"Das ist die Diktatur der Mehrheit!"

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Der Bundestag hat das Tarifeinheitsgesetz beschlossen. Doch was bedeutet das eigentlich? Sind kleine Gewerkschaften wie zum Beispiel Rudolf Henkes Marburger Bund künftig machtlos? Wir haben den MB-Chef gefragt.

1. Befürworter argumentieren, das Gesetz veranlasse Gewerkschaften in Tarifauseinandersetzungen dazu, sich erstmal abzusprechen, so dass nicht mehrere Tarifverträge für eine Berufsgruppe abgeschlossen werden. Was halten Sie von dieser Begründung und wie wollen Sie diese sogenannte Tarifkollision verhindern?

Rudolf Henke:Das Gesetz schafft ein Zwei-Klassen-System von Gewerkschaften: Die mitgliederstärkere Gewerkschaft sitzt am längeren Hebel und entscheidet allein darüber, ob sie der kleineren Gewerkschaft eine Kooperation anbietet oder ob sie von der unbeschränkten Möglichkeit Gebrauch macht, möglichst ungestört mit den Arbeitgebern Tarifverträge zu vereinbaren.

Selbst wenn es eine Art Absprache zwischen den Gewerkschaften geben sollte, kann die Mehrheitsgewerkschaft jederzeit ihre Zusagen zurückziehen und die alleinige Tarifhoheit beanspruchen.

Das ist keine Kooperation auf Augenhöhe, sondern immer mit der Drohung verbunden, die kleinere Gewerkschaft dem Mehrheitswillen der größeren zu unterwerfen.

Was die sogenannte Tarifkollision angeht: Es gibt keine Probleme bei der Anwendung von Tarifverträgen des Marburger Bundes, auch wenn es daneben noch einen anderen Tarifvertrag gibt, der sich an alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst richtet. Diese Tarifpluralität ist der verfassungsrechtlich vorgesehene Normalfall und nicht der Zwang zur Tarifeinheit.

2. Arbeitsministerin Andrea Nahles und die Arbeitgeberverbände sagen sogar, am Ende werde durch das Gesetz die Tarifautonomie - also das unabhängige Aushandeln von Löhnen und Arbeitsbedingungen durch Gewerkschaften und Arbeitgeber - in Deutschland gestärkt. Was ist Ihre Meinung?

Das Gegenteil ist richtig. Das Tarifeinheitsgesetz zerstört die autonome Gestaltungsmacht von Gewerkschaften, die berufsspezifisch agieren. Wir als Marburger Bund vertreten angestellte Ärztinnen und Ärzte und sind deshalb Branchengewerkschaften strukturell unterlegen, wenn es zur Mehrheitsfeststellung im Betrieb kommt.

Ärzte stellen etwa 15 Prozent der Beschäftigten eines Krankenhauses. Selbst wenn alle Ärzte eines Krankenhauses bei uns Mitglied wären, braucht Verdi nur jeden fünften Beschäftigten im Betrieb zu vertreten und ist dann Mehrheitsgewerkschaft. Wenn nur noch der Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft zur Geltung kommt und unser Tarifvertrag verdrängt wird, sind wir als Gewerkschaft massiv beeinträchtigt und können bestenfalls am Katzentisch Platz nehmen.

Das ist keine Tarifautonomie mehr - das ist die Diktatur der Mehrheit. Grundrechte wie die Koalitionsfreiheit gelten aber auch für Minderheiten und sind in diesem Fall sogar ausdrücklich „für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“. So steht es in Artikel 9 des Grundgesetzes.

3. Welche Folgen hat das Gesetz für die angestellten Ärzte und für den MB?

Wir müssen zunächst einmal abwarten, was nach Inkrafttreten des Gesetzes passiert. Bis dahin muss ja auch noch der Bundespräsident prüfen, ob er das Gesetz für verfassungskonform hält. Dann kommt es darauf an, wie sich die verschiedenen Akteure im Tarifgeschäft verhalten.

Vielen ist überhaupt nicht klar, dass vor allem der Arbeitgeber alle Trümpfe in der Hand hat. Nicht nur die Gewerkschaften, auch der Arbeitgeber kann auf der Grundlage des Tarifeinheitsgesetzes eine Mehrheitsfeststellung beim Arbeitsgericht beantragen und bis dahin Tarifverhandlungen zurückstellen.

Das Ergebnis der Mehrheitsfeststellung ist für den Arbeitgeber gleich in doppelter Hinsicht wertvoll: Er braucht nur noch Tarifverhandlungen mit der größeren Gewerkschaft führen und erfährt gleichzeitig, wie es um die Mitgliederstärke der Gewerkschaften in seinem Betrieb bestellt ist.

Für uns als MB kann die Mehrheitsfeststellung bedeuten, dass unser Tarifvertrag verdrängt wird. Das hängt aber auch davon ab, wie lange das Gesetz überhaupt Wirkung entfalten kann. Es sind ja schon Verfassungsbeschwerden angekündigt. Auch wir als MB werden unsere Verfassungsbeschwerde nach Karlsruhe senden, sobald das Gesetz im Bundesgesetzblatt steht.

Die Fragen stellte Claudia Kluckhuhn.

Der Marburger Bund ist die gewerkschaftliche, gesundheits- und berufspolitische Interessenvertretung aller angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. "Mit rund 117.000 Mitgliedern sind wir die einzige tariffähige Ärztegewerkschaft in Deutschland und Europas größte Ärzte-Organisation mit freiwilliger Mitgliedschaft", heißt es auf der Homepage des MB. Die Gewerkschaft organisiert sich in 14 Landesverbänden, die im Bundesverband zusammengeschlossen sind. Im Mittelpunkt der Interessenvertretung stehen "unter anderem der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und leistungsgerechte Vergütung in Krankenhäusern, die Karriereförderung von Ärztinnen und der Einsatz für eine praxisnahe Medizinerausbildung".

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