Das kapverdische Tagebuch von Dr. Detlev Nies

stz
Gesellschaft
Im März reisten Dr. Detlev Nies und drei weitere Zahnärztinnen für zwei Wochen nach Praia, der Hauptstadt der Kapverdischen Inseln. Was sie dort erlebt haben, hat Nies per Tagebuch und mit vielen Fotos festgehalten.

11.3.2016: Das Visum klebt im Pass, der DWLF-Ausweis steckt im Geldbeutel, die Zollerklärung ist ausgedruckt, die Verbrauchsmaterialien sind im Koffer. Der Einsatz für Zahnärzte ohne Grenzen in Praia kann beginnen. In der dortigen Poliklinik steht uns ein Arbeitsraum zur Verfügung.

14.3.2016: Der erste Arbeitstag - die Patien­ten gehören nicht zu den reichen Bevölkerungsschichten. Ob sie alle arm sind, ist schwer zu beurteilen. Alle sind aber sehr freundlich und ge­duldig. Die chinesischen Behandlungseinheiten sind störanfällig, aber nach einem Tag hat man verstanden, wie sie funktionieren (sollen). Dra. Elisabeth, die kapverdische Zahnärztin, geht uns zur Hand und orga­nisiert die Patientenaufnahme.

Die chinesischen Behandlungseinheiten haben ihre Tücken: "ein" ist eigentlich "aus"

Wir sind nach Aussage des zahnärztlichen Koordinators der Kapverden, Dr. Fernandes, die letzte Gruppe, die in Praia im Stadtteil „Tira Chapeu“ arbeitet. Nach unserem Aufenthalt wird die gesamte Ausrüstung in ein Ge­sundheitszentrum im Inneren der Insel Santiago verlagert. Nach weiteren drei Monaten wird erneut der Standort gewechselt, so dass alle zehn kapverdischen Inseln innerhalb von fünf Jahren allmählich "abgeklappert" werden. Auf vier In­seln gibt es derzeit keinerlei zahnmedizinische Versorgung.

15.3.2016: Die transportablen chinesischen Behandlungseinheiten haben ihre Tücken, aber mit etwas technischem Verständnis bekommt man sie immer wieder zum Laufen. Man muss nur erkennen, dass der Techniker die Anschlussleitungen teilweise vertauscht hat, so dass "ein" eigentlich "aus" ist - und umgekehrt. Nach dem Tag in der Klinik haben wir uns heute noch Hausaufgaben mitgenommen: In sechs verschiedenen Kisten lagern Hunderte von Bohrern, die wir sortieren wollen.

17.3.2016:Christa hat von einem Patienten 1.000 Euro erhalten, um damit Not lei­dende Kinder zu unterstützen. Also haben wir Dra. Elisabeth gefragt, ob es auf den Kapverden Strukturen gibt, über die man so etwas ohne "Rei­bungsverluste" abwickeln kann. Der Zufall will es, dass direkt neben der Poliklinik "Tira Chapeu", in der wir arbeiten, das "Instituto Caboverdense da Crianca e do Adolescente" (ICCA, kapverdisches Institut für Kinder und Heranwachsende) seinen Hauptsitz hat. Das ist diejenige Behörde, die sich im Regierungsauftrag um Kinder und Jugendliche kümmert, die ent­weder behindert oder vernachlässigt sind.

18.3.2016: Dr. Fernandes, der nationale Koordinator für das kapverdische Zahnge­sundheitsprogramm, möchte auf den Kapverden gerne ein rudimentäres Fortbildungsprogramm für Zahnärzte ins Leben rufen. Ich habe ihm den Vorschlag gemacht, dass er mir für kapverdische Zahnärzte in­teressante Themen zusammenstellt, und mich bereit erklärt, mich in Deutschland um Referenten zu kümmern. Ich bin gespannt, ob sich qualifizierte Referenten finden, die bereit sind, ihr Wissen ohne Honorar, aber gegen Erstattung der Flug- und Hotelkosten an die kapverdischen Kollegen weiterzugeben.

3 Sack Reis, 4 Sack Bohnen, Windeln, 1 Kiste Seife, Kekse und Knackwürste

21.3.2016: Nach der Arbeit sind wir - wie abgesprochen-ins "Instituto Carbover­diense da Crianca e do Adolescente" (ICCA) gegangen und zusammen mit der Leiterin der Kinder-Notaufnahme zum Einkaufen gefahren. Die lange Einkaufsliste bestand im Wesentlichen aus Putzmitteln, Grundnahrungs­mitteln (3 Sack Reis, 4 Sack Bohnen, usw.), Windeln, Seife (1 Kiste), aber auch etwas "Luxus" wie Kekse und Knackwürste. Der Pick-up war bis oben hin voll, als wir zur Apotheke weiter fuhren und dort für den Rest des Geldes Schmerzmedikamente, Arznei gegen Durchfall und Vitamintabletten erstanden haben.

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50 Cent am Tag für jedes Kind

In der Kinder-Notaufnahme werden etwa 10 Säuglinge und ein halbes Dutzend behinderte Kinder neben etwa 45 verwaisten oder vernachlässigten Kindern versorgt, die alle zwischen Säugling und etwa 15 Jahren alt sind. Nach unserem Eindruck tut man für die Kinder das Mögliche, was aber bei einem Budget von weniger als 50 Cent pro Kind und Tag nicht allzu viel ist. Die paar Geschenke, die wir dabei hatten, waren schnell verteilt. Wir haben uns dann still verdrückt, als die Köchin Limonade und Kekse an die wuselige Rasselbande verteilt hat. Uns allen standen die Tränen in den Augen.

23.3.2016- letzter regulärer Arbeitstag: Mittlerweile haben wir den Eindruck, dass die Patienten, die wir behandelt haben, nicht alle zur Schicht der Ärmsten gehören: Gefärbte Haare, or­dentliches Schuhwerk, Sonnenbrillen und andere "Indizien" weisen darauf hin. Wer kommt, waren zunächst einmal die Krankenhausangestellten und ihre Angehörigen, dann auch Notfälle aus der Nachbarschaft, Marktfrauen vom in der Nähe gelegenen kleinen Lebensmittelmarkt, viele Patienten aus der unteren Mittelschicht, die irgendwie von unserer Arbeit erfahren haben, auch einige wirklich arme Patienten. Insofern kann man sagen, dass wir die Menschen, denen wir helfen wollen und sollen, nur zum Teil erreichen.

Haben wir das Recht, zu entscheiden, wem geholfen wird und wem nicht?

Aber: Ist jemand reich (und verdient keine kostenlose Hilfe), wenn er von 200 Euro seine Familie einen Monat lang über Wasser halten muss? Haben wir das Recht, selbst zu entscheiden, wem geholfen wird und wem nicht? Beide Fragen sind aus unserer Sicht zu verneinen, also haben wir unsere Fähigkeiten bei jedem eingesetzt, der sich auf den Be­handlungsstuhl gesetzt hat, gleichgültig, ob er "notleidend" oder "reich" oder irgend etwas dazwischen war. Ist unter diesen Voraussetzungen ein derartiger Hilfseinsatz sinnvoll? Ja, wenn man die hiesigen Lebensum­stände akzeptiert, wenn man sich eingesteht, dass die eigene Arbeit der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein ist und das Verändern der kap­verdischen Lebensumstände nicht unsere Aufgabe ist.

24.3.2016: Wir haben mehr als 200 Patienten behandelt, dabei etwa 100 Zähne gezogen und 200 Füllungen gelegt, 120 Mundbefunde erhoben, 50 mal Zahnstein entfernt, je ein halbes Dutzend Osteotomien und Wurzelbehandlungen durchgeführt und bei 12 Kindern Fissuren versiegelt. An der Gruppenprophylaxe haben etwa 80 Kinder teilgenommen. Nie­mand von uns schließt aus, dass wir noch mal auf die Kapverden fahren könnten. Aber jetzt müssen die vielen Eindrücke, Erkenntnisse und Erfahrungen erst einmal verarbeitet werden. Und keiner von uns möchte die Erlebnisse der letzten zwei Wochen missen.

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