Ein siebenjähriges Mädchen wird im August 2017 aufgrund auffällig vieler Nichtanlagen in unsere Praxis für Kinder- und Jugendzahnheilkunde in Beckum überwiesen. Extraoral zeigte es keine markanten Auffälligkeiten, die Gesichtssymmetrie war weitgehend harmonisch, das Haar dunkel und dicht gewachsen. Intraoral zeigte sich ein Wechselgebiss in der ersten Phase des Zahnwechsels mit einem permanenten Zapfenzahn 11 sowie einem weiter palatinal stehenden Zapfenzahn 21 mit dem persistierenden Milchzahn 61. Die Molaren (16, 26, 36 und 46) waren in die Zahnreihen eingeordnet (Abbildungen 1 und 2). Das gesamte Gebiss war kariesfrei, die häusliche Mundhygiene gut.
Sodann wurde ein OPG angefertigt. Auf dem Röntgenbild waren Zahnanlagen für die Permanentes 14, 23, 24, 35, 34, 44 und 45 erkennbar (Abbildung 3). Die Zähne zeigten – bis auf den Milchzahn 61 – keinen Lockerungsgrad.
Nach zahnärztlicher Beratung im Team und Analyse des intraoralen und des röntgenologischen Befunds wird die Vermutung einer ED geäußert. Dies wurde mit der Mutter – selbstverständlich ohne Anwesenheit der Tochter – schonend und behutsam diskutiert und ihr begründet. Nach mehreren Beratungsterminen bezüglich der weiteren Versorgung des Kindes – die Mutter war sehr besorgt über das äußere Erscheinungsbild der Tochter aufgrund der Zapfenzähne in der Front – wurde im Dezember 2017 eine Überweisung zum Humangenetischen Institut nach Münster (UKM) veranlasst. Anfang Januar 2018 fand dort die genetische Beratung statt. Dabei wurden eine Eigen- und eine Familienanamnese erhoben und das Kind wurde körperlich untersucht. Hierbei fielen bei dem Mädchen neben der Oligodontie seitlich ausgedünnte Augenbrauen, weiche Fingernägel und dünne, brüchige Fußnägel mit nur rudimentärem Nagel auf beiden Kleinzehen auf. Seitens des Instituts für Humangenetik wurde den Eltern bei dieser Vorstellung eine Analyse bekannter, häufig mit einer Oligodontie/ED assoziierter Gene angeboten. Die Familie stimmte diesem Vorschlag zu.
Abbildungen 1 und 2: Intraoraler Befund des überwiesenen Mädchens (Zustand nach Extraktion des persistierenden Zahns 61): Markant sind die beiden Zapfenzähne 11 und 21. | Milchzahnsafari GmbH
Abbildung 3: Orthopantomogramm des Kindes mit multiplen Nichtanlagen: Röntgenologisch sind Zahnanlagen für die Zähne 14, 23, 24, 35, 34, 44 und 45 erkennbar. Zahn 23 scheint verlagert.| Milchzahnsafari GmbH
Diagnose
Wir vereinbarten mit der Mutter aufgrund der Demaskierung des Kindes durch die Zapfenzähne in der Front die Versorgung dieser Zähne mit Vollkeramikkronen und erstellten einen Heil- und Kostenplan [Ellis RK et al., 1992, Sakai VT et al., 2007, Till MJ et al., 1992]. Begleitend dazu empfahlen wir die Extraktion des persistierenden Milchzahns 61, um die Einstellung des Zahns 21 in labialer Richtung durch den Zungendruck zu forcieren.
Ende März 2018 erhielt die Familie das Gutachten aus der genetischen Untersuchung. Durchgeführt wurden dabei eine Sequenzanalyse mittels NGS (next generation sequencing) der Gene MSX1, PAX9, AXIN2, EDA, EDAR, EDARADD, LRP6 und WNT10A sowie eine Gendosisanalyse mittels MLPA (multiplex ligation-dependent probe amplification) der Gene EDA, EDAR, EDARADD und WNT10A. Bei dem Mädchen wurde eine heterozygot vorliegende Mutation im EDARADD-Gen festgestellt, die in der Literatur bereits als ursächlich für das Fehlen von Zähnen beschrieben wurde und mit der Ausprägung der ED Typ 11a (autosomal-dominat erbliche ED Typ 11A; ECTD11A; hypohidrotischer Haar-Zahn-Typ). Des Weiteren wurden zwei ebenfalls in der Fachliteratur bereits beschriebene Mutationen in compound-Heterozygotie im WNT10A-Gen festgestellt, die zur autosomal-rezessiv erblichen Odonto-onycho-dermalen Dysplasie führen. Die Verdachtsdiagnose der ED konnte somit im Humangenetischen Institut in Münster (UKM) gesichert werden.
Unterstützung der Eltern
Während der gesamten Dauer – von der Äußerung der Verdachtsdiagnose bis hin zur sicheren Diagnosestellung – wurden die Eltern und das Kind bei dieser, für sie bis dato unbekannten Problematik unterstützt [Van Sickels JE et al., 2010, Till MJ et al., 1992]. Wir haben Therapiewege aufgezeigt und waren für alle Fragen und Sorgen der Familie und des Kindes da. Wir haben darüber hinaus angeboten, sich der Selbsthilfegruppe für ED unter der Leitung von Andrea Burk (www.ektodermale-dysplasie.de) anzuschließen. Wir begrüßten in diesem Zusammenhang vor allem den Austausch mit anderen Eltern betroffener Kinder.
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