Le Fort II-Osteotomie bei Gesichtsfehlbildung
Eine zwölfjährige ostasiatische Patientin wurde erstmals vom behandelnden Kieferorthopäden wegen einer Umstellungsosteotomie vorgestellt. Es fiel bereits damals ein sogenanntes "Dish-Face" auf, verbunden mit einer flachen Nasenwurzel, im Sinne einer ausgeprägten Mittelgesichtshypoplasie. Der Zahndurchbruch war noch nicht komplett abgeschlossen.
Damals wurde aus chirurgischer Sicht eine sagittale Spaltung der aufsteigenden Unterkieferäste mit Rückschub des Unterkiefers nach Obwegeser [Obwegeser, 1957] sowie eine komplette Le Fort III-Osteotomie in Erwägung gezogen (Abbildungen 1a und 1b). Mit Rücksicht auf das Alter der Patientin wurde der Eingriff jedoch bis zum Wachstumsabschluss verschoben. Es wurden jährliche Kontrollen vereinbart.
Mit 16,5 Jahren stellte sich die Patientin erneut zur Therapieplanung vor. Die allgemeine Anamnese war unauffällig. Extraoral fand sich klinisch jetzt eine ausgeprägte zentrale Mittelgesichtshypoplasie mit Rücklage des Oberkieferalveolarfortsatzes und der Nase bei regelrecht ausgebildeten Jochbeinmassiven. Die Nasenatmung war ungestört. Ferner fiel das prominente Kinn auf.
Intraoral zeigte sich eine Angle-Klasse III mit diskreter Abweichung der Oberkiefermittellinie nach rechts und einer deutlichen Abweichung der Unterkiefermittellinie nach links (Abbildungen 2a bis 2c). Eine digitale Volumentomografie zeigte eine Verschattung des Sinus maxillaris rechtsseitig, retinierte Weisheitszähne 18, 28, 38 und 48 und eine absolute Hypoplasie im Bereich des zentralen Mittelgesichtes, die Jochbeine waren beidseits unauffällig ausgebildet. Retromaxillär lagen keine ossären Pathologien vor (Abbildungen 3a bis 3c).
Zunächst erfolgte ambulant die Entfernung aller Sapientes sowie eine osteoplastische Kieferhöhlenoperation mit Einlage einer Drainage in die rechte Kieferhöhle mit transnasaler Ausleitung. Die Wundheilung war regelrecht. Nach weiterer kieferorthopädischer Vorbehandlung ergab sich unter Würdigung der erhobenen Befunde die Indikationsstellung zur Le Fort II-Osteotomie mit Vorschub des zentralen Mittelgesichts und gleichzeitigem Rückschub des Unterkiefers durch sagittale Spaltung der aufsteigenden Unterkieferäste nach Obwegeser [Obwegeser, 1957] .
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Zugang über „Midfacial-degloving“
Bei der Le Fort II-Osteotomie wurde der Oberkiefer inclusive Nase analog der Le Fort-II-Fraktur ventralisiert. Der Zugang erfolgte über einen koronalen Schnitt sowie über ein sogenannte „Midfacial-degloving“. Das „Midfacial-degloving“ beinhaltete ein rein intraorales Vorgehen kombiniert mit intranasalen Incisionen (Transfixionsschnitt, interkartilaginäre Schnitte beidseits, welche am Nasenboden beidseits miteinander verbunden werden).
Die intraoralen und intranasalen Schnitten wurden miteinander vereint, dann konnten die Mittelgesichtsweichteile komplett vom Skelett bis in den Nasenaugenwinkel abgehoben werden. Der Operateur hatte somit die optische Kontrolle über die geplanten Osteotomien. So konnte die Osteotomie von der Nasenwurzel dorsal der Tränensäcke entlang, lateral der Nervi infraorbitales in den Bereich der fazialen Kieferhöhlenwandung gelegt werden.
Zusätzlich erfolgten retromolare Osteotomien analog der Le Fort I-Osteotomie. Nach Mobilisation des Oberkieferalveolarfortsatzes incl. des Nasenkomplexes wurde dieser maximal weit ventralisiert und mit Mikroplatten (Plattenstärke: 0,6 mm; Schraubendurchmesser: 1,5 mm, Titan: grade 1) osteosynthetisiert.
In gleicher Sitzung erfolgte die sagittale Spaltung der aufsteigenden Unterkieferäste nach Obwegeser [Obwegeser, 1957] mit Retropositionierung des Unterkiefers entsprechend der vorgegebenen Okklusionsebene nach der Le Fort II-Osteotomie. Die Osteosynthese wurde mit Miniplatten (Plattenstärke: 1,0 mm, Schraubendurchmesser: 2,0 mm; Titan: grade 2) durchgeführt. Der durch den Rückschub des Unterkiefers von den beiden Gelenk-tragenden Segmenten zu ostektomierende Knochen wurde in den Osteotomiespalt des Mittelgesichts zur Stabilisierung transplantiert (Abbildungen 4a bis 4d).
Als Besonderheit musste bei dieser Osteotomieform die submentale Ausleitung des Tubus während der Operation ausgeführt werden, um die Patientin ohne Tracheotomie sicher beatmen zu können. Dazu wurde nach oraler Intubation - vor Beginn der eigentlichen Operation - zunächst submental eine etwa zwei Zentimeter lange Incision unmittelbar dorsal des knöchernen Kinns parallel zu diesem gelegt.
Stumpf wurde dann nach enoral am Periost entlang präpariert und schließlich ventral der Ausführungsgänge der Glandulae submandibulares die Mundschleimhaut penetriert. Nach Aufdehnung des Präparationsgangs wurde eine Kornzange in den geschaffenen Hohlraum von extraoral nach enoral geführt und der durch Drahtwindungen stabilisierte Trachealtubus (Woodbridge-Tubus) nach Diskonnektion nach submental geführt. Nach Rekonnektion des Beatmungssystems an den Tubus erfolgte dessen Fixierung mit einer 2-0-Naht an der Haut. Die gesamte Operation abschließend, wurde der extraoral fixierte Tubus in die Mundhöhle rückverlagert. Nun konnte die submentale Incision einschichtig vernäht und die Extubation vorgenommen werden.
Postoperativ kam es zu keinerlei Komplikationen. Nach einer Nacht auf der Intensivstation konnte die Patientin auf die Normalstation verlegt werden. Am siebten postoperativen Tag verließ sie das Krankenhaus. Es zeigte sich in der Folge ein für die Patientin, deren Familie und den Operateur sehr zufriedenstellendes Ergebnis (Abbildungen 5a bis 5e). Sechs Monate postoperativ wurden die Osteosyntheseplatten im Unterkiefer in Intubationsnarkose unter ambulanten Bedingungen entfernt.
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Diskussion
In den 1950er bis 1960er Jahren bestand die kieferorthopädische Chirurgie überwiegend aus der Osteotomie des Unterkiefers. Fast alle Veränderungen des Gesichts wurden über die Unterkieferosteotomie durch Vor- oder Rückschub des Unterkiefers und gegebenenfalls additive transversale Bewegung des Unterkiefers gelöst. Es kam dabei teilweise auch zu Rezidiven, möglicherweise auch zur Schlafapnoe.
Nach Einführung der Le Fort I-Osteotomie zur Korrektur von Fehlbissen durch Obwegeser [Obwegeser, 1969] wurde immer mehr nach den zugrunde liegenden Pathologien operiert. Dies bedeutete, da meist eine Kombination von Hypoplasie und Hyperplasie im Ober- und Unterkiefer in unterschiedlichen Dimensionen bei einem Patienten vorlag, dass sich in der Folge die sogenannte bimaxilläre Osteotomie (Le Fort I-Osteotomie im Oberkiefer und sagittale Spaltung des Unterkiefers beidseits) zur Behandlung skelettaler Fehlstellungen als Routineeingriff durchsetzte.
Das in diesem Fallbericht angedeutete Konzept führt den Gedanken der operativen Korrektur von „Fehlbissen“ - besser: skelettaler Fehlentwicklungen im Gesicht - weiter. Es wird zusätzlich zur überwiegend okklusalen Betrachtung beziehungsweise Beurteilung der Stellung von Oberkiefer zu Unterkiefer, allenfalls Berücksichtigung der Relation Nasenspitze-Oberlippe-Oberkieferfrontzähnen-Okklusion, auch die Positionierung des Jochbein-Komplexes, der Orbita, des Bulbus oculi, der gesamten Nase inklusive der Nasenbasis zu den oben bereits erwähnten Kriterien hinzugefügt.
Im geschilderten Fall erfolgte unter Beachtung dieser Kriterien die Indikation zur Le Fort II-Osteotomien mit der Mobilisation des gesamten Mittelgesichtes inklusive Nase, ergänzt durch den Rückschub des Unterkiefers.Die höheren Osteotomie-Formen im Mittelgesicht wurden durch die grundlegenden Arbeiten von Paul Tessier [Tessier, 1967] in den 1950-er und 1960-er Jahren zur craniofazialen Chirurgie ermöglicht (1967), auf die das im folgenden kurz skizzierte Konzept zurückgeht.
Dies berücksichtigt alle Gesichtsproportionen bei der Indikationsstellung zu Kiefer-verlagernden Operationen: Liegt neben einer Rücklage des Oberkiefers eine „harmonische“ Hypoplasie des gesamten Mittelgesichts vor, das heißt Hypoplasie des Jochbeinmassivs, der Nase inklusive Nasenwurzel und des Alveolarfortsatzes, wird eine Komplette Le Fort III-Osteotomie indiziert. Dabei wird über einen koronalen Zugang, gegebenenfalls ergänzt durch kleine intraorale Incisionen im oberen Molarenbereich das gesamte Mittelgesicht mobilisiert und ventralisiert. Durch diesen Ansatz werden dann gleichzeitig die präoperativ vorliegende Pseudoprotrusio bulbi und der Aspekt der zu kleinen Nase mit der Fehlstellung der Okklusion der Zahnreihen verbessert.
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Korrektur der Okklusion
Zeigt sich bei den Patienten neben einer Hypoplasie im Bereich der Le Fort I-Ebene ein großes Nasenprofil mit zurückliegender Jochbein-Region (es liegt dann ebenfalls oft auch eine Pseudoprotrusio bulbi vor), wird durch eine modifizierte Le Fort III-Osteotomie der laterale Mittelgesichtsbereich mit Oberkieferalveolarfortsatz über das oben beschriebene „Midfacial-degloving“ osteotomiert und ventralisiert. Die Nase bleibt dabei unangetastet. Dadurch wird die Pseudoprotrusio bulbi reduziert und das Großnasenprofil ebenfalls günstig beeinflusst. Zusätzlich wird die Okklusion korrigiert. Das Vorgehen erfolgt modifiziert nach einer Publikation von Brusati [Brusati et al.,1989].
Liegt jedoch umgekehrt eine gut ausgeprägte Jochbein-Region vor bei Hypoplasie im zentralen Mittelgesicht inclusive Nase, wird der Le Fort II-Osteotomie (wie im beschriebenen Fall) der Vorzug gegeben. Dabei werden die Nase in toto und der zurückliegende Oberkieferalveolarfortsatz korrigiert. Liegt lediglich eine Hypoplasie des Oberkieferalveolarfortsatzes vor, erfolgt eine Le Fort I-Osteotomie Obwegeser [Obwegeser, 1957],
Typischerweise wird bei allen oben aufgelisteten höheren Mittelgesichtsosteotomien eine zusätzliche Osteotomie des Unterkiefers mit Rücksetzen des zahntragenden Unterkiefers notwendig. Lediglich bei der Le Fort I-Osteotomie ist diese allein gelegentlich ausreichend zur Korrektur des dann vorliegenden Fehlbisses (Angle-Klasse III).
Würde bei den höheren Osteotomie-Formen lediglich eine Le Fort I-Osteotomie durchgeführt werden, erschienen im Gegenteil die Hypoplasien cranial des Oberkieferalveolarfortsatzes postoperativ noch verstärkt, da Jochbein und/ oder Nase in der Relation zum Oberkieferalveolarfortsatz noch weiter zurückliegen würden. Da es sich bei der kieferorthopädischen Chirurgie um absolut elektive Eingriffe handelt, kommt der Aufklärung der Patienten – typischerweise auch der Eltern – eine hohe Bedeutung zu. Nach eigener Erfahrung handelt es sich dabei nicht um ein einziges Aufklärungsgespräch, sondern um eine Aufklärungsphase, die sich oft über Monate oder gar Jahre hinzieht. Dies ist gerechtfertigt, da die Operationsrisiken bei den höheren Mittelgesichtsosteotomien deutlich schwerwiegender sein können als bei der klassischen und häufig durchgeführten Le Fort I-Osteotomie. Die Indikationsstellung muss daher streng in einer empathischen und vollständigen Form erfolgen. Eine Stufenaufklärung hat sich bei unseren Patienten bewährt.
Prof. Dr. Dr. Berthold HellKlinik für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, plastische OperationenDiakonie Klinikum, Standort Jung-Stilling-KrankenhausWichernstr. 40, 57074 Siegen
Literatur:
Obwegeser HL (1957) The surgical correction of mandibular prgnathism and retrognathia with consideration to genioplasty. Oral Surg 10, 677
Obwegeser HL (1969) Surgical correction of small or retrodisplaced maxilla. Plast Reconstr Surg 43, 351
Tessier P (1967) Osteotomies totals de la face: Syndrome de Crouzon, syndrome d´ Apert, oxycéphalies, scaphocéphalies, turricéphalies. Ann Chir Plast 12, 273
Wassmund, M (1935) Lehrbuch der praktischen Chirurgie des Mundes und der Kiefer. Barth, Leipzig
Brusati, R, Sesenna, E, Raffaini, M (1989) On the feasibility of intraoral maxillo-malar osteotomy. J Cranio Max Fac Surg 17, 110