Neue S3-Leitlinie

Zahnbehandlungsangst bei Erwachsenen

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Knapp zwei Drittel aller Deutschen haben Angst vor der Zahnbehandlung. In den meisten Fällen können solche Ängste durch eine gute Patientenkommunikation aufgefangen werden und die Behandlung wird nicht oder nur wenig beeinträchtigt. Es gibt jedoch auch starke Zahnbehandlungsängste, die eine adäquate zahnmedizinische Versorgung erheblich erschweren. Die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) hat mit dem Arbeitskreis Psychologie und Psychosomatik (AKPP) eine S3-Leitlinie zur Zahnbehandlungsangst bei Erwachsenen veröffentlicht.

Angst ist eine Reaktion des Organismus auf die Wahrnehmung einer tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohungssituation. Das teils sehr intensive Gefühl soll den Organismus vor Schaden warnen und setzt Vermeidungsstrategien in Gang. Im Kontext der Zahnbehandlung wirkt Angst in den meisten Fällen zunächst einmal durchaus funktional, beispielsweise dann, wenn die Gefahr der Schmerzvermeidung zum Wunsch nach Anästhesie führt. Angst wird jedoch dann dysfunktional und krankheitswertig, wenn sie zur Vermeidung der Zahnbehandlung an sich führt und damit die zahnmedizinische Versorgung verhindert – häufig mit der Folge schwer und irreversibel geschädigter Gebisse.

Die nun vorgelegte Leitlinie befasst sich mit der Epidemiologie, Diagnostik und Therapie der Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert. Ziel ist die zahnmedizinische Betreuung und Versorgung von Patienten, die unter einer solcher Zahnbehandlungsangst leiden, zu verbessern helfen.

Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert ist demnach eine interventionsbedürftige Störung und wird in der Leitlinie „als intensive Gefühlsreaktion auf Elemente der zahnärztlichen Behandlungssituation definiert, die für den Betroffenen Leiden verursacht und die angesichts der tatsächlichen Gefahren in der Situation übertrieben erscheint. Sie äußert sich nicht nur durch Gefühle von Angst, Bedrohung und Unbehagen, sondern führt auch zu kognitiven Verzerrungen bei der Situationswahrnehmung, zu typischen physiologischen Veränderungen und zu Flucht-, Ausweich- und Vermeidungsreaktionen. Sie ist mit Risiken für die Zahngesundheit verbunden und kann auf psychopathologische Prozesse hinweisen. Die genaue psychische Diagnose obliegt nicht dem Zahnarzt, sondern dem Psychiater, Psychosomatiker oder psychologischen Psychotherapeuten“ [DGZMK, 2019].

Prävalenz

Eine umfassende Diagnostik, die die Zahnbehandlungsangst als Erkrankung nach den Kriterien des ICD oder DSM erfasst, wird meist nur in Studien mit Klinikpatienten und kleinen Stichproben durchgeführt. Die Berechnung von Prävalenzraten erfolgt überwiegend auf der Grundlage subjektiver Patientenangaben, die mittels verschiedener Fragebögen erhoben werden. Durch unterschiedliche Erhebungsmethoden und die unterschiedliche Zusammensetzung der Stichproben ergeben sich teils stark differierende Angaben zur Prävalenz hoher Zahnbehandlungsangst. International schwanken die Zahlen zwischen 4 und 21 Prozent. Für Deutschland gehen die Autoren der Leitlinie davon aus, dass etwa 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung an Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert leiden. Dabei sind Frauen häufiger betroffen als Männer. Auch für jüngere Patienten wurden regelmäßig höhere Prävalenzraten ermittelt als für ältere – unter den 20- bis 30-Jährigen gibt es in Deutschland den höchsten Anteil hochängstlicher Patienten.

Ätiologie

Die Entstehung von Zahnbehandlungsangst wird als multifaktorielles Geschehen angesehen, wobei sie beim Erwachsenen in der Regel nicht spontan und neu auftritt, sondern nach den Angaben der Betroffenen bereits in der Kindheit begonnen hat. Als empirisch gut belegt gelten die Einflussfaktoren „traumatische Erfahrungen“, „familiäre Einflüsse“ und „individuelle Eigenschaften“ im Sinne einer spezifischen Vulnerabilität.

So führen Patienten mit Zahnbehandlungsangst häufig traumatische, meist mit Schmerzen assoziierte Erlebnisse bei Zahnbehandlungen als Grund für ihre Ängste an: „Schmerz als (unkonditionierter) Auslöser für Angst und Vermeidung der Situation, in der Schmerz auftreten kann (als gelernte Reaktion), wird nach wie vor als eine wichtige Basiserklärung dafür angesehen, warum Angst vor der Zahnbehandlung zur Vermeidung führt“ [DGZMK, 2019].

Insbesondere für Kinder sind familiäre Einflüsse auf die Ausbildung von Zahnbehandlungsangst gut belegt. Eine negative Kommunikation über die Zahnbehandlung und Angstverhalten von Eltern und Geschwistern in der Zahnarztpraxis können bei Kindern Ängste auslösen. Auch gut gemeinte Äußerungen wie „Du musst keine Angst haben“ oder „Der Zahnarzt tut Dir nicht weh“ können eine gegenteilige Wirkung erzielen, da das Gehirn Verneinungen weitgehend negiert. Wahrgenommen werden nur die Inhalte „Angst“ und „wehtun“.

Die individuelle psychische Konstitution ist als „endogene“ Einflussgröße maßgeblich daran beteiligt, ob sich aus dem Einwirken „exogener“ Faktoren wie traumatischen Erfahrungen, gelernten familiären Einflüssen oder auch „normalen“ Angst- und Schmerzerfahrungen eine pathologische Zahnbehandlungsangst entwickelt. Eine „normale“ Zahnbehandlungsangst, die meist nicht mit einem Vermeidungsverhalten einhergeht, kann sich in eine Zahnbehandlungsphobie mit extremer Angst und der Vermeidung der Behandlung steigern.

Zwischen Zahnbehandlungsangst und anderen psychischen Störungen bestehen zahlreiche Komorbiditäten. Studien zufolge leiden bis zu 40 Prozent der Zahnbehandlungsphobiker unter weiteren psychischen Störungen wie Angsterkrankungen und Depressionen. Auch traumatische Erfahrungen außerhalb des Erfahrungskreises Zahnbehandlung können Einfluss auf eine gewisse Anfälligkeit für die Entwicklung von Zahnbehandlungsängsten haben: Studien fanden beispielsweise häufiger sexuellen Missbrauch bei Zahnbehandlungsphobikern.

Hat sich die Zahnbehandlungsangst einmal etabliert, geraten Betroffene in einen sich selbst verstärkenden Teufelskreis: „Nach Berggren und Meynert (1984) führt Angst zur Vermeidung der Zahnbehandlung, wodurch die Zahngesundheit sich verschlechtert, was wiederum zur Erwartung invasiver Behandlungsmaßnahmen mit höheren Risiken für Schmerz und Belastung führt, die die Angst verstärken. Empirische Bestätigung für diese wechselseitigen Beziehungen konnten De Jongh et al. (2011a) und Armfield et al. (2007), (2013) liefern“ [DGZMK, 2019].

Diagnostik

Die Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert wird in den klinischen Klassifikationssystemen unter den phobischen Störungen eingeordnet und dort zu den spezifischen Phobien (ICD-10 F40.2, Angst vor spezifischen Situationen; DSM 300.29) gerechnet. In der Zahnarztpraxis kann eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zur Angst mit oder ohne Krankheitswert nicht vorgenommen werden. Bei Verdacht auf das Vorliegen einer Angst mit Krankheitswert obliegt die Diagnostik dem Psychotherapeuten oder Psychiater – nur durch die interdisziplinäre Kooperation kann auch die Erfassung der häufig vorliegenden Komorbiditäten gewährleistet werden.

Da die Zahnbehandlungsangst jedoch in der Regel in der zahnärztlichen Praxis auftritt, obliegt es dem Zahnarzt, bei Verdachtsfällen den diagnostischen Prozess einzuleiten. Die Leitlinie gibt dazu folgende Empfehlung: „Bereits in dem Erstanamnesebogen sollte nach der Angst vor der Zahnbehandlung gefragt werden. Beantwortet der Patient diese mit „Ja“, kann er seine Angst mit einer dort integrierten Visuellen-Analog-Skala (VAS) einschätzen. Liegt die Angst über 50 Prozent der Gesamtlänge der VAS, sollte ein zusätzlicher Angstfragebogen beantwortet werden, der auch verschiedene Behandlungssituationen anspricht. Hier bietet sich der Hierarchische Angstfragebogen (HAF) oder die deutsche Version des Dental Anxiety Scale (DAS) oder des Modified Dental Anxiety Scale (MDAS) an. Aufgrund des weiten Verbreitungsgrades des Hierarchischen Angstfragebogens (HAF) in Deutschland ist dieser Fragebogen zu bevorzugen. Bei der Ermittlung einer hohen Zahnbehandlungsangst sollte zudem nach der Dauer der Vermeidung gefragt werden. Bei gleichzeitiger Vermeidung der Besuche beim Zahnarzt liegt die Verdachtsdiagnose einer krankheitswertigen Zahnbehandlungsangst vor und es sollte die Hinzuziehung eines Facharztes oder eines Psychologischen Psychotherapeuten erfolgen. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil jeder zweite Patient mit krankheitswertiger Zahnbehandlungsangst mindestens eine weitere psychische Erkrankung hat“ [DGZMK, 2019].

Therapie

Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen Zahnbehandlungsangst mit und ohne Krankheitswert. Für Zahnbehandlungsangst ohne Krankheitswert ist eine spezifische Therapie nicht erforderlich. „Je nach Präferenz des Patienten können optional unterstützende oder stressreduzierende Verfahren wie Musik, Entspannung, Lokalanästhesie angewandt werden“ [DGZMK, 2019]. Auch Hypnose und Akupunktur kommen nach Wunsch des Patienten in Betracht. Im Fall der Hypnose empfiehlt die Leitlinie, das Verfahren nur nach angemessener und umfassender Fortbildung anzubieten. Nicht empfohlen wird eine psychopharmakologische Behandlung, da diese „ein besonders ungünstiges Risiko-Nutzen-Verhältnis“ aufweist [DGZMK, 2019].

Für Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert stehen als Behandlungsoptionen Psychotherapie, Pharmakotherapie und weitere Interventionen zur Verfügung. Beim Einsatz der therapeutischen Mittel werden zwei Kontexte der Anwendung unterschieden: zum einen die Behandlung der Zahnbehandlungsangst im Rahmen einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Therapie außerhalb der zahnärztlichen Intervention, zum anderen die Anwendung therapeutischer Mittel zur kurzfristigen Reduktion der Angst während der zahnärztlichen Intervention (siehe Tabelle).

Therapiemittel der 1. Wahl zur Behandlung der Zahnbehandlungsangst ist die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT). „Klinische Studien belegen eine Reduktion der Zahnbehandlungsangst nach Abschluss der KVT (Evidenzgrad: A) und im Langzeitverlauf (Evidenzgrad: A) sowie eine Reduktion des Vermeidungsverhaltens im Langzeitverlauf (Evidenzgrad: A). Eine KVT soll jedem Patienten mit krankheitswertiger Zahnbehandlungsangst angeboten werden. Liegt akuter zahnärztlicher Behandlungsbedarf vor, durch den die wesentlichen Grundvoraussetzungen für die Durchführung einer KVT nicht gegeben sind (Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Therapieinhalte oder Zeitrahmen zur Durchführung nicht gewährleistet), sollte die KVT im Rahmen der Akutbehandlung nicht angewendet werden (Negative Empfehlung)“ [DGZMK, 2019]. Da Zahnärzte nicht an Vertragsärzte überweisen können, kommt dem Hausarzt eine vermittelnde Rolle zwischen Zahnarzt einerseits und Facharzt oder Psychotherapeuten zu.

Ist bei einem Patienten mit Zahnbehandlungsangst eine akute zahnärztliche Behandlung erforderlich, „können kurzfristig medikamentöse Therapien zum Angstabbau und/oder Sedierung bis hin zur Allgemeinanästhesie eingesetzt werden. Sie helfen jedoch nicht bei der langfristigen Therapie der Zahnbehandlungsangst“ [DGZMK, 2019]. Als Therapiemittel der 1. Wahl zur Ermöglichung der akuten zahnärztlichen Behandlungsfähigkeit bei Patienten mit krankheitswertiger Zahnbehandlungsangst empfiehlt die Leitlinie die leichte Sedierung mit Benzodiazepin: „Insbesondere im Falle eines akuten zahnärztlichen Behandlungsbedarfs größeren Umfanges und wenn die notwendigen Voraussetzungen für die Durchführbarkeit einer Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) nicht gewährleistet sind, sollen Benzodiazepine angewendet werden, um die unmittelbare Versorgung der akuten zahnmedizinischen Erkrankung zu ermöglichen“ [DGZMK, 2019]. Alternativ dazu kann Lachgas als Therapie der zweiten Wahl eingesetzt werden.

Rückfallprophylaxe

Um den langfristigen Erfolg einer Therapie zu sichern, empfiehlt die Leitlinie, die Patienten in einen regelmäßigen Recallzyklus (mindestens halbjährlich) einzubinden. So haben Studien gezeigt, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit proportional mit der Länge des Zeitraums zwischen dem Ende der Therapie und erneuter Exposition mit der vormals furchtauslösenden Situation zunimmt.

Auf der anderen Seite ist eine erfolgreich behandelte Zahnbehandlungsangst keine Kontraindikation für aufwendige zahnmedizinische Versorgungen. Die Betroffenen zeigen in der Regel ein ähnlich gutes Nachsorgeverhalten wie nicht erkrankte Patienten. „Diese positive Entwicklung kann bestärkt werden durch gute Kommunikationskompetenz und ein im Umgang mit ängstlichen Patienten geschultes Behandlungsteam. Im Sinne der für ängstliche Patienten wichtigen Kontrollmöglichkeit wirken eine partizipative Entscheidungsfindung und soweit möglich auch Einflussnahme auf Behandlungsmaßnahmen (zum Beispiel Stoppsignal) positiv auf ein langfristig wünschenswertes Nachsorgeverhalten“ [DGZMK, 2019].

Leitlinie

[DGZMK, 2019]: Enkling N, Jöhren HP, Bürklein S, Lenk M, Margraf-Stiksrud J, Beck G, Daubländer M, Wölber J, Wannemüller A, Dünninger P, Bandelow B, Benecke A: S3-Leitlinie „Zahnbehandlungsangst beim Erwachsenen“, DGZMK, Stand: Oktober 2019 AWMF-Registernummer: 083–020

Die Leitlinie zum Download: www.dgzmk.de/web/suite-dgzmk/zahnbehandlungsangst-beim-erwachsenen-s3

Videos zum Umgang mit Angstpatienten

Die Videos zeigen den Umgang mit Angstpatienten vom Einsatz des Angstfragebogens im Wartezimmer über das Vorgespräch zum Behandlungsbeginn.

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