Heilen durch Nichtstun

mg
Vorschläge, wie das Gesundheitssystem zu reformieren ist, gibt es zuhauf. Ein Ansatz lautet "Weniger ist mehr". Prof. Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM), erklärt, warum es von Vorteil sein könnte, künftig weniger zu intervenieren.

Was bedeutet der Ansatz "Weniger ist mehr" in der Gesundheitsversorgung konkret?

Prof. Dr. Robert Jütte:Bislang hat man das Überangebot in der Therapie eher unter Kostenaspekten diskutiert. Inzwischen werden Stimmen - auch und gerade in der Ärzteschaft - immer lauter, die nicht nur vor nutzlosen Therapien (Stichwort: Evidence Base Medicine) warnen, sondern auch auf das hohe - gar nicht so seltene tödliche - Potenzial der Nebenwirkungen von Arzneien verweisen.

Mittlerweile haben medizinische Fachgesellschaften in den USA Listen erstellt, auf denen Empfehlungen sind, bestimmte Therapien, aber auch Diagnosen bei durchaus häufig auftretenden Krankheiten zu unterlassen. Dazu gehören zum Beispiel Antibiotika bei viralen Infekten oder Röntgen und MRTS bei Rückenschmerzen im Anfangsstadium. Allerdings wird man sich dabei kaum Unterstützung von der Arzneimittelindustrie, die eigennützige Interessen hat und negative Ergebnisse klinischer Studien oft verschweigt, erhoffen können.

Wie lange wird es aus Ihrer Sicht noch dauern, bis es im deutschen Gesundheitswesen zu einem Umdenken kommt? Und was sind die größten Hemmnisse, die es zu überwinden gilt?

Auch in Deutschland gibt es seit kurzem Anzeichen für ein solches Umdenken. So hat zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF) ein Programm angekündigt, das der amerikanischen Choose Wisely-Initiative ähnelt. Für fünf Indikationen sollen demnächst Empfehlungen gegeben werden, welche Therapien unsinnig sind und mehr schaden als nutzen. Auch unsere Berliner Tagung wollte auf die Chance eines Weniger ist mehr in der Medizin hinweisen, aber gleichzeitig auch deutlich machen, das es Ärztinnen und Ärzten aufgrund ihrer langjährigen Ausbildung und ihrem Selbstverständnis als Heiler schwer fällt, abzuwarten.

Die Zahnmedizin gilt mittlerweile als Vorreiterin in Sachen Prävention. Wie bewerten Sie den aktuellen Stand für die übrigen medizinischen Disziplinen?

„Weniger ist mehr“ gilt sicherlich nicht für die Prävention, sondern für die Therapie. Es gibt medizinische Disziplinen, bei denen Vorbeugung im weitesten Sinne des Wortes eine lange Tradition hat. Dazu gehört neben der Zahnmedizin auch die Kinder- und Jugendmedizin. Das geplante Präventionsgesetz ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss, aber ein erster Ansatz in die richtige Richtung. Ohne geeignete Prävention werden wir beispielsweise die Zunahme von Diabeteserkrankungen sicherlich nicht in den Griff bekommen.

Wir brauchen neben einer evidenzbasierten Medizin auch eine am Lebensstil-orientierte Medizin, zu der auch die Zahnmedizin bereits einen Beitrag (Stichwort: Kariesprophylaxe) geleistet hat und sicherlich auch noch mehr leisten kann, wenn man an die Bedeutung der Zahngesundheit für den gesamten menschlichen Körper denkt.

Die Fragen stellte Marius Giessmann.

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