Studie findet „enorme“ Antibiotikabelastung im Abwasser
Es ist schon lange bekannt: Zunehmende Antibiotikaresistenzen gefährden die Gesundheitsversorgung und führen weltweit zu einer hohen Zahl an vorzeitigen Todesfällen. Aus diesem Grund starteten 2020 die AOK Baden-Württemberg, das IWW Rheinisch-Westfälischen Institut für Wasserforschung und das Umweltbundesamt eine Pilotstudie zur ökologischen Nachhaltigkeit in der Antibiotikaversorgung. Die weltweit erste Studie mit detaillierten Einblicken in die globale Antibiotikaproduktion wurde am vergangenen Freitag vorgestellt.
„Unsere Erfahrungen zeigen einen dringenden Handlungsbedarf, der nicht länger in politischen Diskussionen ausgeklammert werden darf“, fasst Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, die Ergebnisse zusammen. „Die Arzneimittelversorgung kann nur dauerhaft stabilisiert werden, wenn sie in allen drei Dimensionen – ökonomisch, sozial und ökologisch – nachhaltig gestaltet wird.“
Belastete Produktionsabwässer fördern Antibiotikaresistenzen
Als bundesweite Verhandlungsführerin für die Arzneimittelrabattverträge der AOK-Gemeinschaft implementierte die AOK Baden-Württemberg vor drei Jahren erstmals ein optionales Nachhaltigkeitskriterium in die Ausschreibung für Antibiotika, um Anreize für deren umweltgerechte Produktion zu schaffen. So können pharmazeutische Unternehmen bei der Vergabe einen Bonus auf ihr Angebot erhalten, wenn sie sich freiwillig verpflichten, wirkungsbasierte Maximalkonzentrationen im Produktionsabwasser einzuhalten.
„Belastete Produktionsabwässer sind ein wichtiger Grund für die Entstehung von Antibiotikaresistenzen, neben dem Risiko durch den massiven Einsatz von Antibiotika in der Human- und Veterinärmedizin“, stellt Dr. Malgorzata Debiak, Leiterin des Fachgebiets Arzneimittel am Umweltbundesamt, klar. Das begleitet die Studie wissenschaftlich und hat die AOK bei der vertraglich vereinbarten Festlegung der Maximalkonzentrationen beraten. „Die Ausbreitung von multiresistenten Mikroorganismen in der Umwelt hat Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Wenn sich multiresistente Keime im und über belastete Produktionsabwässer ausbreiten können, ist die Wirksamkeit von Antibiotika stark gefährdet“, so Debiak.
Das hätte massive gesundheitliche, gesellschaftliche und finanzielle Auswirkungen, sagt sie. „Wir müssen weltweit die Produktionsbedingungen im Blick haben, denn antibiotikaresistente Keime können sich in kurzer Zeit global ausbreiten und lassen sich nicht von Landesgrenzen aufhalten."
Die größte Schwellenwertüberschreitung in Indien
Die Einhaltung wird durch die Entnahme und Analyse von Proben bei den Wirkstoffherstellern vor Ort durch Experten des IWW vorgenommen. Bis heute wurden an zehn Standorten in Indien und Europa Messungen durchgeführt und Wasserproben auf die im Abwasser enthaltenen Antibiotika-Konzentrationen geprüft. Zudem wurden Gewässerproben der durch die Produktionsstätten beeinflussten Umwelt auf Antibiotika untersucht. „An 40 Prozent der untersuchten Produktionsstätten konnten wir zum Teil massive Überschreitungen der vertraglich zugesicherten maximalen Wirkstoffkonzentrationen im Produktionsabwasser oder in der angrenzenden Umwelt feststellen“, beschreibt Dr. Tim aus der Beek, Bereichsleiter Wasserressourcen-Management am IWW, die Messergebnisse.
Die höchste Überschreitung innerhalb der Produktionsanlagen konnte beim Antibiotikum Ciprofloxacin festgestellt werden. „Bei Ciprofloxacin haben wir eine Abwasserkonzentration, die den vertraglich vereinbarten Schwellenwert um 11.000 Prozent überschreitet. Auch andere Schwellenwertüberschreitungen lagen in Größenordnungen von mehreren tausend Prozent.“ Besonders gravierend sei das Problem in der durch Produktionsanlagen beeinflussten Umwelt aufgetreten. „Wir fanden besorgniserregende Konzentrationen in der Umwelt, die schädliche Effekte im Ökosystem und vermehrte Resistenzbildungen erwarten lassen“, so aus der Beek.
Die meisten Antibiotikafunde in einem europäischen Bach
Die höchste Überschreitung wurde einem Gewässer in Indien entnommen. „Die gemessene Gewässerkonzentration des Antibiotikums Azithromycin übersteigt den ökotoxikologisch relevanten Schwellenwert um mindestens 1.600.000 Prozent. Dieses Ergebnis ist sehr besorgniserregend“, merkt der Wasserexperte an. Das Problem trete allerdings nicht nur in Indien auf, stellt aus der Beek klar: „Von den beprobten Gewässern entstammt die Umweltprobe mit den meisten gemessenen Antibiotikafunden einem europäischen Bach.“
Die Pilotstudie zeige gleichzeitig aber auch positive Effekte. „Durch unseren intensiven Dialog vor Ort und den direkten Zugang zu den Produktionsanlagen konnten wir bei den Wirkstoffherstellern das Wissen über die umweltkritischen sowie gesundheitsgefährdenden Auswirkungen der Produktion nachweislich erweitern“, betont aus der Beek. „Die Sensibilisierung bewirkt bereits lokale Verbesserungen im Umgang mit Antibiotika und den Produktionsabwässern. Wir konnten mit der Vergrößerung der Abwasseraufbereitung und der Optimierung der Lagerung bei einzelnen Produktionsstätten sogar nachhaltige Veränderungen durch die pharmazeutischen Unternehmen anstoßen“, hebt auch Bauernfeind hervor.
Forschende sehen dringenden Handlungsbedarf
Insgesamt zeige die Pilotstudie jedoch einen dringenden Handlungsbedarf: „Die Ergebnisse bestätigen eine enorme Belastung der Produktionsabwässer und umliegender Gewässer mit antibiotischen Wirkstoffen. Das Problem reicht dabei weit über die Möglichkeiten der Gestaltung von Arzneimittelrabattverträgen hinaus und erfordert politische Maßnahmen auf europäischer Ebene“, erklärt Bauernfeind. Die politischen Handlungsempfehlungen haben die Autoren in einem Policy Paper zusammengefasst. Nach Ansicht der Projektpartner benötigt es Änderungen im EU-Arzneimittelrecht, um das Problem der antimikrobiellen Resistenzen bei der Wurzel zu packen. Notwendig seien „verbindliche Umweltkriterien für die Zulassung und laufende Produktion ausgewählter Arzneimittel, insbesondere Antibiotika, sowie einheitliche Kontrollsysteme zu deren Einhaltung.“