zm-Serie: Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“

Erich Kohlhagen – 77 Monate in KZ, Überlebender

Thorsten Halling
,
Matthis Krischel
Erich Kohlhagen (1908–1970) erreichte im März 1946 Dayton, Ohio in den USA. Er hatte zu diesem Zeitpunkt 77 Monate Haft in deutschen Konzentrationslagern überlebt. Seine traumatischen Erfahrungen als „Schutzhaftjude 12110“ schildert er in einem erst 2010 veröffentlichten Bericht.

Geboren am 7. Februar 1908 in Heidelberg, verbrachte Kohlhagen seine Kindheit ab 1913 mit zwei Geschwistern in Halle an der Saale. Nach dem Abitur begann er im Wintersemester 1928/29 in München ein Studium der Zahnmedizin. Unmittelbar nach Erhalt der Approbation und Abschluss seiner Dissertation1 im Mai 1932 zog es ihn wieder zurück nach Halle, wo er auf der zentralen Leipziger Straße 16 eine eigene Praxis eröffnete.

Nicht einmal ein Jahr später bedeutete die Machtübernahme der Nationalsozialisten für ihn das Ende der vertragszahnärztlichen Tätigkeit: Als Jude wurde ihm die Kassenzulassung entzogen. Kohlhagen engagierte sich in der jüdischen Gemeinde und leitete den „Bund deutsch-jüdische Jugend“. Zu diesem Zeitpunkt praktizierten zehn Ärzte und mit Max Hirsch (*1876, vermutlich emigriert) und Leo Lewinski (1877–1943, Theresienstadt) zwei weitere Zahnärzte jüdischer Herkunft in Halle2.

Am 24. Oktober 1938 verhaftete die Gestapo Kohlhagen in seiner Praxis. Erst nach gewalttätigen Verhören erfuhr er, dass ihm „Verächtlichmachung des Deutschen Reiches“ im Ausland vorgeworfen wurde. Kohlhagen bereitete zu diesem Zeitpunkt zusammen mit seiner Familie die Ausreise in die USA vor und stand mit seinen dort lebenden Verwandten in brieflichem Kontakt. Am 9. November, dem Tag der Pogrome gegen Juden in ganz Deutschland, füllte sich das Gefängnis in Halle, weil es auch zu Massenverhaftungen jüdischer Männer kam. Am 12. November 1938 wurden zahlreiche von ihnen ins Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin gebracht.

In seiner Autobiografie schreibt Kohlhagen, er sei zunächst froh gewesen, „endlich aus dem düsteren Gefängnis gekommen zu sein. In Unkenntnis der Dinge sagte ich mir, dass es auch im KZ nicht schlimmer sein könne.“3

Während es seinen Eltern und der Schwester 1939 gelang, in die USA zu emigrieren, begann für Kohlhagen nun ein fast siebenjähriges Martyrium, das ihn durch vier Konzentrationslager führte: Sachsenhausen, Groß-Rosen, Auschwitz-Monowitz und Mittelbau-Dora. Kohlhagen ist einer von 43 aus Halle verschleppten Juden, die den Holocaust überlebten.4

Folter durch Aufhängen am Pfahl

Am 4. April 1945 konnte er aus dem KZ Mittelbau-Dora fliehen und wurde am 11. April durch die amerikanische Armee endgültig befreit. Noch in einem Lager für Displaced Persons in Paris verfasste er seinen Erinnerungsbericht „Zwischen Bock und Pfahl“5 , in dem er beschreibt, wie „ein jüdischer Verfolgter mehr als sieben Jahre im System der deutschen Konzentrationslager am Leben bleiben konnte“. Der Bericht sollte jedoch erst 2010 – 65 Jahre später – gedruckt werden.6

Kohlhagen bot das Manuskript direkt nach seiner Ankunft in den USA der „War Crimes Commission“ in Washington D.C. an, in der Hoffnung entsprechende Ermittlungen zu unterstützen. Die Kommission übersetzte allerdings nur wenige Seiten ins Englische, so dass eine Verwendung bei strafrechtlichen Ermittlungen unklar bleibt.

TÄTER UND VERFOLGTE

Die Reihe „Zahnärzte als Täter und Verfolgte im ‚Dritten Reich‘“ läuft das gesamte Kalenderjahr 2020. In der zm 18 erfahren Sie mehr über Hans Fliege und Erich Knoche, in der zm 18 über Werner Rohde und Julius Misch.

Kohlhagen selbst wurde erst in den 1960er-Jahren im Rahmen von Ermittlungen gegen SS-Wachpersonal des KZ Sachsenhausen als Zeuge befragt.7 Auch in dieser Aussage und in seinen Erklärungen im „Wiedergutmachungsverfahren“ im Nachkriegsdeutschland berichtet er über die Folter durch Aufhängen an einem Pfahl. Er hatte einen Mithäftling bei dem Versuch unterstützt, einen Brief aus dem Lager zu schmuggeln, die SS versuchte ihm dazu eine Aussage abzupressen. Kohlhagen beschreibt die Tortur: „Ich hatte das Gefühl, dass meine Arme immer länger wurden. Krampfhaft versuchte ich, mit den Füßen einen Halt zu finden. Diese Versuche verursachten aber nur noch stärkere Schmerzen, sodass ich es bald vorzog, vollständig ruhig hängen zu bleiben. Ab und zu erhielt ich einen Faustschlag in die Magengrube, der mich dann wie ein Uhrpendel hin- und herschwingen ließ [...]. Nachdem ich abgebunden worden war, fiel ich zunächst auf den Boden. Meine Arme hingen an mir, als ob sie gar nicht mir gehörten. Es war mir unmöglich, sie auch nur einen Zentimeter zu heben.“

Es folgten hundertelf Tage Einzelhaft in einer Dunkelzelle, während der er nur jeden vierten Tag zu essen bekam.8

„Authentizität“ und „Faktizität“9 von autobiografischen Schriften von Holocaust-Überlebenden und deren Bedeutung für das Gedenken und die historische Forschung wurden kontrovers diskutiert.10 Schon im Vorwort betont Kohlhagen, dass „alle folgenden Angaben von mir selbst erlebt oder beobachtet wurden und dass ich Namen und Daten nur dann angegeben habe, wenn ich mich für deren Richtigkeit voll und ganz verbürgen kann“.11

Als historische Quelle ist sein Erfahrungsbericht deshalb besonders glaubhaft, weil er früh entstand, also vor einer breiten medialen Bearbeitung des Themas, das die Erinnerung von Zeitzeugen überformen konnte. Gleichzeitig vermittelt der Bericht bis heute jene Fassungslosigkeit, die nicht nur bei der ersten Konfrontation mit dem Holocaust aufsteigt.12 Für die Zahnheilkunde hatten dieses Gefühl bereits die viel beachteten Memoiren von Benjamin Jacobs „The dentist of Auschwitz“ aus dem Jahr 1995 vermittelt.13

Vom Lagerhasen zum Kapo

Bereits Jahrzehnte zuvor war die Autobiografie des Pathologen Miklós Nyiszli14 – zuerst 1946 auf Ungarisch erschienen – durch eine englische Übersetzung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich geworden.15 Zugleich bezeugen diese Schicksale die moralischen Kompromisse, die Nyiszli, Jacobs, Kohlhagen und viele andere Häftlings(zahn)ärzte16 und „Funktionshäftlinge“ für ihr eigenes Überleben eingehen mussten.17

Kohlhagen beschrieb in der Hierarchie der Häftlinge sich zunächst als „Lagerhase“, das heißt, abhängig von einem Überlebensnetzwerk, dass vor allem vom Geschick der „Lagerfüchse“, erfahrenere Häftlinge, abhing. Zu jenen gehörten vor allem Funktionshäftlinge wie Kapos. Durch ihre Kollaboration mit der SS stellten sie eine Zwischenschicht zwischen Tätern und Opfern dar.18 Für nicht wenige Überlebende des Holocaust waren sie als Kollaborateure der SS Teil der Täter, auch wenn die Forschung insbesondere die Rolle der Kapos inzwischen differenzierter beurteilt.19 Da die Zusammenstellung der Arbeitskommandos in zunehmendem Maß von entsprechenden Funktionshäftlingen vorgenommen wurde, stellt sich die Frage nach deren Möglichkeiten und Grenzen.20 Bereits in Sachsenhausen hatte Kohlhagen nach eigener Einschätzung den Status eines erfahrenen Lagerhasen erreicht, der sich moralische Urteile der Funktionshäftlinge zutraute und den Neuankömmlingen voraus war.21

Kohlhagens Odyssee führte nun weiter über 13 Monate in Granitsteinbrüchen im KZ Groß-Rosen nach Auschwitz-Monowitz. Hier leitete Kohlhagen nun selbst ein Arbeitskommando für Elektrik von über 50 Mann an: „Während ich die ganze Zeit vorher immer nur für mich zu sorgen hatte, sah ich mich nun vor die schwere Aufgabe gestellt, für einen, wenn auch kleinen Teil der Lagers verantwortlich zu sein.“22 Ein Mithäftling erinnerte sich an den Kapo Kohlhagen: „On all those days, one could read the words of prayers on their lips. Kapo Kohlhagen showed respectful understanding in this regard.“23 Kohlhagen selbst betonte resümierend über seine Zeit als Funktionshäftling: „Jedenfalls kann ich mit gutem Gewissen behaupten, dass in diesen anderthalb Jahren keiner aus meinem Kommando gestorben ist.“24

Inhaber einer Reinigung: sein 2. Leben in den USA

Kohlhagens zweites Leben in den USA war nicht glücklich. Zu den Folgen seiner KZ-Haft gehörten Alpträume, chronische Schmerzen sowie körperliche Schwäche. Seine Frau, die er in den USA heiratete, berichtete über seine Verbitterung, in der neuen Heimat nicht mehr als Zahnarzt arbeiten zu dürfen. Bereits bei seiner Ankunft dort hatte er erkennen müssen, dass seine zahnärztlichen Kenntnisse nach sieben Jahren Haft „als veraltet galten“25. Bis zu seinem Tod am 24. November 1970 im Alter von 62 Jahren führte Kohlhagen eine chemische Reinigung.26

Trotz der eindringlichen Schilderungen erreichte Kohlhagens Bericht lange keine breite Leserschaft. Auch eine englische Übersetzung, die er mithilfe seiner Frau Rita Hyber Kohlhagen erstellt hatte, blieb zu Lebzeiten ebenso unveröffentlicht wie seine Autobiografie „Born Twice“. Spät wirken Kohlhagens Lebenserinnerungen allerdings doch nach: Schon vor der Veröffentlichung im Jahr 2010 wurde das Manuskript in der Forschungsliteratur zu den einzelnen Konzentrationslagern zitiert.27 Seine Aussagen finden sich aktuell auch in Ausstellungsprojekten wieder.28

Als Überlebender von vier Konzentrationslagern gehört Erich Kohlhagen zu einer sehr kleinen Gruppe. Für ihn war es – aus verständlichen Gründen – undenkbar, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzukehren. In seiner neuen Heimat konnte er jedoch nicht wieder als Zahnarzt arbeiten. Bis zu seinem Tod litt Kohlhagen an den psychischen und physischen Folgen der Lagerhaft. Als Zeitzeuge fand er zunächst nicht viele Zuhörer und Leser. Heute illustrieren seine Berichte aus erster Hand eindrücklich den unmenschlichen Alltag in der Zeit des Nationalsozialismus.

Dr. Matthias Krischel

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin

Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf

matthis.krischel@hhu.de

Fußnoten:

1 Kohlhagen, 1932;

2 Unser Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle, 3. Auflage (2008): http://www.gedenkbuch.halle.de /vorwortde.php [30.04.2020];

3 Kohlhagen, 2010, S. 13;

4 Schmuhl, 2007, 193, 224;

5 Kohlhagen, 2010, 125;

6 Piorkowski, 2010, 125;

7 Piorkowski, 2010, 124, Anm. 2

8 Kohlhagen 2010, 52–53;

9 „A survivor’s testimony is privileged in that it is authentic, but the factuality is not necessarily so priviliged“ (James Young, Writing and Rewriting the Holocaust, Bloomington/Indianapolis 1988, 88);

10 Star, 2004, 191–204;

11 Kohlhagen, 2010, 8;

12 Friedländer, 2007, S. 26;

13 Jacobs, 1995;

14 Turda, 2014, 43–58;

15 Nyiszli, 1960;

16 Siegel, 2014), 450–481;

17 Brown, 2017, pp. 327–339.

18 Astrid Ley, in: Beddies T, Doetz, S, Kopke C Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus: Entrechtung …, 246;

19 Ludewig-Kedmi, 2001;

20 Kuß, 1995 16;

21 Piorkowski, 2010, 128–132;

22 Kohlhagen, 2010, 90;

23 Schupack, 1986, 145;

24 Kohlhagen, 2010, 91;

2 Piorkowski, 2010, 127;

26 Piorkowski, 2010, 127;

27 Langbein, 2004, 28,124, 157, 285, 298–99; Michel, 2003, 216, 220; Königseder, Angelika, Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof, Band 6, 202, 220;

28 „Im Reich der Nummern, wo die Männer keine Namen haben“ Haft und Exil der Novemberpogrom-Gefangenen im KZ Sachsenhausen. http://in-the-country-of-numbers.com/hh/#program

Thorsten Halling

Dr. Matthis Krischel

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf

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