Interview mit dem Exekutivdirektor des Weltzahnärzteverbands FDI

„Ein entscheidender Schritt für die Anerkennung von Munderkrankungen für die öffentliche Gesundheit”

pr
Der FDI-Exekutivdirektor Enzo Bondioni wertet es als großen Erfolg, dass die Weltgesundheitsorganisation die „Globale Strategie für Mundgesundheit“ verabschiedet hat. Im Gespräch erklärt er, warum.

Herr Bondioni, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ein Strategiepapier zur globalen Mundgesundheit verabschiedet. Warum ist das aus Sicht des Weltzahnärzteverbandes FDI so wichtig?Enzo Bondioni:Die FDI begrüßt den Entwurf der WHO für eine globale Strategie zur Mundgesundheit. Für uns ist dies ein entscheidender Schritt, um die Bedeutung von Munderkrankungen für die öffentliche Gesundheit weltweit anzuerkennen. Das Vorgehen zeigt auch, dass bei der WHO der politische Wille vorhanden ist, Themen der Mundgesundheit insgesamt anzugehen.

Das Zukunftsbild der aktuellen WHO-Strategie stimmt auch vollständig mit unserer FDI-Vision 2030 überein. Darüber hinaus bezieht sich die Strategie auch auf die bestehenden WHO-Programme mit den drei Elementen der universellen Gesundheitsversorgung (Universal Health Coverage, UHC): Qualität, gerechter Zugang und finanzieller Schutz.

Gibt es Themen aus Sicht der FDI, die die WHO in ihrem Papier noch weiter aufgreifen und vertiefen sollte? Und warum?Einige der wichtigsten Themen, die unserer Ansicht nach noch berücksichtigt werden müssen, sind: Das neue strategische Ziel für Arbeitskräfte im Gesundheitswesen muss sich mit der Frage befassen, wie die derzeitigen Vergütungsmodelle für Anbieter von Mundgesundheit reformiert werden können, um eine Verlagerung hin zur Prävention in der Mundgesundheit zu fördern. Zweitens sollte hervorgehoben werden, dass eine schlechte Mundgesundheit als Risikofaktor für andere nichtübertragbare Krankheiten (NCDs) gilt, da sie einen Einfluss auf die Allgemeingesundheit haben kann.

Und drittens sollten die Angaben in dem Strategiepapier über die weltweite Prävalenz von Lippen- und/oder Gaumenspalten geändert werden – das ist vor allem global betrachtet ein wichtiges Anliegen im Hinblick auf die Versorgung. Die Angaben sollten auf „etwa 1 von 700 Lebendgeburten mit beträchtlichen ethnischen und geografischen Unterschieden” geändert werden, da von dieser Prävalenz auszugehen ist, wenn man ganz allgemein die Belastung durch Lippen- und Gaumenspalten sowie Lippen-Kiefer-Gaumenspalten berücksichtigt. Es sollte nicht 1 von 1.500 Geburten sein, wie derzeit angegeben. Das wäre von der Realität zu weit weg.

Was hat die FDI getan, um sicherzustellen, dass ihre Forderungen bei der Entwicklung der Mundgesundheitsstrategie berücksichtigt werden?Als nichtstaatlicher Akteur, der offizielle Beziehungen zur WHO unterhält, können wir Erklärungen an den Exekutivrat und die Weltgesundheitsversammlung richten. Wir nutzen diese Gelegenheiten, um unserer Stimme Gehör zu verschaffen. Als Reaktion auf den Aufruf zur öffentlichen Konsultation über den Entwurf der globalen WHO-Strategie für Mundgesundheit haben wir als FDI zusammen mit 65 Organisationen im September 2021 eine gemeinsame Stellungnahme eingereicht, in der wir unsere wichtigsten Anliegen und Forderungen dargelegt haben.

Dort hatten wir beispielsweise die Aufnahme eines neuen strategischen Ziels zum Thema (Mund-)Gesundheitspersonal gefordert. Dies geschah im Hinblick darauf, dass komplexe und umfassende Maßnahmen notwendig sind, um das Gesundheitspersonal so fortzubilden, dass es die Mundgesundheitsbedürfnisse der Menschen auch adäquat erfüllen kann. Unsere Forderung wurde berücksichtigt. Glücklicherweise enthält der letzte Entwurf, der dem WHO-Exekutivrat im Januar 2022 vorgelegt wurde, jetzt ein solches Ziel.

Was kann eine globale Mundgesundheitsstrategie konkret erreichen – und was davon ist tatsächlich in den einzelnen Ländern auch umsetzbar?Diese nun zur Abstimmung durch die Weltgesundheitsversammlung vorliegende WHO-Strategie wird in die Entwicklung eines weltweiten Aktionsplans für Mundgesundheit einfließen. Dazu gehören auch Vorgaben, um Fortschritte in der Mundgesundheit nachzuvollziehen – mit klaren, messbaren Zielen, die bis 2030 erreicht werden sollen.

Es besteht auch Einigkeit darüber, dass die Mundgesundheit fest in die WHO-Agenda für nichtübertragbare Krankheiten eingebettet werden sollte und dass Maßnahmen zur Mundgesundheit in Programme zur allgemeinen Gesundheitsversorgung aufgenommen werden sollten. Das alles bietet der FDI und ihren fast 200 Mitgliedsorganisationen weltweit die Möglichkeit, Strategien in ihren Ländern mitzugestalten und zu unterstützen – und Regierungen bei der Erreichung der Mundgesundheitsziele in die Verantwortung zu nehmen.

Welche Länder profitieren am meisten davon - und wo liegen die Probleme?Jedes Land kann von der Mundgesundheitsstrategie und den Möglichkeiten, die sich aus den Folgemaßnahmen ergeben, profitieren. Wie in der Vision 2030 der FDI dargelegt, gibt es jedoch länder- und regionalspezifische Unterschiede. Hinzu kommen Unterschiede bei den Gesundheitsprioritäten und bei den verfügbaren Ressourcen in den einzelnen Ländern. Daher kann es keine Einheitslösung für alle geben. Was uns jedoch alle eint, ist die globale Belastung durch Munderkrankungen, von der 3,5 Milliarden Menschen betroffen sind. Karies ist bei den bleibenden Zähnen die weltweit häufigste Krankheit. Wir sollten daher die Tatsache wertschätzen, dass die WHO-Mitgliedstaaten endlich die Notwendigkeit erkannt haben, sich mit der Mundgesundheit zu befassen.

Welchen Einfluss kann die WHO-Strategie auf die Politik haben?Die globale Strategie für Mundgesundheit und deren Folgemaßnahmen können dazu beitragen, das Bewusstsein auf Regierungsebene zu schärfen. Wir ermutigen alle unsere zahnärztlichen Mitgliedsorganisationen in fast 130 Ländern, die Strategie als politisches Druckmittel einzusetzen. Die Organisationen sollten sich mit ihren nationalen Ministerien und Chief Dental Officers (sofern vorhanden) in Verbindung setzen, um nationale Mundgesundheitsstrategien entsprechend den spezifischen Prioritäten ihres Landes zu entwickeln und bei den Regierungen entsprechende Aktivitäten einzufordern.

Die WHO-Einstufung der zahnärztlichen Verbände als Teil des privaten Sektors wird von der FDI stark kritisiert. Glauben Sie, dass die WHO diese Einstufung noch ändern wird?Die FDI und ihre nationalen Zahnärzteverbände sind keine privatwirtschaftlichen, sondern zivilgesellschaftliche, beziehungsweise nichtstaatliche Organisationen. Wir sind unabhängige, gemeinnützige Organisationen, die sich für die Mundgesundheit einsetzen, um die öffentliche Gesundheit zu fördern.

Die WHO hat uns immer als zivilgesellschaftliche Verbände anerkannt und nicht als privatwirtschaftliche Organisationen, die per Definition gewinnorientierte Unternehmen sind. Solche Fehleinstufungen können erhebliche Auswirkungen auf die Art und Weise haben, wie wir wahrgenommen werden. Sie müssen daher korrigiert werden, um unsere Unabhängigkeit und Objektivität zu wahren. Die FDI hat in ihrer Erklärung vor dem Exekutivrat der WHO im Januar darauf gedrängt, diese falsche Einstufung zu korrigieren, und wir werden uns auch weiterhin dafür einsetzen.

Enzo Bondioni ist seit April 2015 Exekutivdirektor des Weltzahnärzteverbandes FDI. Er hat über20 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit Nichtregierungsorganisationen im Gesundheitswesen und im Entwicklungssektor. Davor war er unter anderem Chief Operating Officer bei der International Osteoporosis Foundation und der World Heart Federation. Davor war er Leiter des Fundraising der Europäischen Kommission beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und wirkte mit bei Hilfsaktionen auf dem Balkan, in Afrika und Asien. Er ist Schweizer und italienischer Staatsbürger, spricht Französisch und Italienisch sowie fließend Englisch und Spanisch.

Die Fragen stellte Gabriele Prchala, die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte durch Roxana Dürsch, Referentin Europa/Internationales bei der Bundeszahnärztekammer in Brüssel.

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