zm-Serie: Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“

Vom Einzelfall zum Kollektiv - der Abschlussbericht zur Täterforschung im Nationalsozialismus

In den vergangenen zwölf Monaten wurden 16 Lebensläufe von Zahnärzten vorgestellt, die wir der Kategorie der „Täter“ zurechnen. Derartige Einzelbiografien bieten gegenüber Gesamtzahlen und Statistiken den großen Vorteil, dass sie die Ereignisse des „Dritten Reichs“ am konkreten Beispiel deutlich und begreiflich machen. Andererseits ist es unverzichtbar, diese individuellen Lebensläufe in den Gesamtkontext einzubetten und zu klären, welche biografischen Auffälligkeiten übergreifende Gültigkeit beanspruchen und inwieweit die skizzierten Biografien überhaupt als „typisch“ gelten können. Ebendiesen Fragen geht dieser Abschlussbericht nach.

Unter den 16 behandelten Tätern befanden sich Kriegsverbrecher, die nach 1945 vor Gericht gestellt wurden. In anderen Fällen war von Hochschullehrern die Rede, die sich 1933 der „zahnärztlichen Einheitsfront“ angeschlossen hatten, und in wenigen Aufsätzen wurde – eher am Rande – vermerkt, dass die betreffende Person im Nachkriegsdeutschland zum Namensgeber einer Auszeichnung oder Einrichtung wurde. Diese drei bislang nur beispielhaft angesprochenen Themenfelder – zahnärztliche Kriegsverbrecher, die sogenannte Einheitsfront zahnärztlicher Hochschullehrer und die Gruppe der politisch belasteten „Namensgeber“ – sollen hier vertieft betrachtet und diskutiert werden.

Zahnärztliche Kriegsverbrecher

Entgegen unserer Erwartung, im Rahmen des Forschungsprojekts nur sehr vereinzelt auf Zahnärzte und Dentisten zu stoßen, die sich als Kriegsverbrecher vor Gericht verantworten mussten, konnte ebendies für 48 Personen nachgewiesen werden.1

Das widerlegt zum einen die lange kolportierte Theorie, dass Zahnbehandler schon aufgrund ihres auf den Mundbereich beschränkten Tätigkeitsfeldes kaum in die Verbrechenskomplexe der NS-Zeit verstrickt gewesen seien. Zum anderen belegt es, dass die Zahnärzte in der bisherigen NS-Forschung – anders als die Ärzteschaft – eine Art „blinder Fleck“ darstellten, also lange unter dem Radar der betreffenden Forscher blieben.2

Tabelle 1 bietet eine Auflistung aller 48 betreffenden Personen.3

Im ermittelten Kollektiv überwogen bei Weitem die Zahnärzte (n = 29) gegenüber den nichtakademischen Dentisten beziehungsweise Zahntechnikern. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil in den 1930er-Jahren noch deutlich mehr nichtakademische als akademische Zahnbehandler tätig waren, so dass wir hier von einem umgekehrten Mehrheitsverhältnis sprechen müssen. Ein möglicher Erklärungsansatz liegt darin, dass die studierten Zahnärzte in der Regel deutlich höhere Dienstränge und Positionen im NS-System innehatten und damit in der Regel eine höhere Verantwortung trugen, zum Beispiel in den Konzentrationslagern als Leiter der Zahnstationen, aber auch in der Wehrmacht und in der Zivilgesellschaft.4

Damit boten sich ihnen auch mehr Handlungsspielräume, um Verbrechen zu verüben beziehungsweise – allgemein gesprochen – Schuld auf sich zu laden. Die häufigsten Tatvorwürfe waren demnach Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag (n = 8), der Raub von Zahngold (n = 8) und die Beihilfe zum Mord (n = 7) beziehungsweise zum Totschlag (n = 2).

15 der 48 Zahnbehandler wurden zum Tode verurteilt – sechs durch französische Gerichte, jeweils drei durch amerikanische und sowjetische Gerichtsbarkeiten, zwei durch britische Gerichte und einer durch das sogenannte Militärgericht in Belgrad. Zehn Zahnärzte landeten (vergleichsweise spät) vor deutschen Gerichten: Hier gab es eher milde Urteile, namentlich fünf Haftstrafen (von fünf Monaten bis zu sieben Jahren), zwei Freisprüche, ein Fallenlassen der Anklage und zwei Verfahrenseinstellungen. Ohnehin fällt auf, dass der Zeitpunkt des Urteils einen entscheidenden Einfluss auf die Strafe hatte: Die meisten Todesstrafen ergingen bis 1947, aber auch hohe Haftstrafen waren in dieser frühen Zeitphase häufiger.

 

Bemerkenswert ist auch, dass das Gros der zu Haftstrafen verurteilten Zahnbehandler nach ihrer Entlassung im Zahnarztberuf weiterarbeiten konnte – vielfach auch in eigener Praxis: Walter Bremmer etwa arbeitete bis 1982 in seiner Praxis im Landkreis Waldeck-Frankenberg weiter. Willy Frank fand nach seiner Haftentlassung dank seines Sohnes, der ebenfalls Zahnarzt wurde, eine Anstellung als Vertreter in einem pharmazeutischen Unternehmen. Otto Hellmuth war nach seiner Entlassung wieder in Reutlingen als niedergelassener Zahnarzt tätig, Walter Höhler nahm 1950 seine Praxistätigkeit in Alsfeld wieder auf und Helmut Kunz5 eröffnete eine eigene Praxis in Freudenstadt. Gleiches gelang Heinrich Müller 1953 in Gelsenkirchen, Hermann Pook6 im norddeutschen Hemmingstedt oder Willi Schatz7 in Hannover. Viele dieser Zahnärzte schlüpften so – häufig in kleineren, beschaulichen Städten – wieder in ihre Rollen als respektierte Bürger, von deren NS-Vergangenheit die meisten Patienten und Nachbarn keine Ahnung hatten.

Unterzeichner der „Einheitsfront“

Während sich unter den besagten Kriegsverbrechern kein Hochschullehrer befand, betraf die „Einheitsfront“ ausschließlich Professoren und Privatdozenten.8

Am 24. Juni 1933 – knapp fünf Monate nach Hitlers Machtübernahme – nahmen insgesamt 38 zahnärztliche Hochschullehrer in Leipzig an einem Treffen mit dem neu ernannten nationalsozialistischen Reichszahnärzteführer (und praktischen Zahnarzt) Ernst Stuck9 teil (Tabelle 2). Es handelte sich hierbei um das Who‘s who der deutschen universitären Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – darunter Fachvertreter mit internationaler Geltung wie Georg Axhausen10, Hermann Euler11 und Wolfgang Rosenthal12.

Bei jenem in der Forschung lange kaum beachteten Treffen galt es zum Ersten, Prof. Dr. Otto Loos13 aus Frankfurt am Main als „Führer der zahnärztlichen Dozentenschaft“ zu bestätigen. Zum Zweiten ging es darum, explizit anzuerkennen, dass sich auch Loos dem neuen Reichszahnärzteführer unterordnete, um „unter völliger Anerkennung einer einheitlichen Führung und des Autoritätsprinzips [...] die großen Aufgaben zu lösen, die auch die deutsche Zahnärzteschaft im neuen Reich zu erfüllen“ habe.14 Jene Zusammenkunft markiert somit die „Selbstgleichschaltung“ führender zahnärztlicher Hochschullehrer.

Ein Artikel über dieses Zusammentreffen erschien 1933 in den zwischenzeitlich ebenfalls nationalsozialistisch ausgerichteten „Zahnärztlichen Mitteilungen“ (Abbildung).14 Die Zeitschrift veröffentlichte die Liste derer, die in Leipzig anwesend waren und Stuck und Loos ihre Unterstützung zusicherten. Der Artikel nennt sie „die bevollmächtigten Vertreter sämtlicher zahnärztlicher Universitätsinstitute“. Im Rahmen unseres Projekts galt es, die Lebensläufe der 38 Hochschullehrer – und hierbei insbesondere deren Verhältnis zum Nationalsozialismus und die einzelnen Karriereverläufe zwischen 1933 und 1945 – zu beleuchten. 29 der 38 Hochschullehrer der „Einheitsfront“ schlossen sich im „Dritten Reich“ der NSDAP an, fünf traten (zudem) der SS bei. Derartige Mitgliedschaften erwiesen sich als stark karrierefördernd: Alle fünf SS-Mitglieder (Fabian15, Müller, Scheidt, Schmidhuber16 und Wannenmacher) und rund zwei Drittel der NSDAP-Mitglieder konnten ihre berufliche Position zwischen 1933 und 1945 – zum Teil ganz erheblich – verbessern.

Deutlich wird aber auch, dass einige Unterzeichner der „Einheitsfront“ im „Dritten Reich“ Karrierebrüche erlebten. Dies betraf einzelne Personen, die sich zwar initial der Einheitsfront angeschlossen hatten, aber in der Folgezeit eine zunehmend kritische Distanz zum Nationalsozialismus beziehungsweise den Maßnahmen des Regimes entwickelten und dementsprechend als nicht linientreu galten. Eindrucksvolle Beispiele hierfür liefern Hermann Peckert und Karl Zilkens: Beide blieben nicht nur der Partei fern, sondern äußerten sich auch kritisch zum Nationalsozialismus und wurden 1936 zwangsemeritiert. Auch der Berliner Ordinarius Georg Axhausen – ebenfalls kein NSDAP-Mitglied – ging mit den Jahren auf Distanz. Er trat zum Beispiel öffentlich gegen die Zwangssterilisation von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ein und entschied sich nach einigen negativen Erfahrungen 1939 zur vorzeitigen Emeritierung.

 Doch auch innerhalb der Gruppe der Parteimitglieder finden sich Personen mit Karrierebrüchen: Hier waren es zumeist parteiinterne Grabenkämpfe beziehungsweise Unterstellungen, die zu beruflichen Sanktionen führten – so bei Friedrich Proell, Rudolf Weber oder Wolfgang Rosenthal. Letzteren ereilte 1937 der Vorwurf, ein „Vierteljude“ zu sein. In der Folgezeit büßte er nicht nur seine Parteimitgliedschaft, sondern auch seine Hochschulposition ein.17

Namensgeber mit NS-Vergangenheit

In vielen der in den vergangenen Monaten präsentierten Täterbiografien wurde darauf hingewiesen, dass das parteipolitische Bekenntnis zum Nationalsozialismus einer Nachkriegskarriere nicht entgegenstand. Dies galt insbesondere für Professoren, aber auch für Berufspolitiker. Einige ehemalige Parteimitglieder wurden sogar in der Bundesrepublik (zum Teil posthum) zu Namensgebern von Auszeichnungen und Institutionen gemacht.

Doch wie häufig kam es letztlich vor, dass NSDAP-Mitglieder nach 1945 in einer solchen herausgehobenen Weise gewürdigt wurden – und durch das Beibehalten des Namens weiterhin geehrt werden? Auch dieser Frage gingen wir im Rahmen einer systematischen Recherche nach. Vor dem Beginn des Forschungsprojekts kannte man hierfür nur wenige Beispiele – namentlich die Otto-Loos-Medaille18 und der gleichnamige Preis, die Hermann-Euler-Medaille19 und die gleichnamige Gesellschaft sowie den Martin-Waßmund-Preis20. In allen Fällen kam es jeweils nach zum Teil heftigen Diskussionen zu Umbenennungen.

Unsere projektbezogenen Recherchen förderten seit 2017 viele weitere derartige Beispiele zutage: Insgesamt konnte für 17 Namensgeber ein parteipolitisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus nachgewiesen werden (Tabelle 3). Auch hier kam es in den vergangenen Monaten zu ersten Umbenennungen, wobei wir uns im Projekt bewusst auf die Recherche der historischen Fakten beschränkten. Die Frage einer Umbenennung ist eine nachgelagerte fachpolitische Entscheidung, die den hierfür jeweils zuständigen Fachgesellschaften und Institutionen obliegt. Ohnehin gilt, dass jeder Einzelfall für sich zu beurteilen und zu bewerten ist.

Schlussbemerkungen

Die hier erwähnten Zahlen könnten den Eindruck erwecken, dass die (Täter-)Forschung zur Zahnmedizin im „Dritten Reich“ nunmehr abgeschlossen sei. Doch dieser Eindruck täuscht. Wir konnten viele wichtige Punkte klären, doch zugleich wurden andere, neue Fragen aufgeworfen und manche Aspekte werden sich nur mit weiteren Fördergeldern beantworten lassen, weil sie rechercheintensiv und methodisch und zeitlich sehr aufwendig sind. So wissen wir immer noch wenig über das Ausmaß der Beschäftigung von Zwangsarbeitern in zahnärztlichen Praxen und Haushalten im „Dritten Reich“. Nach wie vor fehlen uns auch belastbare Zahlen in Bezug auf die (auf Anzeige von Zahnärzten und Kieferchirurgen) zwangssterilisierten Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Auch die Netzwerkforschung – das heißt die Beziehungen und wechselseitigen Informationen und Protektionen unter den politisch verstrickten Zahnärzten im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland – steht noch ganz am Anfang; ein derzeit in der Endredaktion befindliches Zahnärztelexikon wird dafür zumindest erste Ansatzpunkte liefern.21

Schließlich haben viele zahnärztliche Fachgesellschaften – anders als die DGZMK – noch keine Aufarbeitung ihrer Geschichte initiiert. Dementsprechend ist in diesen Organisationen zum Beispiel nicht geklärt, welche ihrer Vorsitzenden, Ehrenpräsidenten, Ehrenmitglieder oder Medaillenträger politisch verstrickt waren und wie damit umzugehen ist (was im Übrigen auch für die Frage nach der etwaigen Ausgrenzung jüdischer Mitglieder gilt). Für die DGZMK konnten diese Recherchen im Rahmen des hier skizzierten Projekts erfolgen. Als besonders markanter Fall erwies sich dabei Gerhard Steinhardt (1904–1995) – einerseits Waffen-SS-Mitglied und andererseits DGZMK-Präsident (1965–1969), Träger der Ehrennadel (1974) und Ehrenmitglied der DGZMK (1977)22. Es ist jedoch davon auszugehen, dass andere Fachgesellschaften mit einer ähnlichen „historischen Hypothek“ belastet sind.

Unbeschadet dieser offenen Fragen bleibt festzuhalten, dass das vergangene Forschungsvorhaben sehr grundlegende Erkenntnisse zutage gefördert hat. Möglich machten dies zum einen überdurchschnittlich engagierte Projektmitarbeiter, zum anderen aber auch die Vertreter der Fördereinrichtungen BZÄK, KZBV und DGZMK, die das Vorhaben uneingeschränkt unterstützten. Dank dieser Rahmenbedingungen konnte das Projekt eine beträchtliche Reichweite und Resonanz erzielen: Dies zeigen zahlreiche Berichte in den Tageszeitungen – von der deutschen „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ)23 bis zur englischen „Times“24 –, aber auch in den wissenschaftlichen Fachzeitschriften, wodurch die Projektergebnisse buchstäblich weltweit25 bekannt wurden.

Gerade diese internationalen Publikationen bezeugen die Bereitschaft der deutschen Zahnärzte zur Aufarbeitung eines schmerzhaften und dunklen Kapitels ihrer Berufsgeschichte. Es bedarf keiner Prophetie, um hierin ein bleibendes Verdienst der heutigen Kollegenschaft zu erkennen.

Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und
Ethik der Medizin der RWTH Aachen
Klinisches Ethik-Komitee des
Universitätsklinikums Aachen MTI 2,
Wendlingweg 2, 52074 Aachen E-mail:

Fußnoten:

1 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020;
2 Groß, 2018a;
3 Rinnen/Westemeier/Gross, 2020;
4 Westemeier/Groß/Schmidt, 2018
5 Heit et al., 2019; Groß et al., 2020;
6 Schmidt/Groß/Westemeier, 2018; Groß, 2020a;
7 Schwanke/Gross, 2020;
8 Bitterich/Gross, 2020;
9 Groß, 2020b;
10 Groß, 2018b;
11 Staehle/Eckart, 2005; Groß/Schmidt/Schwanke, 2016; Groß, 2018c; Groß, 2020c;
12 Koch, 2011; Groß, 2018d; Groß/Westemeier/Schmidt, 2018;
13 Kirchhoff, 2002; Groß, 2020d;
14 Einheitsfront, 1933
15 Groß, 2020e;
16 Groß, 2020f
17 Groß, 2018d;
18 Kirchhoff, 2002; Groß, 2020d;
19 Groß/Schäfer, 2009;
20 Gemeinsame Stellungnahme, 2012, 5; Thieme, 2018
21 Groß, 2021;
22 Groß/Schäfer, 2009;
23 Miehm, 2019; Groß/Krischel, 2019;
24 Moody, 2019;
25 Heit et al., 2019; Reinecke/Westemeier/Gross, 2019; Rinnen/Westemeier/Gross, 2020; Gross/Hansson, 2020; Duckwitz/Groß, 2020; Schunck/Gross, 2021; Wilms/Gross, 2021

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