Aufsuchende Alterszahnheilkunde

Reduziert eine gute Mundhygiene das Pneumonie-Risiko?

Mundhygiene bei hochbetagten Senioren - das war lange Zeit ein Wasserglas auf dem Nachttisch, in dem die Zahnprothese mit der Reinigungstablette die Nacht verbrachte. Selten wurde der Mund gespült, die Mundschleimhaut oder gar die Zunge gesäubert. Heute haben selbst die ältesten Menschen immer mehr eigene Zähne, und die Reinigung eines voll- oder teilbezahnten Gebisses erfordert einen völlig anderen Ansatz.

Die heute üblichen, modernen Rekonstruktionen erfordern oft komplexe und zeitaufwendige Mundhygienemaßnahmen, besonders wenn Implantate verwendet wurden. Die Reinigung solcher „Hightech“- Prothesen übersteigt häufig die Kompetenz des Pflegepersonals in Heimen, aber auch die individuelle Bereitschaft eines Patienten, entsprechend viel Zeit und Aufwand in die Mundhygiene zu investieren. Die Senioren zeigen für ihre Mundhygiene oft wenig Motivation, besonders wenn zahlreiche chronische Krankheiten den Alltag dominieren. Hinzu kommt, dass ihre Geschicklichkeit, also die manuellen Fähigkeiten, und ihr Visus im Alter deutlich reduziert sind. Folglich ist nicht selten in den Mündern von alten und sehr alten Patienten eine erhebliche bakterielle Belastung zu finden, die ein hohes Risiko für Infektionen und Parodontalerkrankungen bedeutet.

Schon vor 20 Jahren haben Wissenschaftler aus Japan Bakterien aus dem Mund-Rachen-Darm-Trakt mit dem Auftreten einer Aspirationspneumonie in Verbindung gebracht. In Japan konnte dann auch nachgewiesen werden, dass bei wöchentlicher professioneller Mundhygiene weniger Lungenentzündungen auftreten [Yoneyama et al., 1999; Yoneyama et al., 2002]. Dieser Zusammenhang erfordert ein Umdenken hinsichtlich der Umsetzung der Mundhygiene bei Hochbetagten und Pflegefällen, als auch in Bezug auf deren Mundgesundheit, allgemeine Gesundheit und Lebensqualität.

Pneumonie – der häufigste Infektionstod bei Senioren

Lungenentzündungen stellen für die ältere Bevölkerung eine große Bedrohung dar, denn diese treten mit einer geschätzten Häufigkeit zwischen 25 und 44 Fällen pro 1.000 zu Hause lebende Senioren und von 33 bis 114 Fällen pro 1.000 Bewohner von Senioreneinrichtungen auf [Janssens et al., 2004]. Unterschieden wird die ambulant erworbene Pneumonie (CAP) von der im Pflegeheim erworbenen Pneumonie (NHAP).

Die Lungenentzündung ist mit einer Häufigkeit von 13 bis 48 Prozent die häufigste Infektion in Pflegeheimen und darüber hinaus die häufigste Todesursache durch Infektion im Alter von 65 Jahren und älter [El-Solh, 2011]. Die Mortalitätsraten von bis zu 48 Prozent müssen allerdings mit den Komorbiditäten, die im höheren Alter vermehrt auftreten, assoziiert werden [Welte et al., 2012].

Symptome, Pathogenese, Risikofaktoren:

Bei einer Lungenentzündung fühlen erwachsene Patienten sich in der Regel erschöpft und stark beeinträchtigt, leiden unter starkem Husten, oft verbunden mit eitrigem Auswurf, Fieber, Schwitzen sowie starken Schmerzen oder gar Erstickungsanfällen. Sehr alte Menschen zeigen diese klassischen Symptome oft nicht, sondern neigen eher zu Stürzen und Verwirrtheitszuständen [Janssens et al., 2004].

Eine Aspirationspneumonie wird durch Fremdmaterial ausgelöst, das über die Bronchien in die Lungen gerät. Meist handelt es sich um Speichel oder Nahrungsbestandteile, die aspiriert werden. Die Keime befinden sich im Speichel oder werden bei der Nahrungszerkleinerung aus dem Biofilm gelöst. Auch bei gesunden Erwachsenen kann während des Schlafes keimbeladener Speichel in die Bronchien gelangen. Gesunde Erwachsene haben aber Hustenreflexe, einen intakten Flimmerhaartransport, der Fremdkörper wieder aus den Bronchien entfernt, und eine gesunde Immunabwehr. Damit sind die Atemwege beim gesunden Patienten weitgehend geschützt. Mit zunehmendem Alter lässt jedoch nicht nur das Immunsystem, sondern auch die Funktion der Flimmerhaare nach, was alte und multimorbide Patienten anfälliger für eine Lungenentzündung macht.

Weitere Risikofaktoren für eine Aspirationspneumonie sind kognitive Einschränkungen, zum Beispiel nach einem Schlaganfall, oder andere Erkrankungen, die das Schlucken beeinträchtigen [van der Maarel-Wierink et al., 2011].

Ebenso gehören auch beatmete Patienten zur Risikogruppe für Pneumonien, unabhängig von ihrem Alter [Scannapieco et al., 2003]. Während eine prospektive Studie an 1.499 zu Hause lebenden Personen, die aufgrund einer Lungenentzündung hospitalisiert waren, zeigte, dass zehn Prozent an einer Aspirationspneumonie litten, lag der Prozentsatz bei weiteren 447 im Heim lebenden Pneumonie-Patienten bereits bei 30 Prozent [Shariatzadeh et al., 2006].

Die bakterielle Belastung älterer Patienten ist enorm

Bei einer bronchoalveolären Lavage hospitalisierter Pneumonie-Patienten konnten Parodontitis-assoziierte Mikroorganismen aus oralem Biofilm nachgewiesen werden [Imsand et al., 2002]. Quagliarello und Mitarbeiter beschrieben, dass eine schlechte Mundhygiene als einer der häufigsten Risikofaktoren für eine Pneumonie bei Pflegeheimbewohnern anzusehen ist [Quagliarello et al., 2005]. Von neun untersuchten modifizierbaren Risikofaktoren waren nur eine „unzureichende Mundhygiene“ [HR 1,60; 95 Prozent CI 1,06–2,35; P = 0,024] und „Schluckstörungen“ [HR 1,65; 95 Prozent CI 1,04–2,62; P = 0,033] signifikante Risikofaktoren für eine Aspirationspneumonie. Awano und Mitarbeiter berichteten, dass Patienten mit zehn oder mehr natürlichen Zähnen sowie parodontalen Sondierungstiefen 4 mm ein 3,9-fach erhöhtes Risiko haben, an einer Lungenentzündung zu sterben, als die Probanden, die keine parodontale Erkrankung hatten [Awano et al., 2008]. Erstaunlicherweise lässt sich das Risiko nicht durch die Extraktion der natürlichen Zähne vermeiden. Bei zahnlosen Patienten können die Keime beispielsweise im Zungenbelag sitzen, der ebenfalls als Risikoindikator für eine Aspirationspneumonie angesehen werden muss [Abe et al., 2008].

Wie viel hilft eine gute Mundpflege?

Wenn man davon ausgeht, dass die oralen Krankheitserreger die Ursache der Aspirationspneumonie darstellen, stellt sich die Frage, ob Mundhygienemaßnahmen zur Beseitigung des oralen Biofilms das Pneumonie-Risiko verringern können.

Nur wenige gut konzipierte randomisierte kontrollierte Studien haben die Auswirkung von  Mundhygienemaßnahmen auf das Auftreten von Lungenentzündungen untersucht [Kaneoka et al., 2015].

Eine der ersten Studien wurde von einer japanischen Gruppe durchgeführt und berichtet über 417 Bewohner in elf Pflegeheimen, bei denen eine Mundpflege-Gruppe einer Nicht-Mundpflege-Gruppe gegenübergestellt wurde [Yoneyama et al., 1999; Yoneyama et al., 2002]. Die Intervention belief sich auf fünf Minuten Zähneputzen nach jeder Mahlzeit sowie einer zusätzlichen wöchentlichen professionellen Mundhygiene.

Wo es als erforderlich angesehen wurde, wurde die Mundhöhle zusätzlich mit Povidonjodid ausgewischt. Während des Beobachtungszeitraums von zwei Jahren traten bei 34 von 182 Probanden der Gruppe ohne Mundpflege neue Pneumonieerkrankungen auf, hingegen sind im selben Zeitraum nur 21 von 184 Einwohnern, die die Mundhygienemaßnahmen erhalten hatten, an einer Lungenentzündung erkrankt. Weitere Studien mit anderen Fragestellungen und mit unterschiedlichen Interventionen haben diese Ergebnisse mehr oder weniger bestätigt [Adachi et al., 2007; Bassim et al., 2008]. So hat sich auch gezeigt, dass keimreduzierende Mundspüllösungen eine Abnahme des Auftretens von Atemwegserkrankungen bewirken und dass zusätzliche konsequente mechanische Mundhygienemaßnahmen diesen Effekt noch erheblich verbessern können [El-Solh, 2011].

Van der Mareel-Wiernik und Mitarbeiter empfehlen, dass Hochbetagte nach jeder Mahlzeit Zähne putzen sollten und dass die Reinigung herausnehmbarer Prothesen einmal täglich erfolgen sollte. Eine professionelle Mundhygiene – durch angelerntes Fachpersonal – wird einmal wöchentlich empfohlen, um die Häufigkeit einer Aspirationspneumonie zu reduzieren [van der Maarel-Wierink et al., 2013]. Eine systematische Übersichtsarbeit berichtet aufgrund von fünf RCTs, dass einer von zehn pneumoniebedingten Todesfällen bei älteren Pflegeheimbewohnern durch die Verbesserung der Mundhygiene verhindert werden könne [Sjogren et al., 2016].

Lässt sich das Problem „über Nacht“ lösen?

Toshimitsu Iinuma und seine Arbeitsgruppe aus Tokyo beschrieben erstmalig, dass sich das Risiko einer Aspirationspneumonie mehr als verdoppeln kann, wenn Hochbetagte ihre Zahnprothese während der Nacht tragen [Iinuma et al., 2015]. Das Besondere an diesem Ergebnis ist, dass sich dieser hohe Risikofaktor durch eine einfache und direkte klinische Empfehlung modifizieren lässt. Die Patienten können diese Prophylaxe selbst durchführen und es sind weder zusätzliches Pflegepersonal noch öffentliche Gelder erforderlich. Auch ermöglicht es den Patienten,

sich an der Infektionsprophylaxe aktiv zu beteiligen, selbst wenn sie manuell bereits sehr eingeschränkt sind oder sich ihre Sehkraft erheblich verschlechtert hat. Die Entscheidung, ob eine Prothese in der Nacht getragen werden sollte oder nicht, hat jedoch viele Facetten und besonders psychosoziale Aspekte spielen eine wichtige Rolle.

Die derzeit verfügbare Evidenz rechtfertigt die Empfehlung, herausnehmbaren Zahnersatz während des Schlafens nicht zu tragen, sondern ihn außerhalb des Mundes trocken zu lagern. So kann nicht nur das Risiko einer Prothesenstomatitis, sondern auch einer folgenschweren Pneumonie reduziert werden. Psychosoziale, funktionelle oder auch mechanische Aspekte können die hochbetagten Patienten jedoch dazu verleiten, ihre Prothese während des Schlafes doch zu tragen. In diesem Fall sollten die Patienten über die Wichtigkeit der Mundhygiene informiert werden, so dass die Prothesen eine möglichst geringe Keimbelastung darstellen. Die Risiken der Aspirationspneumonie mit möglicher Todesfolge sind umfangreich dokumentiert, obwohl nur wenige Studien den Zusammenhang mit der Mundhygiene herstellen. Die jetzt vorliegende Evidenz zur Rolle des nächtlichen Prothesentragens unterstreicht die Wichtigkeit des oralen Mikrobioms in der Pathogenese der Aspirationspneumonie und nimmt gleichzeitig Zahnärzte und Pflegepersonal von Altersheimen in die Pflicht, ältere Menschen zur Durchführung der Mundhygiene zu motivieren, sie zu kontrollieren und zu unterstützen. Ein sauberer und gesunder Mund ist nicht als „Wellness“ anzusehen, sondern ist integraler Bestandteil der allgemeinen Gesundheit und der Lebensqualität alter Menschen.

Prof. Dr. Frauke Müller,Ordinaria für Alterszahnmedizin und abnehmbare ProthetikUniversitätszahnkliniken Genf19, rue Barthélemy-MennCH 1205 Genf E-mail:Deutsche Übersetzung angelehnt an: [Müller, F. (2015) Oral hygiene reduces the mortality from aspiration pneumonia in frail elders. J Dent Res 94, 14S-16S.

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