Zahnarzt Dr. Torsten Strenger zur aufsuchenden Betreuung

„Man braucht einen Fahrstuhl. Mehr nicht.“

Wenn Marianne M. auf dem Behandlungsstuhl sitzt, gibt es immer was zu lachen. Die 98-jährige Demenzpatientin hat Humor und trägt eine perfekt angepasste und gepflegte Vollprothese. Zahnarzt Dr. Torsten Strenger weiß aber auch: Der Alltag sieht oft anders aus. Ein Gespräch über Zeitmangel, Möglichkeiten der Unterstützung des Pflegepersonals und die Chancen, die mit der aktuellen Gesetzgebung verbunden sind.

Herr Dr. Strenger, ich habe gerade erlebt, wie zeitintensiv ein einfacher Recall mit einer Demenzpatientin sein kann. Wie ist so ein Kontrolltermin für die Praxis darstellbar?

Dr. Torsten Strenger:

Das darf man natürlich nicht rein betriebswirtschaftlich sehen. Die Behandlung von Patienten mit Handicap – und dazu gehören die älteren Patienten in Seniorenheimen – ist eine Herausforderung für das ganze Team. Alle Mitarbeiter müssen geschult sein und zum Beispiel die Besonderheiten bei Patienten mit Demenz kennen und einordnen. Ein bisschen Empathie gehört dazu und dann tut man es – und das mag jetzt hochgestochen klingen – einfach für die Patienten. Wenn man sich anschaut, wie schnell die Patienten ihre Zähne verlieren, sobald sie in einem Pflegeheim leben und nicht mehr regelmäßig zur Prophylaxe in die Praxis kommen können – das ist schon sehr traurig.

Was erleben Sie denn in den Heimen?

In den meisten Heimen und Einrichtungen für Pflegebedürftige gibt es kein spezielles Behandlungszimmer. Wir untersuchen die Patienten zumeist in ihren Wohnungen im Heim. Alleine die Kopflagerung stellt ein Problem dar. Dies ist auch der Hauptgrund, warum wir diese Patienten – soweit möglich – in unsere Praxis bringen oder abholen lassen. Leider sehen wir häufig neben Druckstellen durch Prothesen und Abszessen auch hohen Behandlungsbedarf an den vorhandenen Zähnen. Eine röntgenologische Untersuchung ist oft zwingend notwendig, und dies geht nur in der Praxis.

Die ersten Verbesserungen für die Versorgung dieser Patienten brachten § 87 2i und 2j in den Jahren 2012 und 2014. Wie sah damals Ihr Engagement aus?

Damals hatte ich kein festes Programm, habe das aber natürlich im Rahmen der Patientenbetreuung gemacht. Das war sogar nochein bisschen intensiver als heute, wir warenwirklich häufiger in Altersheimen als jetzt.

Wie kommt das?

Man muss sagen, dass es in den vergangenen Jahren hier einige Wechsel in den Heimleitungen gegeben hat und mancherorts einfach die Strukturen wieder aufgebaut werden mussten. Ein langwieriger Prozess, der viel Zeit kostet – und Engagement von beiden Seiten.

Gab es denn schon Verträge zwischen Zahnarzt und Heim?

Nein, das waren keine echten Kooperationsverträge, sondern rein mündliche Abkommen. Bei einem Heim direkt in der Nähe lief die Zusammenarbeit etwa über den persönlichen Kontakt zu einer Betreuerin, die in dem Haus sehr gut vernetzt war – und die zahnmedizinische Versorgung dieser Patientengruppe aus Zuneigung zu den Bewohnern zu ihrem Thema gemacht hat. 

Sie haben Ihre Praxis 2015 um 300 Quadratmeter erweitert, das Team um zwei Zahnärzte und eine Vielzahl von Mitarbeitern aufgestockt. Hat sich damit auch das Praxiskonzept mit Blick auf die Behandlung pflegebedürftiger Patienten verändert?

Absolut. Der Umbau hat uns sehr viele Vorteile hinsichtlich der Logistik gebracht, nicht nur für diese speziellen Patienten. Aber wir haben seitdem extra große Parkplätze direkt vor der Tür, die für Krankentransporte zur Verfügung stehen – und einen Aufwachraum realisiert.

Pflegebedürftige haben Sie aber auch schon vorher in der Praxis behandelt?

Genau, das war auch schon vorher möglich. Einen ebenerdigen Fahrstuhl hatten wir von Anfang an – und das Engagement, für diese Patientengruppe etwas zu tun – schließlich werden wir alle älter!

Welche Bedeutung hat der zum Juli in Kraft tretende §22a aus Ihrer Sicht?

Nun, die Berichterstattung zum Thema erzielt in der Kollegenschaft schon eine Breitenwirkung. Unter Kollegen wird die Versorgung und Prävention bei dieser Patientengruppe intensiv diskutiert. Damit ist die Situation nach meinem Empfinden ganz anders als bei der Einführung von § 87 2i und 2j. Damals wurde in der Kollegenschaft nicht soviel darüber gesprochen, aber auch die Information in der Fachpresse war deutlich geringer als jetzt.

Wie ist denn das Feedback, das Sie zu Ihrem Engagement bekommen? Ist es einfach, Kollegen zu motivieren oder überwiegen die Vorbehalte?

Na, die meisten haben schon sehr viele Bedenken. Zum einen, weil es sehr anstrengend sein kann, diese Patientengruppe zu behandeln. Besonders demente Patienten stellen ja eine besondere Herausforderung dar. Außerdem haben die Hilfebedürftigen, die in den Heimen wohnen, häufig Totalprothetik – und zwar eine Generation der Totalprothetik, die man heute so in der normalen Praxis gar nicht mehr kennt. Da gibt es auch kaum Labore, die das noch adäquat umsetzen können. Wir arbeiten darum mit einem Speziallabor in Bochum zusammen, das sich viel Mühe macht. Und letztlich ist die Behandlung dieser Patienten aktuell wirtschaftlich schwer darstellbar. Sehr viele warten immer noch ab. Da wird sich erst etwas bewegen, wenn sich Transporte einfacher organisieren und von der Kasse erstatten lassen. Wir profitieren von einer jahrelangen Zusammenarbeit mit dem Transportdienst einer Klinik, aber wenn ein Kollege keine Kontakte oder Erfahrungen hat, schreckt das sicherlich ab. Ein Hemmnis ist auch, dass die Behandlungsmöglichkeiten in den Altersheimen trotz mobiler Einheiten tatsächlich sehr eingeschränkt sind. In einer Einrichtung hier gab es zwischenzeitlich den Plan, einen Behandlungsraum einzurichten, das ist dann aber letztlich am Platzangebot gescheitert.

Worin sehen Sie das Hauptproblem?

Das Hauptproblem ist aus meiner Sicht, dass das Pflegepersonal kaum Zeit hat. Das Interesse ist sicherlich vorhanden, aber das zur Verfügung stehende Zeitkontingent lässt eine gute Mundhygiene einfach nicht zu. Das Programm in der normalen Pflege ist schon so immens, so dass weitere Anforderungen obendrauf total vernachlässigt werden.

Und das ist den Kollegen, die ein bisschen im Thema sind oder schon einmal aufsuchend tätig waren, sicherlich bewusst. 

An der wirtschaftlichen Situation ändert sich mit der Gesetzesänderung ja Einiges. 

Genau. Wenn das Finanzielle stimmt und die Kliniken und Pflegeeinrichtungen keinen großen Organisationsaufwand haben, sehe ich gar keine Hemmnisse mehr. Wenn dann Aufgaben vielleicht sogar delegiert werden dürfen, insbesondere was die Prophylaxe und die Instruktion der Pflegemitarbeiter angeht, bin ich mir sicher, dass das jedes Heim in sein Qualitätsmanagementprogramm integrieren wird. Aber ohne Empathie beim Zahnarzt geht es nicht. Man muss sich als Teil eines Teams sehen: ein Team aus Betreuern, Altersheimen, interessierten Prophylaxemitarbeitern mit dem nötigen Know-how und engagierten Zahnärzten.


Sie haben als Betreiber einer Riesenpraxis gut reden ...

Meine Erfahrung nach sind es eher Kollegen mit kleineren Praxen, die sich um das Thema kümmern, vielleicht auch weil sie es in der Vergangenheit als Alleinstellungsmerkmal für sich entdeckt haben. Ich glaube aber, dass die Behandlung Pflegebedürftiger immer umsetzbar ist. Kleinere Praxen haben dabei den Vorteil, dass sie häufig Öffnungszeiten haben, die zum Beispiel an den Mittwochnachmittagen oder in langen Mittagspausen Raum für ein solche Projekte lassen. 

Dann gibt es also keine Entschuldigung, wenn ein Zahnarzt nicht dabei ist.

Richtig. Ich sehe da eigentlich keinen großen Unterschied zu den Prophylaxeprogrammen in Kitas. Dort funktioniert es hervorragend. Fast jede Kita ist betreut, da gibt es haufenweise Zahnärzte, die ihre Mitarbeiter hinschicken, bei den Altersheimen nicht. Wenn die Heimleitungen das Thema höher priorisieren würden und man Mitarbeiter in die Heime schicken könnte, die dann an einem halben Tag gleich mehrere Patienten behandeln, wäre das ein Riesenschritt. 

Die Fragen stellte Marius Gießmann.

Von der Ausarbeitung bis zur Implementierung

Die KZBV hatte sich dafür stark gemacht, dass die Leistungen möglichst zeitnah in die Versorgung kommen und zugleich auf ein schlankes Verfahren im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und im Bewertungsausschuss gedrängt.

Nachdem die KZBV als stimmberechtigte Trägerorganisation im G-BA im Oktober 2017 die Umsetzung der Erstfassung der ‚Richtlinie über Maßnahmen zur Verhütung von Zahnerkrankungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen‘ maßgeblich vorangetrieben hatte, folgte das Verfahren im Bewertungsausschuss. Dort legen die KZBV und der GKV-Spitzenverband die BEMA-Positionen fest, die für die Abrechnung von vertragszahnärztlichen Behandlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung dienen. Die hier erzielten Bewertungen gewährleisten, dass die neuen Leistungen in der Praxis und im Rahmen der aufsuchenden Betreuung wirtschaftlich erbracht werden können. Ziel war, die Versorgung im Rahmen der aufsuchenden häuslichen Betreuung durch die Aufwertung entsprechender Positionen im BEMA zu stärken und sicherzustellen, dass der Abschluss beziehungsweise die Fortführung von Kooperationsverträgen mit Pflegeeinrichtungen für Praxen weiter gefördert werden.

Derzeit gibt es bundesweit mehr als 3.700 solcher Verträge. Die Zahl zahnärztlicher Haus- und Heimbesuche lag im Jahr 2017 bei rund 923.000.

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