Narkosebehandlungen: Zahnärzte und MKG-Chirurgen schlagen Alarm
Schwer kranke Kinder und Erwachsene, sehr kleine Kinder, Menschen mit Behinderungen und sehr alte Patientinnen und Patienten – sogenannte vulnerable Gruppen – benötigen nicht selten eine Vollnarkose für den zahnmedizinischen Eingriff. „2021 hatten beispielsweise 86 Prozent der Kinder in der Kindersprechstunde in Heidelberg schwere Erkrankungen und Behinderungen, wie Entwicklungsstörungen, Lähmungen, Epilepsie, Down-Syndrom oder sonstige Fehlbildungssyndrome“, berichtet Prof. Diana Wolff, Expertin der Vereinigung der Hochschullehrer für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (VHZMK) und Ärztliche Direktorin der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg.
Diese und andere vulnerable Patientinnen und Patienten brauchen für die oft aufwändige Behandlung eine Vollnarkose – und eine anschließende stationäre Betreuung nach der Operation. „Es ist aus unserer Sicht untragbar, wenn beispielsweise ein Mensch mit Behinderung, der sich schlecht artikulieren kann und bei Zahnschmerzen aufhört zu essen, sich an den Kopf schlägt oder schreit, mehr als vier Monate auf eine Narkosebehandlung warten muss“, so Wolff.
Vulnerable Gruppen fallen durchs Raster des Gesundheitssystems
Verschiedene Ursachen haben zu der heute so dramatischen Situation geführt: Die Zahl der vulnerablen Patientinnen und Patienten ist gestiegen – unter anderem aufgrund des demografischen Wandels. Selbstverständlich wollen die Zahnärztinnen und Zahnärzte auch die Zähne und damit die Lebensqualität der zum Teil noch sehr jungen Patientinnen und Patienten erhalten – und zahnerhaltende Maßnahmen wie Zahnsanierungen sind aufwändiger als das Ziehen der Zähne. Die Anzahl der Operationssäle und auch die Anzahl der Pflegekräfte ist aber begrenzt. „Im Regelfall ist kein Personal für die reine Krankenversorgung verfügbar, weil das zahnärztliche Personal an Universitätskliniken über die Studierendenzahl, das heißt eine sehr veraltete Kapazitätsverordnung, reguliert ist“, sagt Prof. Bernd Lethaus, Experte der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG) und Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie in Leipzig.
Zudem wird der Aufwand der Kliniken weder für ambulante noch für stationäre Zahnsanierungen in Narkose adäquat bezahlt. „Die strikte Trennung zwischen ambulanter und stationärer Abrechnung macht kostendeckendes Arbeiten nahezu unmöglich“, erklärt Lethaus. „Momentan fallen vulnerable Gruppen deshalb sozusagen im freien Fall durch das Raster unseres Gesundheitssystems. Diese Patientinnen und Patienten müssten primär in Universitätskliniken behandelt werden. Hier ist die Situation – nicht zuletzt aufgrund der Effekte der Corona-Pandemie und dem gestiegenen Kostendruck – jedoch besonders angespannt.
Lange Wartezeiten
Eine Umfrage unter allen 30 zahnmedizinischen Universitätskliniken Deutschlands hat gezeigt, dass aktuell eine deutliche Mehrheit der Universitätskliniken vulnerable Patientinnen und Patienten nicht ausreichend versorgen kann. Die Wartezeiten für Behandlungen in Vollnarkose betragen demnach im Schnitt derzeit viereinhalb Monate – im Jahr 2009 lagen sie noch bei drei bis vier Wochen.
Adäquate Vergütung gefordert
Die DGMKG und die VHZMK prangern die unhaltbaren Zustände an und wollen Politik und Öffentlichkeit für das Problem sensibilisieren. „Wir fordern eine Auflösung der Trennung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung. Die Kosten für zahnmedizinische Leistungen in Narkose – darunter unter anderem auch der Zahnerhalt durch Prophylaxe, restaurative Therapie und Kinderkronen – müssen beispielsweise adäquat vergütet werden. Wir stellen uns weiterhin Netzwerkstrukturen vor, in denen wir Hand-in-Hand mit niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen und Schwerpunktpraxen arbeiten“, so Wolff abschließend.