zm-Serie: Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“

Hermann Euler (1878–1961) – Ein Nationalsozialist der leisen Töne

Dominik Groß
Gesellschaft
Hermann Euler gilt neben Otto Walkhoff1als einflussreichster deutscher Zahnarzt des 20. Jahrhunderts. Kein anderer bekleidete das Amt des DGZMK-Präsidenten so lange wie er: Er stand der Gesellschaft von 1928 bis 1954 vor – und damit in drei politischen Systemen (Weimarer Republik, „Drittes Reich“, Bundesrepublik). Doch wer war dieser Mann, wie verlief sein Leben und inwiefern wurde er im Nationalsozialismus zu einem Täter?2

Euler wurde am 13. Mai 1878 in Karlsberg in der Pfalz geboren. Sein Vater war Pfarrer und Gymnasiallehrer für Religion. 1897 nahm er das Medizinstudium auf, 1902 legte er das Examen ab. Im selben Jahr promovierte er in Erlangen über die „Magenverdauung“.3 1904 wurde er Assistenzarzt an einer Erlanger Heilanstalt, entschied sich jedoch bald zu einem Zweitstudium der Zahnheilkunde in Heidelberg, das er bereits 1905 abschloss, um dann am dortigen Zahnärztlichen Institut eine Assistentenstelle anzutreten.

Nach seiner Habilitation 1907 über den „Pulpentod“4 wurde Euler 1911 nichtbeamteter außerordentlicher Professor an der Universität Erlangen und Vorstand der zahnärztlichen Poliklinik. Von 1914 bis 1918 betreute er in Erlangen zudem eine Station für Gesichtsverletzte. 1921 folgte eine planmäßige außerordentliche Professur für Zahnheilkunde in Göttingen und 1924 akzeptierte er einen Ruf auf eine ordentliche Professur an der Universität Breslau. Hier fungierte Euler bis 1945 als Direktor des Zahnärztlichen Instituts.

Nach dem verlorenen Krieg floh er aus Breslau und wirkte kurzzeitig an der Universität Leipzig, wurde dort jedoch Ende 1945 entlassen. Im Juni 1946 verließ er die sowjetisch besetzte Zone und ging nach Coburg. 1947 erhielt der mittlerweile 69-Jährige einen Lehrauftrag an der Universität zu Köln. Hier erfolgte 1955 seine förmliche Emeritierung in der Rechtsstellung eines ordentlichen Professors. Euler verstarb am 17. April 1961 in Köln an den Folgen eines Unfalls. Ihm waren aufgrund von Röntgenstrahlenschäden zwei Finger der linken Hand amputiert worden: „Behindert durch eine Gipsmanschette [.…] stürzte er so unglücklich auf der Treppe seiner Wohnung, daß er wenige Tage später [...] starb“.5

Mit Ämtern, Preisen und Titeln dekoriert

Euler erlangte zu Lebzeiten zahlreiche wichtige Ämter und Auszeichnungen:6 So wurde ihm 1920 die Ehrendoktorwürde der Universität Erlangen zugesprochen. In den Jahren 1930 und 1933 bis 1936 wirkte er als Dekan der Medizinischen Fakultät in Breslau. 1932 erfolgte seine Berufung in die Leopoldina und 1943 erhielt er den Goldenen Ehrenring der Deutschen Zahnärzteschaft. Die wichtigsten Nachkriegsauszeichnungen waren 1953 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik (als erster deutscher Zahnarzt) und die Ehrenpräsidentschaft der DGZMK sowie 1955 die Etablierung der „Hermann-Euler-Medaille“ durch die DGZMK. Darüber hinaus erhielt Euler 1957 den Miller-Gedächtnis-Preis der Fédération Dentaire Internationale (FDI) und 1959 eine Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig. 1962 gab die FDI schließlich posthum eine „Gedenkmedaille“7 zu seinen Ehren heraus.

Während Eulers fachpolitische Bedeutung als DGZMK-Präsident unstrittig ist, wird sein klinischer Einfluss auf die Zahnheilkunde gemeinhin überschätzt. Er trat weder durch wegweisende technische oder operative Entwicklungen noch durch besondere manuelle Fertigkeiten in Erscheinung, sondern war eher ein (Lern-)Didaktiker und Systematiker. Besonders pointiert beschreibt dies sein Schüler Carl-Heinz Fischer, der Eulers Patientenvorstellungen und Beschreibung von Krankheitsbildern im Unterricht als „meisterhaft“ würdigt, aber ebenso betont, dass Euler „lieber theoretisch als praktisch Zähne“ entfernt habe.8 Eulers wichtigstes Werk war demgemäß das bereits 1914 verfasste, mehrfach aufgelegte „Lehrbuch der Zahnheilkunde“.9 Er hinterließ circa 240 Publikationen zu verschiedenen Teilgebieten des Fachs.10

Euler gehörte nicht zu den zahnärztlichen Hochschullehrern, die mit NS-Parolen Schlagzeilen machten oder dem Regime demonstrativ huldigten, wie etwa Karl Pieper.11 Seine Einstellung zum Nationalsozialismus erschließt sich erst beim Studium seiner Publikationen und der überlieferten Archivalien: Aktenkundig ist, dass Euler unmittelbar nach der Lockerung der von Mai 1933 bis Mai 1937 verhängten Mitgliedersperre in die NSDAP eintrat – besagte Sperre war eingeführt worden, um politische Opportunisten von der Partei fernzuhalten (Aufnahme am 1. Mai 1937, Nr. 4.660.341). Euler war außerdem Mitglied im NS-Lehrerbund, im NS-Kraftfahrkorps, in der NS-Volkswohlfahrt, im NS-Altherrenbund, im NS-Ärztebund und im NS-Dozentenbund.12

Verantwortlich für die „Säuberungsaktionen“

Es besteht kein Zweifel, dass Euler sich dem NS-Regime andiente und es durch seine Amtsführung maßgeblich stützte. Er setzte 1933 die politische Gleichschaltung des nunmehr „DGZMK“ genannten Central-Vereins um – in enger Abstimmung mit NS-Reichszahnärzteführer Ernst Stuck, der sein Einvernehmen mit Euler stets betonte.13 Bereits 1933 sprach Euler in einem Beitrag die Erwartung aus, dass „im Neuen Deutschland“ eine am Volksbedarf orientierte Ernährungspolitik umgesetzt werde.14 1934 skizzierte er dann die Rolle der „neuen“ gleichgeschalteten DGZMK: „Viel weiter sind jetzt ihre Grenzen gesteckt, ganz neue Aufgaben und Möglichkeiten sind ihr erwachsen, seit auch sie [...] in dengemeinsamen Stand im neuen Reich eingegliedert worden ist [...]. Nun heißt es erst recht arbeiten und sich des Vertrauens würdig erweisen“.15

Im selben Jahr trug Euler als Dekan der Breslauer Medizinischen Fakultät die Verantwortung für „Säuberungsaktionen“ zulasten jüdischer Kollegen. Dabei sprach er sich „bei 15 von 20 Kollegen für die Elimination aus der Fakultät aus“16 – spätestens hierdurch wurde Euler zum Täter.17 Ebenfalls 1934 würdigte er Ernst Lehmann, einen Vertreter der im NS-Staat geförderten „biologischen Denkweise“, mit dem Zitat, dass die Biologie „ein Kernstück der nationalsozialistischen Weltanschauung“ darstelle.18 Euler selbst vollzog 1938 die Integration der zahnärztlichen „Arbeitsgemeinschaft für medizinisch-biologische Heilweisen“ in die DGZMK. Jene AG vertrat die „Neue deutsche Zahnheilkunde“, eine krude Mischung aus „ganzheitlicher“ Medizin und NS-Ideologie. Hierzu gehörte auch die „Forschungsgemeinschaft für Roggenverwertung“, die sich der „Vollkornbrotbewegung“ verschrieb. Euler zählte zu den Mitgliedern dieser Gemeinschaft.19

Euler äußerte sich zudem vorsichtig zustimmend zu Theorien von „Rassenforschern“ wie Arthur Hruska, der Parodontalerkrankungen als vornehmlich „rassebedingt“ ansah.20 Auch in Eulers Buch zur Geschichte der Karies finden sich Bezüge zur „Rassenkunde“: „Die Franken, ein rassisch gesundes Volk mit naturgebundener Lebensweise und naturgebundener Ernährung, trafen bei ihrem Einbruch in das Gebiet des Niederrheins wohl auf die verfeinerte römische Kultur und Zivilisation, konnten aber deren schädliche Einflüsse durch ihre gesunde Konstitution und durch ihr reines Blut [...] überwinden.“21 1942 wurde er in den Beirat der rassenpolitisch ausgerichteten „Deutschen Gesellschaft für Konstitutionsforschung“ berufen. Im selben Jahr rühmte er in einem Nachruf auf den gefallenen Kollegen Karl Greve dessen „beispielhafte Einsatzbereitschaft und Aufopferungsfähigkeit für Führer und Volk“, „die er zuletzt mit dem Heldentod besiegelte“.22

Euler wurde trotz seiner prominenten Rolle in der Zahnheilkunde des NS-Staates – wie die meisten Parteigenossen23 – als „Mitläufer“ entnazifiziert (1946). Anschließend konnte er auf Vermittlung von Karl Zilkens einen Lehrauftrag in Köln übernehmen, der seine erneute Wahl zum Präsidenten der reaktivierten DGZMK maßgeblich erleichterte.24

Bis 2005 wurde er als unpolitisch beschrieben

In der Fachliteratur bis 2005 wurde Euler zumeist als unpolitische Person beschrieben.25 Diese Einschätzung fußte vor allem auf seinen „Lebenserinnerungen“ (1949), die durch Verharmlosungen und Auslassungen charakterisiert sind. Er bestreitet dort eine Nähe zum NS-Regime und behauptet, selbst von der NSDAP kritisch beäugt worden zu sein – ein Sachverhalt, der sich anhand der Quellen nicht bestätigen lässt. Seine Rolle bei den „Säuberungen“ in Breslau erwähnt Euler nicht. Auch die fatale NS-Gesundheitspolitik wird nicht thematisiert – bis auf eine irritierende Bemerkung zur Euthanasie. So skizziert Euler folgenden Fall: „Ein älterer Mann, unheilbar geisteskrank, ja nicht einmal besserungsfähig, für seine Familie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sonst für die Zukunft einzelner Familienangehöriger eine außerordentliche Belastung, bekommt ein inoperables Karzinom. Kann in diesem Falle die Euthanasie nicht wirklich das werden, was ihr Wortlaut sagt?“26

Besagte Bemerkungen erinnern in Inhalt und Wortwahl („nicht besserungsfähig“, „wirtschaftliche Belastung“) noch auffällig an die NS-Terminologie („Ballastexistenzen“) und entsprechende Argumentationsmuster.

Verfälschte AutoBiografie hatte Wirkung

Eulers geschönte Autobiografie zeigte Wirkung: So äußerte Maretzky 1961 in einem Nachruf auf Euler: „Es war ein besonderes Glück, dass er, der dem Nationalsozialismus seinem ganzen Wesen nach innerlich völlig fern stand, sich bewegen ließ, die Stellung als Leiter der wissenschaftlichen Organisation auch in den Jahren fest in der Hand zu halten, in denen die Wissenschaft vielfach politisch bevormundet wurde. Es wurde dadurch der deutschen Zahnheilkunde und ihrem internationalen Ansehen viel Schaden erspart.“27

Wie wirkmächtig Eulers Selbstdarstellung war, belegte 1969 eine Doktorarbeit zu Eulers Leben und Werk: Wasserfuhr (1969) erwähnt dessen NS-Verstrickung mit keinem Wort, sondern schildert Euler als Opfer alliierter Besatzungsbehörden: „Die neuen Machthaber hatten ihm nicht nur sein Institut und sein kostbarstes Eigentum, die Bibliothek, genommen, sondern sie strichen ihm auch noch jegliche finanzielle Unterstützung [...]. Krank und völlig mittellos mußte Euler bis zum Sommer 1946 unter menschenunwürdigen Bedingungen leben“.28

Erst ein kritischer DZZ-Beitrag von Staehle/Eckart (2005) über Eulers Rolle im „Dritten Reich“ ließ die Zahnärzteschaft aufhorchen29 – und führte zur Entscheidung des damaligen DGZMK-Vorstands, ein Fachgutachten zu Euler einzuholen. Dort hieß es: „Wer sich [...] für die Beibehaltung des Namens ‚Hermann-Euler-Medaille‘ einsetzt, kann sich nicht mehr auf Unwissenheit berufen. Euler hat sich im Dritten Reich ohne erkennbaren Zwang in die erste Reihe stellen lassen. Er hat sich dem NS-Regime angedient, das System im Rahmen seines Funktionsbereichs gestützt, mitrepräsentiert und dadurch letztlich zu dessen Hoffähigkeit beigetragen. Auch nach dem Ende der NS-Zeit ließ er selbstkritische Äußerungen vermissen“.30

2007 wurde die Euler-Medaille in „DGZMK-Medaille“ umbenannt.31

Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen

Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2,

Wendlingweg 2, 52074 Aachen

dgross@ukaachen.de

Fußnoten:

1 Groß (2017), 100–102;

2 Maretzky (1961), 459f. Rebel (1961), 1197–1200; Ritter (1961), 433–435; Zilkens (1961), 457f.; Wasserfuhr (1969); Staehle/Eckart (2005), 677–694; Klee (2013), 140f.; Groß/Schmidt/Schwanke (2016), 129–171; Groß (2018a), 92f.;

3 Euler (1902);

4 Euler (1907);

5 Wasserfuhr (1969), 10;

6 Wasserfuhr (1969); Staehle/Eckart (2005), 677–694; Groß/Schmidt/Schwanke (2016), 129–171; Groß (2018a), 92f.

7 ; Heckert (2006), 60f.

8 Fischer (1985), 96 u. 98.

9 Port/Euler (1914);

10 Euler (1925); Euler (1927); Euler (1939); Euler (1948); Euler (1952), 355–363; Euler (1955), 249–257;

11 Groß (2020);

12 Bundesarchiv Berlin R 9361-VIII/8561744; Bundesarchiv Berlin R 4901/13262;

13 Stuck (1943), 141;

14 Euler (1933), 971–978;

15 Euler (1934b), 666;

16 Staehle/Eckart (2005), 681;

17 Groß/Krischel (2020);

18 Euler (1934a), 550f.;

19 Euler (1949), 161 u. 179; Wündrich (2000), 118;

20 Euler (1945), 24;

21 Euler (1939), 170;

22 Euler (1942), 410;

23 Groß (2018b), 164–178;

24 Groß/Schmidt/Schwanke (2016), 129–171; Groß (2018a), 92f.;

25 Groß/Schmidt/Schwanke (2016), 129–171; Schwanke/Krischel/Gross (2016), 2–39; Groß (2019), 158 u. 169.

26 Euler (1949), 24;

27 Maretzky (1961), 459f.;

28 Wasserfuhr (1969), 7f.;

29 Staehle/Eckart (2005), 677–694;

30 Groß (2005), 5;

31 Groß/Schäfer (2009), 254.

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß

Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Vorsitzender des Klinischen
Ethik-Komitees des UK Aachen
Universitätsklinikum der
RWTH Aachen University MTI 2
Wendlingweg 2, 52074 Aachen
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