Ungelöster Mordfall am Landgericht Aschaffenburg

Zahnärztliches Gutachten ist "wertlos"

silv
Gesellschaft
Spektakuläre Wende in Aschaffenburg: Bis vergangenen Freitag stand ein 57-Jähriger vor Gericht, dem angelastet wurde, vor 40 Jahren ein Mädchen getötet zu haben. Eine Bisswunde galt als sicherer Beweis. Nun wurde er aus der U-Haft entlassen: Das zahnärztliche Gutachten sei "wertlos".

Jahrzehntelang blieb der Fall, der Ende der 1970er-Jahre die Aschaffenburger monatelang bewegt hatte, ungelöst. Nun wurde er im Zuge von Cold Case-Ermittlungen wieder aufgerollt. Ein wichtiger Punkt des Indizienprozesses war das zahnärztliche Gutachten, das jetzt überraschend vom Gericht angezweifelt wird.

Am 18. Dezember 1979 war die 15-jährige Christiane J. auf dem Heimweg von ihrem Stenografie-Kurs überfallen worden. Der Täter brachte sein Opfer in den Aschaffenburger Schlosspark, wenige Tage später wurde die Leiche des Mädchens gefunden. Der Nachbarsjunge Norbert B., heute 57 Jahre alt, geriet schon damals ins Visier der Ermittler, aber die Beweise reichten nicht aus, um ihm den Prozess zu machen. Die Leiche wies unter anderem eine Bisswunde im Bereich der rechten Brust auf, das Opfer wurde erwürgt.

Die Bisswunde gilt als wichtiges Indiz

Diese Bisswunde wurde bei der Wiederaufnahme der Ermittlungen zu einem zentralen Indiz für die mögliche Täterschaft von Norbert B. Der Prozess hatte am 9. Januar begonnen, das Urteil war für den 6. Februar geplant. Die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, da der mutmaßliche Täter zum Zeitpunkt der Tat minderjährig war. Für eine mögliche Verurteilung kommt laut Gericht nur Mord als Straftatbestand in Frage, da alle anderen möglichen Straftatbestände wie zum Beispiel Totschlag verjährt sind. Dem Angeklagten drohte zu Prozessbeginn nach Jugendstrafrecht eine Höchststrafe von zehn Jahren - außer das Gericht würde eine besondere Schwere der Schuld feststellen.

Zahlreiche Widersprüche machen das Gutachten wertlos

Im Auftrag des Landgerichts Aschaffenburg erstellte die zahnmedizinische Sachverständige Dr. Gabriele Lindemaier vom Institut für Rechtsmedizin der LMU München ein zahnmedizinisches Gutachten. Sie hatte das Gebiss des Angeklagten mit der beim Opfer vorgefundenen, fotografisch gesicherten Bissspur verglichen und ausgesagt, mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" sei die 15-Jährige durch die Zähne des Angeklagten verletzt worden.

Jetzt attestiert das Landgericht Aschaffenburg Lindemaier schriftlich in einer Pressemitteilung: „Dieses zahnmedizinische Gutachten ist nunmehr aufgrund zahlreicher und von der Sachverständigen nicht entkräfteten Widersprüche ‚wertlos‘ und nicht geeignet, um als Grundlage für Feststellungen zum Nachteil des Angeklagten in Bezug auf die Urheberschaft der Bissspur zu dienen.“

Die Kritik des Gerichts

Das Landgericht Aschaffenburg hatte die Sachverständige  Dr. Gabriele Lindemaier im Nachgang zu der ersten Anhörung erneut geladen, um offene Fragen zu klären. In einer ungewöhnlich langen Erklärung erläuterte das Gericht mit, dass es wiederholt selber verschiedene Anstrengungen unternommen habe, um an weitere zahnärztliche Unterlagen und Lichtbilder der Bissspur zu gelangen, um die gutachterlichen Feststellungen der zu überprüfen.

Die Festlegung der Gutachterin, dass es sich bei der Bisspur mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um das Gebiss des Angeklagten handelte“, sei von Anfang an ein wesentliches Indiz für die Bestätigung des dringenden Tatverdachts gewesen.

Gerichtssprecher Ingo Krist macht deutlich: „Die Gutachterin hat mit großer Bestimmtheit angegeben, dass eine Kompatibilität vorliegt. Das Gericht zweifelt die Verwertbarkeit des Gutachtens an, was gleichzeitig aber nicht bedeutet, dass es in jedem Punkt zwingend falsch sein muss.“ Auf Nachfragen des Gerichts habe Lindemaier ihre Punkte laut Krist „nur geringfügig revidiert“. Er sagt: „Die Unstimmigkeiten kann sie nicht wirklich erklären.“

Zweifel an Lindemaiers Gutachten tauchten auf, nachdem das Gericht Röntgenbilder des Gebisses des Angeklagten aus dem Jahr 1997 begutachtete. Krist: „In Zusammenschau mit den herangezogenen historischen zahnmedizinischen Krankenunterlagen des Angeklagten habe sich aus den Bildern ergeben, dass es zumindest im Jahr 1997 und damit wohl auch im Jahr 1979 beim Angeklagten noch den Zahn '4-4' gegeben habe. Die Sachverständige hingegen hatte in ihrer ersten Anhörung angegeben, dass es eine vermeintliche individualspezifische Besonderheit des Gebisses des Angeklagten sei, dass eben dieser Zahn '4-4' genetisch gar nicht angelegt gewesen sei.“

Einen weiteren Widerspruch erkannte das Gericht in folgendem Sachverhalt: "Den Zahn '4-5' hatte die Sachverständige im heutigen Gebiss als existent betrachtet, während sich aus zahnärztlichen Unterlagen die Extrahierung dieses Zahnes ergebe. Die Kammer zeigte darüber hinaus weiter von der Sachverständigen nicht aufklärbare Widersprüche auf. Dass diese am Ende im Wesentlichen bei ihrem Wahrscheinlichkeitsurteil verbleiben wollte, stieß bei der Kammer auf Unverständnis. Die Sachverständige hatte ihr Gutachten erstmals bereits am vierten Verhandlungstag erstattet dabei angegeben, dass die am Oberkörper des Opfers aufgefundene Bissspur ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ kompatibel sei zu dem Gebiss des Angeklagten. Diese Einschätzung, so die Kammer, sei von Anfang an ein wesentliches Indiz für die Bejahung des dringenden Tatverdachts gewesen. Dies könne nun nicht mehr aufrechterhalten werden.“

Und weiter: „Die Kammer hatte bereits am 10. Verhandlungstag angekündigt, die Frage der Haftfortdauer von Amts wegen zu prüfen, nachdem zuvor die von der Kammer erneut geladene zahnmedizinische Sachverständige Dr. Gabriele Lindemaier vom Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München nochmals intensiv über drei Stunden lang angehört worden war. Die Kammer war im Anschluss hieran zu dem Ergebnis gelangt, dass dieses zahnmedizinische Gutachten nunmehr aufgrund zahlreicher und von der Sachverständigen nicht entkräfteter Widersprüche ‚wertlos‘ und nicht geeignet sei, um als Grundlage für Feststellungen zum Nachteil des Angeklagten in Bezug auf die Urheberschaft der Bissspur zu dienen.“

Dabei schien sowohl die Indizienlage als auch das zahnärztliche Gutachten plausibel. Anhand der Bisswunde sollte mit einem Abgleich des Gebisses des Angeklagten dessen mögliche Schuld im Indizienprozess belegt werden. Nun erklärte der Gerichtssprecher detailliert, warum das Gutachten nicht mehr als Indiz verwendet werden kann.

Der Haftbefehl - ohne Auflagen aufgehoben

„Der Haftbefehl ist ohne weitere Auflagen aufgehoben worden“, erläutert Gerichtssprecher Ingo Krist die daraus resultierenden Folgen gegenüber zm-online. „Die Kammer wird bis in alle Tiefe prüfen, wie nun vorgegangen wird. Es ist möglich, dass der Angeklagte aufgrund der Bissspur als Täter völlig ausgeschlossen werden kann.“

Dies würde bedeuten, dass das zahnmedizinische Gutachten am Ende genau das Gegenteil von dem bewirkte, was es ursprünglich bestätigen sollte. Der nächste Prozesstag ist für den 17. Februar anberaumt. „Es ist zwingend, dass ein Strafprozess binnen drei Wochen fortgesetzt wird“, erläutert Krist.

Der bisher Hauptverdächtige bleibt im Fokus, möglicherweise werden nun mehr Zeugen als ursprünglich geplant gehört und auch ein neues zahnmedizinisches Gutachten angefordert. Die Gutachterin Gabriele Lindemaier sagt gegenüber zm-online: „Vor der Urteilsverkündung sage ich gar nichts.“

Im Verlauf der Ermittlungen tauchten sowohl 1979 als auch bei der Wiederaufnahme dahingehend Unstimmigkeiten auf, dass ein Polizist eine Spur damals nicht verfolgte und nun, 40 Jahre später, angab, sich an Details nicht mehr erinnern zu können.

silv
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