Autobiografie

Der Zahnarzt von Günter Grass

sf
Gesellschaft
Dr. Anatol Gotfryd behandelte in seiner West-Berliner Privatpraxis am Lehniner Platz Maler, Schriftsteller und andere Intellektuelle. Zu seinen Patienten zählten Günter Grass, Harald Juhnke und Heiner Müller. Über sein turbulentes Leben hat er jetzt ein Buch geschrieben.

Nach

"Der Himmel in den Pfützen. Ein Leben zwischen Galizien und dem Kurfürstendamm"

(Quintus Verlag 2005) veröffentlichte Dr. Anatol Gotfryd nun seine zweite Autobiografie. In

"Der Himmel über Westberlin. Meine Freunde, die Künstler und andere Patienten"

nimmt er den Leser mit auf die Reise in eine besonders außergewöhnliche Zahnarzt-Vergangenheit.

Zu Beginn erzählt er von seiner komfortablen Kindheit im äußersten Südosten Polens. Die detaillierte und zugleich kompakte Beschreibung dieser Lebensphase lässt erahnen, wie intensiv er durch diese Zeit im Kreise seiner großen jüdischen Familie geprägt wurde.

Nur schlaglichtartig erfährt man, dass die Nazis auch seine Familie fast ausgelöscht hätten. In einer Szene befindet sich der junge Gotfryd auf einem Transport in ein Vernichtungslager. Ohne ins Detail zu gehen, erwähnt der Autor, dass er vor dem Eintreffen in das Lager in der Nacht zum 11. Oktober 1942 aus "dem Waggon entkam". Er stößt auf einen ukrainischen Soldaten, der - statt ihn zu erschießen - ihn laufen lässt. In einer weiteren Szene versteckt sich der Autor in einem kleinen Raum hinter einer Spiegeltür eines Badezimmers, wo ihn ein deutscher Kripo-Chef versteckt hält, während im Wohnzimmer SS-Leute Silvester feiern.

Der autoritäre Sexappeal kommt nicht an

Auch sein Zahnmedizinstudium streift er nur mit wenigen Anekdoten, die im Kopf Bilder von einem zerstörten Breslau erzeugen, das damals den schönsten Hörsaal Europas vorweisen konnte. Hängen bleiben beim Leser auch die Avancen der Dozenten, Oberärzte und Professoren gegenüber seiner späteren Frau Danka. Gotfryd musste sich demnach "gewaltig anstrengen, um alle Wettbewerber auf Distanz halten". Sie hatte "Formgefühl und Schönheitssinn, was in der Eintönigkeit des sozialistischen Alltags wie ein Gruß aus einer fernen Welt auf mich wirkte. Auf andere aber auch". Die Herren setzen, so Gotfryd ihre "Autorität als Sexappeal" ein - vergeblich.

100 Patienten am Tag

In den nächsten Etappen lebt Gotfryd bereits in seiner Wahlheimat Berlin, für die er sich entschieden hatte, weil er neugierig war auf die Deutschen, mutmaßend, dass nicht in jedem von ihnen ein Nazi stecken würde. Er schildert die harten Anfangsjahre: 1958 behandelte er bis zu 100 Patienten täglich! Dabei arbeitet er als Ausländer quasi heimlich und gering bezahlt in den Praxen mit. 1958/59 wird er nach eineinhalb Jahren Bangen eingebürgert - dank des persönlichen Engagements des damaligen Leiters der Rechtsberatung an der Freien Universität Berlin.

Bei der US-Army: von der Knappheit zum Überfluss

Geprägt wurde er auch durch seine Zeit im Krankenhaus der US-Army, wo statt Nachkriegsknappheit Überfluss herrschte: Regelmäßige Fortbildungen durch Koryphäen der US-Zahnmedizin, der üppige Lebensstil der Alliierten, die ausschweifenden Abende bei US-Kollegen und die gemeinsamen Ausflüge nach Ost-Berlin waren hier Alltag. Bat der Zahnarzt seinen Assistenten beispielsweise um einen Kaffee, kam der mit einem Tablett voll über und über mit Zuckerperlen dekoriertem Kuchen zurück.

In der Zahnklinik: zwischen Misstrauen und Eitelkeiten

Im krassen Gegensatz zur Zeit im US-Krankenhaus steht Gotfryds Zeit an der Zahnklinik der Freien Universität Berlin. Zentral nimmt er die Befangenheit einzelner Dozenten gegenüber seinen jüdischen Wurzeln wahr, die bis zum damaligen Leiter der Klinik, Prof. Ewald Harndt, reicht, der ihn gleichwohl als Kollegen sehr schätzt. Der Leser bekommt ein Gefühl für den Mikrokosmos Universitätszahnklinik, mit all seinen Dogmen, Eitelkeiten, Affären, Misstrauen und vorherrschenden Lehrmeinungen. Die Abende bei den Dozenten bezeichnet der Autor - ganz anders als bei den amerikanischen Kollegen - als "förmlich und karg".

"Gute Ohren sind für Zahnärzte, die Künstler behandeln viel wichtiger als eine leichte Hand"!

Vielleicht war es schließlich diese Enge der Zahnklinik, die Gotfryd schließlich in die eigene Praxis trieb, die er, nach kurzer Zeit als Vertragszahnarzt, nur noch als Privatpraxis betrieb. Und vielleicht fanden sich deshalb die Künstler bei ihm ein. Er und seine Frau Danka hatten den berühmten Patienten nicht nur eine ausgezeichnete Behandlung zu bieten, sie nahmen sich auch Zeit. Mit anderen Worten: Sie hörten zu. "Gute Ohren sind für Zahnärzte, die Künstler behandeln viel wichtiger als eine leichte Hand", schreibt er an einer Stelle im Buch.

Gotfryd richtete einen eigenen Aufenthaltsraum in seiner Praxis ein, wo Grass und andere Künstler zeichnen oder schreiben konnten. Grass schenkte dem Zahnarzt den Vorabdruck des Butt-Romans; Harald Juhnke ließ sich hier - auch für die TV-Show "Musik ist Trumpf" - die Zähne von Gotfryd sanieren; Heiner Müller kam eigens aus Ost-Berlin angereist. Und alle verewigten sich in seinem Praxistagebuch. Mit vielen verband Gotfryd auch eine Freundschaft.

Zwischen verzaubernden Gobelins

Wenn Gotfryd allerdings darlegt, wie er stundenlang im Pariser Museum Cluny umher schlendern kann, "zwischen den mich verzaubernden Gobelins", könnte das jene Leser, die das zügige Tempo der Zeitreise durch die Vergangenheit zuvor schätzten, ausschweifend vorkommen mögen. Langatmig ist das Buch trotzdem nicht.

Immer wieder bricht der Autor mit Ort und Zeit, zieht weiter, beginnt von Neuem, erzeugt Spannung und verwebt den Augenblick mit Momenten aus der Vergangenheit. Was dem Leser stets bewusst sein muss: Das Feuerwerk der Episoden ist nur ein kleiner Auszug aus dem Leben des Zahnarztes Anatol Gotfryd, das sich wohl im Ganzen betrachtet noch deutlich facettenreicher darstellt. Was das Buch jedenfalls zu einer dankbaren Lektüre macht, ist die feine Wortwahl, die den Leser durchgehend erfreut und deren Qualität erstaunt, wenn man bedenkt, dass Deutsch nicht Gotfryds Muttersprache ist. Offensichtlich hat der Wahlberliner mehr Talente, als geschickter Zahnarzt und Freund der Künstler zu sein.

Aus: "Anatol Gotfryd: Der Himmel über Westberlin. Meine Freunde, die Künstler und andere Patienten", Quintus-Verlag Berlin 2017, ISBN-10: 3945256909 ISBN-13: 978-3945256909

Melden Sie sich hier zum zm Online-Newsletter an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Online-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm starter-Newsletter und zm Heft-Newsletter.