Robin-Sequenz
Bei der Robin-Sequenz können aufgrund der damit assoziierten Obstruktion im pharyngealen Atemweg mit lebensbedrohlicher Atemnot beziehungsweise angestrengter Atmung thorakale Einziehungen entstehen. Bei ausbleibender therapeutischer Intervention droht Atemwegsobstruktion mit potenziell letalem Ausgang. Hier muss unmittelbar der Atemweg gesichert werden, wozu die wenig invasive Behandlungsmöglichkeit der Tübinger Spornplatte zur Verfügung steht.
Diese besteht aus einer Gaumenplatte mit extraoralen Fixierungen sowie einer velopharyngealen Extension, die eine Glossoptose verhindert und im Sinne eines funktionskieferorthopädischen Wachstumsreizes die mandibuläre Entwicklung nach ventral fördert (Abbildung 6). Diese Methode – von Bacher, Arandt und Buchenau entwickelt sowie etabliert – sichert effektiv den Atemweg, verhindert obstruktive Apnoen und fördert das Unterkieferwachstum. Sie erfordert eine enge Kooperation von Kieferorthopädie/Neonatologie/Endoskopie (zum präzisen Anpassen des Sporns), Kinder-Schlafmedizin (Durchführung von Polygrafien zur Therapiekontrolle) und Kinderkrankenpflege/Logopädie (zum Saug- und Schlucktraining), was in der Praxis an nur wenigen universitären Zentren vorgehalten werden kann [von Bodman et al., 2003; Buchenau et al., 2007; Bacher et al., 2011; Poets et al., 2011; Poets et al., 2017]. Entscheidende Zielparameter bei der Überprüfung der Effektivität dieser Therapie sind der gemischt-obstruktive Apnoe-Hypopnoe- und Desaturations-Index und der Z-Score für die Gewichtsentwicklung im Verlauf.
Abbildung 6: b) Gaumenmodell mit U-förmiger Gaumenspalte und Tübinger Atemplatte am Arbeitsmodell mit aus gelbem Wachs modellierter Referenzebene für die velopharyngeale Extension mit innenliegender Drahtverstärkung | ZLKGKF
Die in der Literatur beschriebenen invasiven Therapieoptionen bei RS im Säuglingsalter umfassen Glossopexie, Unterkieferdrahtextension, Einlage eines Nasopharyngealtubus, mandibuläre Distraktionsosteogenese oder die Tracheotomie. An einigen Zentren wird auch eine dauerhafte Therapie mit kontinuierlichem positivemAtemwegsdruck (CPAP) eingesetzt. Alle diese Therapieverfahren führen zu einer hohen Belastung für Patienten und Angehörige und behindern die skelettale, die funktionelle und die psychosoziale Entwicklung [Spring, Mount, 2006; Li et al., 2000].
Abbildung 6: c) Neugeborenes mit Tübinger Atemplatte in situ | ZLKGKF
Insuffizient behandelt führt die RS zu einer körperlichen und kognitiven Entwicklungsstörung. Dies zeigt, wie wichtig ein rechtzeitiger, frühzeitiger, den Atemweg sichernder Behandlungsbeginn ist [Drescher et al., 2007]. Aufgrund der Atemproblematik hat sich bei RS als OP-Zeitpunkt für die Gaumenspaltplastik ein Alter von circa elf Monaten bewährt.
Den detaillierten Ablauf der therapeutischen Interventionen bei Robin-Sequenz im Zentrum für LKG-Spalten/Kraniofaziale Fehlbildungen des Universitätsklinikums Tübingen zeigt Tabelle 2.
Die Mitarbeit der Eltern ist bei der Therapie von Kindern mit einer Spaltbildung wie auch bei RS unverzichtbar für den langfristigen Erfolg der Behandlung – diese müssen daher frühzeitig in die Behandlung integriert und eingewiesen werden, damit sie die Therapie bei ihrem Kind unterstützen können. Bei gegebener psychischer Belastung der betroffenen Eltern wird Unterstützung durch den psychosozialen Dienst und/oder Patienten-Selbsthilfegruppen angeboten. Dies gilt gleichermaßen für spätere Entwicklungsphasen der Patienten.
Sekundärbehandlung
Weitere therapeutische Interventionen erfolgen von kieferorthopädischer Seite meist erst im Sinne der Sekundärbehandlung beginnend ab dem 4. Lebensjahr bei ausgeprägten Fehlstellungen wie frontalem Kreuzbiss oder ausgeprägten transversalen Defiziten. Je nach Ausmaß kommen hierzu aktive Plattenapparaturen, funktionskieferorthopädische Geräte wie der Funktionsregler Typ III und bei ausgeprägten Befunden die Kunststoffkappen GNE zur transversalen Erweiterung des Gaumens sowie die Gesichtsmaske nach Delaire zur Verbesserung der sagittalen Relation zum Einsatz. Entscheidend ist hierbei, dass zu keinem Zeitpunkt eine dentoalveoläre Kompensation durch Kippung der Zähne über das physiologische Maß nach lateral oder ventral erfolgen darf – die funktionskieferorthopädischen Maßnahmen zielen auf eine skelettale Korrektur des dentoalveolären Fundaments ab. Bereits im Milchgebiss müssen dabei regelmäßige individualprophylaktische Maßnahmen beginnen, da aufgrund von Engständen und Fehlstellungen, insbesondere im Bereich der spaltnahen Zähne, die Zahnhygiene schwierig ist. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei die Zeit kurz vor dem Durchbruch des spaltnahen Eckzahns ein. Um hier einen regelrechten Durchbruch im Spaltbereich zu ermöglichen, muss eine sekundäre Kieferspaltosteoplastik erfolgen. Dazu bedarf es einer engen Abstimmung von Kieferorthopädie und MKG-Chirurgie.
Bereits im Zuge der sekundären Kieferspaltosteoplastik muss gemeinsam von MKG-Chirurgie und Kieferorthopädie abhängig von der Anzahl, der Lage und der Morphologie der spaltnahen Zähne die Entscheidung getroffen werden, welches Konzept zum Lückenschluss gewählt wird, falls der seitliche Schneidezahn oder der Eckzahn nicht zur Verfügung steht. Grundsätzlich kommen ein kieferorthopädischer Lückenschluss, eine Implantatversorgung der Kieferspalte oder ein Offenhalten der Lücke mit restaurativer Versorgung in Betracht.
Nach der bestmöglichen funktionskieferorthopädischen skelettalen Korrektur im Wachstum folgt die abschließende dentoalveoläre Behandlung, meist mit festsitzender Multiband-, Multibracketapparatur. Hierbei besteht nur noch in begrenztem Maß die Möglichkeit, skelettale Defizite durch eine dentoalveoläre Kompensation auszugleichen. Diese unterliegt im Hinblick auf die hohe Rezidivanfälligkeit einer engen Indikationsstellung.
Tertiärbehandlung
Bei ausgeprägten skelettalen Diskrepanzen wird die Tertiärversorgung – eine kombinierte kieferorthopädische/MKG-chirurgische Behandlung – erforderlich. Hierbei wird nach prächirurgischer kieferorthopädischer Vorbehandlung die skelettale Umstellungsosteotomie durchgeführt. Bei Spalten kommt aufgrund des in der Regel im Oberkiefer gelegenen Wachstumsdefizits mit maxillärer Retrognathie eine OK-Vorverlagerung auf Le-Fort-I-Ebene oder eine bignathe Umstellungsosteotomie in Betracht. Die Kieferorthopädie behandelt dentoalveoläre Fehlstellungen im Rahmen der Dekompensation vor Umstellungsosteotomie und durch die Feineinstellung postoperativ. Abschließend erfolgen nach Abschluss der KFO bei Bedarf eine prothetische restaurative Versorgung, eine Adhäsivversorgung oder konservierende plastische Zahn-Formaufbauten.
Den letzten Schritt der das gesamte Wachstum begleitenden interdisziplinären Behandlung stellt die bei fast allen Spalten mit Lippenbeteiligung notwendige Septorhinoplastik durch die MKG-Chirurgie dar (Abbildung 7). Hierbei handelt es sich um komplexe knöchern-weichteilige Korrekturen, bei denen häufig mit Knorpeltransplantaten gearbeitet werden muss.
Abbildung 7: Nasendeformität bei einseitiger LKG-Spalte links, präoperativ und 1 Jahr nach Septorhinoplastik | ZLKGKF
Diese komplexen langjährigen, wachstumsbegleitenden und stets patientenindividuell geprägten Therapieschritte im Wechselspiel und in Kombination der Fachdisziplinen führen zwar nicht zur restitutio ad integrum, sie bieten den Patienten jedoch die bestmögliche funktionelle, ästhetische wie auch psychosoziale Rehabilitation.
Prof. Dr. med. dent. Bernd Koos
Poliklinik für Kieferorthopädie
Universitätsklinikum Tübingen
Osianderstr. 2–8
72076 Tübingen
bernd.koos@med.uni-tuebingen.de
Prof. Dr. med. Christian F. Poets
Abteilung Neonatologie
Universitätsklinikum Tübingen
christian-f.poets@med.uni-tuebingen.de
Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Siegmar Reinert
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
Universitätsklinikum Tübingen
siegmar.reinert@med.uni-tuebingen.de
Danksagung
Die Autoren danken allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen der am Tübinger Zentrum involvierten interdisziplinären Fachdisziplinen. Dies gilt insbesondere Prof. Dr. K. O. Kagan, Leiter der Pränataldiagnostik; dem gesamten Pflege- und Ärzteteam der Station Neo 2, besonders den OÄ Dr. Wiechers, Dr. J. Arand und Dr. W. Buchenau sowie Regina Iffländer, Petra Knechtel und Ulrike Wegmann, der Logopädin I. Kammerlander, dem Team der HNO-Klinik, den OÄ Dr. L. Michels und PD Dr. D. Rickert, den Logopäden und Physiotherapeuten und Ute Mülder vom psychosozialen Dienst; dem Team der MKG-Chirurgie, vor allem Prof. Dr. Dr. M. Krimmel; dem Team der pädiatrischen Neurochirurgie, stellvertretend Prof. Dr. M. Schuhmann; dem Team der Prothetik, stellvertretend PD Dr. E. Engel; dem Team der Zahnerhaltung, stellvertretend Prof. Dr. D. Wolff und abschließend dem Team der Kieferorthopädie, vor allem Dr. A. Oertel, Dr. K. Peters, den ehemaligen OÄ Dr. Bacher (die mit den OÄ Dr. Arandt und Dr. Buchenau die Tübinger Spornplatte entwickelt hat) und Dr. Dr. Müller-Hagedorn sowie Thilo Scholz, Alexander Moumouris und Ursula Gonser, für ihren unermüdlichen und kompetenten Einsatz für die ihnen anvertrauten Kinder und deren Eltern.
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