerungen und Beschwerden führte. Bei mehreren Individuen konnte allerdings ein Abrieb wie von Zahnstochern festgestellt werden, was zeigt, dass man versuchte, Speisereste aus den Zwischenzahnräumen zu entfernen.
Die Zahnheilkunde in der Wikingerzeit war ausgeklügelter als gedacht
„Es gibt mehrere Anzeichen dafür, dass die Wikinger ihre Zähne bearbeitet haben, darunter Hinweise auf die Verwendung von Zahnstochern, das Feilen der Vorderzähne und sogar die zahnärztliche Behandlung von Zähnen mit Infektionen“, bekräftigt Erstautorin Carolina Bertilsson. Ins Auge fielen den Forschern dabei vor allem Molaren mit gefeilten Löchern von der Zahnkrone bis zur Pulpa. Mit diesem Eingriff sollte offenbar der Druck verringert werden, um die starken Zahnschmerzen aufgrund der Infektion zu lindern.
„Dies sind interessante und wichtige Befunde, die darauf hindeuten, dass die Wikinger in dieser Population komplexere Eingriffe bei Zahnerkrankungen vornahmen als das bloße Ziehen von schmerzenden Zähnen“, schreiben die Autoren. Diese Zahnbehandlungen, die unseren heutigen Methoden „nicht unähnlich“ seien, deuten ihrer Ansicht darauf hin, dass die Wikinger über ein größeres Wissen über Zähne besaßen als angenommen.
Ein kleiner Teil der Population wies des Weiteren außergewöhnlich viele kariöse Läsionen auf, während die Mehrheit kariesfrei war oder eine oder nur ein paar Läsionen besaß. „Diese Polarisierung der Kariesprävalenz ist hochinteressant, da sie auch in modernen Populationen zu beobachten ist und darauf schließen lässt, dass einige Individuen eine größere Anfälligkeit für die Karieserkrankung haben“, betonen die Forscher. Die große Anzahl verlorener Zähne und die wenigen anfänglichen kariösen Läsionen geben für sie zugleich Aufschluss über das Wesen der Karieserkrankung, wenn sie unbehandelt bleibt.
Die Wisenschaftlerinnen und Wissenschaftler nennen bezüglich der Studie einschränkend die große Zahl der verlorenen Zähne in dieser Population, insbesondere der postmortale Verlust, als Fehlerquelle bei der Bewertung der Kariesprävalenz: „Da dieses Problem in der zahnmedizinischen Anthropologie aber weithin anerkannt ist, wurde in der Literatur versucht, Modelle zur Korrektur der Verzerrung durch verlorene Zähne bei der Bewertung der Kariesprävalenz in archäologischen Populationen zu entwickeln.“
Die Studie:
Bertilsson C, Vretemark M, Lund H, Lingström P (2023) Kariesprävalenz und andere zahnpathologische Erkrankungen bei Wikingern aus Varnhem, Schweden. PLoS ONE 18(12): e0295282. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0295282