Bohren gegen Gleichgültigkeit

Hanna Hergt
Zahnmedizin
Warum die Menschen in Westafrika noch an faulen Zähnen sterben und was Ebola für sie bedeutet, erzählt der schweizerische Zahnarzt Dr. Daniel Florin, der ehrenamtlich in Liberia, Sierra Leone und Guinea gearbeitet hat.

Sie arbeiten einen Monat pro Jahr als Zahnarzt in Afrika - wie sind Sie auf die Idee gekommen und was treibt Sie an? 

Dr. Daniel Florin : Anlässlich meines Praxisjubiläums 2007 wollte ich etwas Außerordentliches machen - und erinnerte mich an eine Idee aus meinen Studententagen, in der Entwicklungshilfe zu arbeiten. Über das Internet habe ich eine Hilfsorganisation gesucht, die mit Zahnärzten arbeitet, und bin auf Mercy Ships gestoßen. Dann habe ich mich dort gemeldet und mit Lebenslauf und Gesundheitsnachweisen beworben.

Die Organisation hat ihre Zentrale in Amerika und noch 15 weitere Büros auf der ganzen Welt, unter anderem in Deutschland, Südafrika oder China. Auf dem Hilfsschiff, das jedes Jahr andere Häfen in Afrika ansteuert, arbeiten Menschen aus über 40 Nationen, auch Augenärzte, Gynäkologen, Kieferchirurgen oder plastische Chirurgen, die den Menschen helfen - etwa bei einer Fehlstellung der Extremitäten, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten oder Blindheit.

Wöchentlich kommen neue Mitarbeiter an, andere gehen wieder nach Hause. Es ist eine unglaubliche logistische Leistung, den Betrieb auf dem und um das Schiff herum konstant aufrechtzuerhalten. Vom Kapitän bis zum Matrosen arbeiten alle freiwillig, auch die Reise nach Afrika und unsere Unterkunft auf dem Schiff bezahlen wir selbst.

Nach meinem ersten Einsatz in Liberias Hauptstadt Monrovia hat es mich gepackt! Mich hat zutiefst berührt, dass die Menschen in Afrika noch an faulen Zähnen sterben, wie bei uns im Mittelalter. Ich habe es so gut in der Schweiz, dass ich einen Monat im Jahr für andere Menschen erübrigen kann.

Sie haben auch in Sierra Leone, Liberia und Guinea gearbeitet - Ländern, in denen die Ebola-Epidemie noch immer wütet. Was erwartete Sie dort? Welche Eindrücke haben Sie aus diesen Ländern mitgebracht?

Tiefste Armut und absolut keine Infrastruktur, vor allem Liberia ist völlig chaotisch. Sierra Leone hat sich besser vom Bürgerkrieg erholt. Schule, Polizei und Militär funktionieren soweit. Aber auch dort sind die Lebensverhältnisse rudimentär, die Unterkünfte sehr einfach. Und natürlich herrscht überall Korruption. In Liberia wird die ganze Infrastruktur noch von den UNO-Truppen kontrolliert, Blauhelme kümmern sich etwa um die Checkpoints und den Verkehrsdienst. 

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Vor allem in den Städten leben die Menschen in einer völligen Verwahrlosung

Vor allem in den Städten leben die Menschen in einer völligen Verwahrlosung, sie hausen in Kartonhütten. Wenn es regnet, stehen diese halb unter Wasser und die Menschen schlafen auf den Tischen weiter. Die hygienischen Zustände sind katastrophal. Auf dem Land leben die Menschen zwar auch in einfachen Basthütten, aber in gewisser Distanz zueinander und viel gesünder. 

Was waren Ihre prägendsten Erlebnisse als Zahnmediziner?

In allen Ländern, in denen ich gearbeitet habe, konnte ich mit meiner zahnmedizinischen Tätigkeit Leben retten. Ich hatte mehrere Male Patienten, die mit riesigen Abszessen kamen, die schon die Atmung behinderten. Wir mussten diese dann vom Hals oder der Brust her eröffnen, um den Eiter abfließen zu lassen - und konnten den Patienten so wieder ein Leben ermöglichen. Die Leute haben massiv Karies und kaputte Zähne. In Guinea beispielsweise kommt es zu einem gewissen Aufschwung: Die Leute finden Arbeit und verdienen ein bisschen Geld, das sie auch für Süßigkeiten ausgeben. Und dieser Zivilisationserfolg zerstört die Zähne.

Ich mache mehrfach pro Tag Totalausräumungen

Ich mache mehrfach pro Tag Totalausräumungen - auch bei jungen Menschen. Wir beginnen mit einer rudimentären Prophylaxe, indem wir die Leute instruieren, wie und warum sie Zähne putzen sollen. Sie bekommen Zahnbürsten und Zahnpasta, die wir dann am Samstag auf dem Markt wiederfinden, wo sie gegen Handyguthaben oder Ähnliches eingetauscht werden. 

Die Zustände sind wie bei uns vor 80 Jahren. Nach dem Krieg zog man den jungen Frauen noch alle Zähne und machte Prothesen, um sie zahnarztfrei zu halten, wenn sie heirateten. Ich habe heute noch Patientinnen, denen das so ergangen ist. In den 60er-Jahren setzte bei uns die Prophylaxe ein, man zeigte den Kindern in Kindergärten und Schulen, wie sie Zähne putzen müssen oder welche Nahrungsmittel für die Zähne gefährlich sind, und zuckerfreie Süßigkeiten kamen auf den Markt. Damals litten 95 Prozent der Bevölkerung an Karies, heute sind 85 Prozent kariesfrei. Ein unglaublicher Fortschritt. Und diese westafrikanischen Länder stehen genau am Anfang dieses Prozesses.

Konnten Sie denn immer helfen?

In den meisten Fällen ja. Wenn die Erkrankungen ganz extrem waren, konnten wir die Patienten aufs Schiff nehmen und vom Kieferchirurgen in Vollnarkose behandeln lassen. Was immer möglich ist, versuchen wir in der Klinik in der Stadt zu machen, damit wir keine Infektionen aufs Schiff holen. Die Regierungen stellen uns ein Haus oder einen Raum zur Verfügung, wo wir uns mit mobilen zahnärztlichen Einheiten einrichten, von denen wir momentan neun haben. Drei bis vier Zahnärzte arbeiten gleichzeitig gemeinsam mit Hilfsassistenten, also Einheimischen und ausgebildeten Zahnarzthelferinnen aus der ganzen Welt. 

###more### ###title### 250 bis 300 Patienten pro Tag ###title### ###more###

250 bis 300 Patienten pro Tag

Wie viele Patienten behandeln Sie am Tag?

Insgesamt 250 bis 300 Patienten. Die Arbeit ist anstrengend, wir verfügen nur über eine einfache Ausrüstung: die mobilen Dentaleinheiten, eine Wasserpumpe und Liegestühle für die Patienten. Vor fünf Jahren bekamen wir eine neue Ausrüstung, mit der es sich zum Glück relativ gut behandeln lässt. Als ich in Liberia anfing, konnten wir quasi nur mit der Hand arbeiten, da fast alles kaputt war. 

Gibt es bei dieser Arbeit nicht auch Ängste, zum Beispiel in der Familie?

Am Anfang war die Angst da, ich könnte mich Gefahren aussetzen. Aber bei diesem Engagement ist das Risiko absehbar. Die Infektionsgefahren - wir haben viele Aids- oder Hepatitis-Patienten -, sind gering, wenn man die grundlegenden hygienischen Maßnahmen berücksichtigt und aufpasst, dass man sich nicht schneidet, sticht oder in die Hand bohrt. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist meistens der Durchfall. Anders sieht es allerdings mit Ebola aus - das ist eine Krankheit, die nicht beherrschbar ist und für uns eine unüberwindbare Gefahr darstellt.

Mercy Ships wird Ebola-Länder meiden

Sind in den Ebola-Ländern in näherer Zukunft überhaupt noch Einsätze geplant?

Die Organisation Mercy Ships wird Länder mit möglichen Ebola-Kranken meiden. Die Gefahr ist viel zu groß, dass wir uns anstecken. Wenn einer die Krankheit hat und auf das Schiff zurückkommt, dann sind alle in Gefahr. Ich vermute, dass die Organisation in den nächsten Jahren eher auf der Ostseite Afrikas bleiben wird. Auch mein geplanter Einsatz in Guinea im vergangenen Jahr war wegen der Ebola-Epidemie nicht möglich. Mercy Ships hatte sich dann kurzfristig entschieden, nach Madagaskar zu fahren, wo das Schiff noch bis zum Sommer bleiben wird. Was danach kommt, weiß ich noch nicht, ich stehe jetzt in Verhandlungen für einen Einsatz im Herbst. 

Für die betroffenen Staaten ist natürlich katastrophal, dass nun die dringend erforderliche Hilfe ausbleibt.

Das ist wirklich furchtbar - vor allem Liberia und Sierra Leone, die sich gerade von dem Bürgerkrieg erholt hatten, fallen jetzt wieder zurück in die Anarchie. Videos aus Monrovia und Freetown sind grauenerregend, dort liegen die Toten auf den Straßen - und niemand getraut sich, sie abzutransportieren. Ebola ist noch nicht ausgestanden, auch wenn die Fälle von Neuerkrankungen insgesamt zurückgegangen sind. Aber es gibt allein in Liberia noch immer 20.000 Infizierte und bereits 8.000 bis 10.000 Tote.

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Zahnärzte können dort nicht in voller Montur arbeiten

In diesen Ländern müssen nun speziell ausgebildete Leute helfen, die sich mit Infektionskrankheiten auskennen und entsprechend geschult sind. Zahnärzte können nicht in voller Montur arbeiten. Es ist zwischen 30 und 40 Grad heiß, Klimaanlagen gibt es nicht - das ist so schon kaum auszuhalten. 

Ebola hat die ohnehin labilen Gesundheitssysteme stark geschwächt. Können sich dort in den nächsten Jahren überhaupt neue Strukturen aufbauen?

Wegen Ebola sind die Leute aus den Gesundheitssystemen geflüchtet, da sie Angst haben, sich anzustecken. Wenn sich eine halbwegs ökonomische Stabilität entwickelt, dann könnten Gesundheitssysteme von außen etabliert und Ausbildungsstätten geschaffen werden. Aber das braucht bis zu zwei Generationen. 

In Sierra Leone gab es bereits vor der Ebola-Epidemie laut offizieller Statistik nur neun Zahnärzte für 5,8 Millionen Menschen. Damit ist der Mangel an Zahnmedizinern noch viel gravierender als jener an Ärzten. Warum ist die zahnärztliche Versorgung in diesen Ländern so schlecht?

Es gibt keine Ausbildungsstätten für Zahnärzte in Westafrika. Alle Zahnärzte, die ich in Sierra Leone angetroffen habe, hatten in Amerika oder England studiert und waren anschließend wieder zurück in ihr Land gegangen. Aber die meisten Afrikaner, die im Ausland studieren, bleiben dort. Das ist eine Abwanderung von gut ausgebildeten Leuten. 

Wir bilden auch Einheimische als Assistenten aus und bringen ihnen etwa bei, Zähne zu ziehen. Man schiebt den Stein an - und wenn man ihn loslässt, dann bleibt er wieder liegen. Es geht nicht vorwärts, es ist furchtbar.

Hatten Sie trotz allem den Eindruck, dass Sie etwas bewirken konnten? 

Den Patienten kann ich helfen, sie haben keine Schmerzen mehr. Aber am großen Problem, dass Afrika darbt und ziellos durch die Gegend wankt, lässt sich nicht viel tun. Die Entwicklungshilfe verpufft einfach. Der Kontinent ist gelähmt, die Menschen leben von einem Tag in den anderen und sind absolut gleichgültig. 

###more### ###title### Sie haben Berge von Prothesen und verwenden sie nicht. ###title### ###more###

Sie haben Berge von Prothesen und verwenden sie nicht.

Sie nehmen Hilfe von außen an, aber sie machen nichts daraus. In Sierra Leone gibt es zum Beispiel viele Menschen, denen die Rebellen im Bürgerkrieg Arme oder Beine abhackten, um sie daran zu hindern, an Wahlen teilzunehmen. Diese Amputierten leben in einem Quartier in Freetown. Es verging kein Tag, ohne dass eine Hilfsorganisation kam und ihnen Prothesen brachte. Kaum war sie weg, wanderten die Prothesen hinter die Hütte. Es ist unglaublich: Sie haben Berge von Prothesen und verwenden sie nicht. Denn sie wissen, dass wieder Hilfe kommt, von der sie profitieren können.

Wenn Sie ein Hilfsprojekt aufbauen wollen, dann müssen Sie stetig daneben stehen und immer wieder Druck machen, dass auch gearbeitet wird, dass die entsprechenden Geräte und Maschinen gepflegt werden, sonst funktioniert das nicht. 

Die Pharmariesen interessiert nicht, wenn 5.000 oder 10.000 Afrikaner sterben

Auch der Umgang mit Ebola hat die Grenzen der internationalen Hilfe aufgezeigt. Was hätte man tun können, um den großen Ausbruch der Seuche zu verhindern? 

Grundsätzlich ist viel zu spät reagiert worden. Ebola ist im Grenzgebiet von Guinea, Sierra Leone und Liberia aufgetreten. Zwischen den Ländern existiert ein reger Handel. Man hat die Migration der Menschen unterschätzt, es dauerte keine drei Wochen, da war Ebola schon in den Hauptstädten - in Conakry, Freetown und Monrovia - und somit unkontrollierbar. Man hätte von Anfang an die Dörfer, in denen die Krankheit aufgetreten ist, abschirmen und die Menschen entsprechend behandeln müssen. Und noch immer stehen keine Medikamente gegen diese Krankheit zur Verfügung, denn die Pharmariesen interessiert nicht, wenn 5.000 oder 10.000 Afrikaner sterben. Wenn ein Europäer krank wird, dann wird alles gemacht. Der Zynismus, der hier herrscht, ist grauenhaft. 

Trauen Sie denn zumindest den Impfstoffen zu, dass sie in Afrika erfolgreich gegen Ebola eingesetzt werden könnten?

Man müsste die ganze Bevölkerung impfen lassen - und wer soll das bezahlen? Die Pharmaunternehmen wollen Geld damit verdienen, die Länder können sich das schlicht nicht leisten. Im Moment wird die Strategie gefahren, die Pflegepersonen zu impfen, die mit Ebola-Kranken Kontakt haben. 

Die Erkrankung verläuft in der Hälfte der Fälle tödlich, also könnte letztlich die Hälfte der Bevölkerung sterben, der Rest wird überleben und dann immun gegen Ebola sein. Das klingt schrecklich, aber so war es früher auch mit der Pest in Europa.

Ein Hauptproblem auf unserer Welt ist die Überbevölkerung. Wenn sich die Bevölkerung stabilisieren würde, dann könnten wir an gewissen Orten nachhaltige Hilfe leisten. Aber die Leute in Afrika ziehen alle vom Land in die Stadt und leben dann in Anarchie. Sie verdienen sich ihr Geld mit irgendwelchen Gelegenheitsjobs oder Klauereien. Staatliche Hilfs- oder Gesundheitsprogramme können die Menschen gar nicht erreichen.

Die Fragen stellte Hanna Hergt, Diplom-Volkswirtin und Fachautorin.  

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