Krank im Knast
Sie haben Aufputsch-Pillen geschluckt, illegal Drogen genommen oder viel Alkohol getrunken. "45 Prozent der etwa 60.000 Häftlinge in deutschen Gefängnissen haben ein Problem mit psychoaktiven Substanzen", sagt der Berliner Mediziner Marc Lehmann. Fast alle - 95 Prozent - hätten zudem seelische Störungen. Der 51-Jährige ist Mitautor des nun erschienenen Buches "Gesundheit und Haft" und Ärztlicher Direktor des Justizvollzugskrankenhauses in Berlin.
"Es gibt kein drogenfreies Gefängnis."
Die alarmierenden Zahlen hat Lehmann aus mehreren regionalen Studien zusammengefasst. Straftäter kämen oft mit oder wegen ihrer Drogenabhängigkeit ins Gefängnis. Doch auch in der Haft könnten Abhängigkeiten entstehen. "Es gibt kein drogenfreies Gefängnis." Alkohol im Knast komme dagegen nicht so häufig vor.
In dem Buch legen Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen und Wissenschaftler eindringlich dar, dass die Resozialisierung von Gefangenen nur gelingen kann, wenn auch deren Gesundheit in Ordnung ist. Die Realität sehe aber oft anders aus.
"Ein Recht auf die gleiche medizinische Versorgung."
Gefangene sind nicht krankenversichert, wie Lehmann erläutert. Die Bundesländer seien zuständig für die Gesundheitsfürsorge, die Budgets überall nicht üppig. Medikamente für Hepatitis-C-Patienten im Gefängnis kosteten zum Beispiel bis zu 80.000 Euro pro Fall. Die infektiöse Leberentzündung sei inzwischen heilbar, doch wie sollen die knappen Mittel am besten eingesetzt werden? "Ein heißes Eisen", sagt der Mediziner. Er stemmt sich zugleich gegen Vorurteile: "Kranke in Haft haben ein Recht auf die gleiche medizinische Versorgung wie Patienten in Freiheit."
Zudem fehlten bundesweit Ärzte im Justizvollzug. Allein in Berlin seien fünf Stellen nicht besetzt. "Der Markt ist wie leergefegt", sagt Lehmann. Bei dieser Arbeit sei auch wenig Dank zu erwarten, Ärzte würden von Gefangenen oft als "Träger des Systems" empfunden.
"Drinnen und Draußen müssen besser zusammenarbeiten."
Die Psychologin Heike Drees und die Sozialarbeiterin Regina Schödl berichten zudem über einen Mangel an Sozialarbeitern und Psychologen. Drees betont, Justiz, Krankenhäuser, Arbeitsämter und Vereine sollten an einen Tisch. Die Zusammenarbeit zwischen "Drinnen und Draußen" müsse besser werden, so ihr Fazit. Ansonsten könnten in der Haft stabilisierte Insassen nach der Entlassung ins Nichts fallen.
Als Erfolg werten die Fachleute, dass in Berlin Drogenabhängige bei HafteEnde einen Arztbrief für die weitere Behandlung mitbekommen. Gute Effekte habe auch der offene Vollzug, bei dem Inhaftierte tagsüber "draußen" arbeiteten. "Je mehr Raum wir geben, desto weniger eskalieren Störungen", sind sich die Experten einig. In Berlin hat jeder fünfte Häftling diese gelockerte Form des Freiheitsentzuges. Das sei bundesweit Spitze, sagt Lehmann.
Wegen fehlenden Personals bekämen Gefangene zu wenig Ausgänge zur Vorbereitung auf die Freiheit, sie würden von Arbeitsagenturen nicht mehr im Vorfeld beraten, Bewährungshelfer müssten bis zu 100 Personen betreuen, bemängelt darüber hinaus der Strafrechtsexperte Bernd Maelicke in dem Buch. Seine Hauptkritik: Es fehle ein Gesamtkonzept, wie Straftäter auf ein Leben nach der Haft vorbereitet werden können.
"Ein Verwirrsystem"
Selbst Jura-Professoren hätten den Überblick verloren. Die Landesgesetze schwankten wie Ruten im Wind: mal mehr soziale Integration, mal mehr Repression. Das "Verwirrsystem" sei nicht mehr hinnehmbar, so Maelicke. "Wir brauchen eine schonungslose Bestandsaufnahme [...] und eine Umverteilung der Ressourcen."
Eine Sprecherin der Berliner Justizverwaltung sagt, das Buch sei ein wertvoller Beitrag. Angebote für die Resozialisierung zu vernetzen, sei eine wichtige Aufgabe. Für manche Insassen sei die Haft ein Glücksfall, sagt Arzt Lehmann. "Im Gefängnis haben viele Drogenabhängige erstmals Zugang zum Gesundheitssystem und werden behandelt." Oft würden bei der Aufnahmeuntersuchung auch andere verborgene Krankheiten entdeckt.
Wenn zum Beispiel Substitution - die Behandlung mit Ersatzstoffen - bei Drogenabhängigen gelinge, "muss das erhalten werden" für die Zeit nach der Haft, fordert auch Lehmann. Denn in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung sei die Rückfallquote von Straftätern am größten.
von Jutta Schütz, dpa