Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus

Kritische Anmerkungen zum NS-Forschungsprojekt

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Hinsichtlich des Zeitpunkts befand sich die Zahnärzteschaft mit der Aufarbeitung ihrer fatalen Rolle im System des Nationalsozialismus in „guter Gesellschaft“; sie konkurrierte mit staatlichen Institutionen wie dem Bundesinnen- und dem -außenministerium. Damit war sie genuiner Teil derer, die nach den Worten des Vorstandsvorsitzenden der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Dr. Wolfgang Eßer, durch „lange ausgeblendete Realitäten“1 dazu beitrugen, die Opfer erneut zu demütigen und den latenten Antisemitismus, Rassismus etc. in der Bevölkerung zu bedienen. Sie verpasste die Chancen, NS-induzierte Strukturveränderungen zum Vorteil GKV-Versicherter zu revidieren und die erodierenden demokratischen Verhältnisse allgemein und innerhalb der eigenen Berufsgruppe zu festigen. Etwa 75 Jahre im Anschluss an die Befreiung vom Faschismus zeigte sich die verfasste Zahnärzteschaft partiell bereit, sich der These des Historikers Norbert Frei aus dem Jahr 2019 zögerlich zu nähern: „Ein Erinnern, das ohne fundiertes historisch-kritisches Wissen auszukommen glaubt, wird den Herausforderungen von rechts nicht standhalten.“

Der Umfang und die Ergebnisse des unter der Leitung der Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß, Dr. Matthis Krischel et al. Ende 2019 abgeschlossenen Projekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ sind hinsichtlich der entstandenen Materialfülle, der Erweiterungen der zuvor nicht immer validen Grundlagen, zahlreicher Biografien und der leider fragmentären gesundheitspolitischen Gesamteinschätzung fachlich, auch didaktisch beeindruckend. Die erarbeiteten medizin-historisch und standespolitisch bedeutsamen Ergebnisse tragen hoffentlich dazu bei, ein Zurückfallen hinter diese Fakten durch den sich bereits abzeichnenden historischen Revisionismus zu verhindern.

Diejenigen, denen das bereits seit den 1980er-Jahren erarbeitete medizin-historische Material bekannt war, hatten keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse erwartet. Die Ergebnisse waren allerdings nicht „umfassend“, wie auf der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Projekts am 28. November 2019 insinuiert wurde. Dessen ungeachtet: Die Spannweite von der 1983 in den Zahnärztlichen Mitteilungen zitierten Einlassung des Präsidenten des Bundesverbands Deutscher Zahnärzte (BDZ, heute Bundeszahnärztekammer), Dr. Horst Sebastian, dass der Faschismus unter den Zahnärzten gar nicht zuhause gewesen wäre2 bis zu dem aktuellen Eingeständnis, in der Vergangenheit eine Berufsgruppe dargestellt zu haben, in der sich die Nationalsozialisten so zahlreich versammelt hatten wie in keiner anderen, verdient Anerkennung. 

Gleichwohl generierte die Präsentation des Forschungsprojekts zu korrigierende Interpretationen. Nach etwa 40 Jahren intensiver Befassung mit diesem Thema, zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen, Vorträgen und der teilweisen Koordination des wissenschaftlichen Materials zahlreicher Autoren im Rahmen der Publikationsmöglichkeiten der Vereinigung Demokratische Zahnmedizin e. V. (VDZM) und anderweitig, erlaube ich mir eine redaktionell begrenzte Auswahl kritischer Annotationen. 

Forschungsstand nur eine Momentaufnahme

Die Beurteilung der NS-Aufarbeitung durch BZÄK, KZBV und die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde e. V. (DGZMK) als „die erste umfassende historisch-kritische Darstellung der Geschichte der Zahnärzteschaft und ihrer Organisationen in den Jahren 1933 bis 1945 sowie in der Nachkriegszeit“3 auf der Berliner Pressekonferenz erzeugte einen unzutreffenden Eindruck; die Attribute „umfassend“ und „historisch-kritisch“, insbesondere hinsichtlich des Anspruchs einer substanziellen Darstellung der „Nachkriegszeit“ waren zu hoch gegriffen; sie bedürfen der Relativierung. Die inkriminierte Feststellung entspricht der Sichtweise euphemistischer Standesoptik. 

Wenn sich hinter dem Adjektiv erstmals „umfassend“ keine klammheimliche „Schlussstrich-Mentalität“ verbirgt, dann kann es sich allenfalls auf den aktuellen Forschungsstand als erweiterungsbedürftige Momentaufnahme beziehen. Zu ihrer Zeit jeweils erstmals „umfassend“ waren bereits die Inhalte der umfangreichen Buchpublikationen zu diesem Thema von Dr. Wolfgang Kirchhoff4 1987, Dr. Norbert Guggenbichler5 1988 und Dr. Wolfgang Kirchhoff / Prof. Dr. Caris-Petra Heidel6 2016. 

Die Projekt-Ergebnisse wären umfassender gewesen, hätte die Standespolitik der Vor- und Nachkriegszeit mit ihrem gesundheitspolitischen Einfluss auf die Versorgungsrealität „historisch-kritisch“ stärker im Vordergrund gestanden. Auf die NS-Zeit bezogen fehlen Forschungsergebnisse über „Arisierungen“ von und Zwangsarbeit in Zahnarztpraxen/Laboratorien. Für den Hochschulbereich fehlen die systematische Darstellung der politischen Agitation und die Einflussnahme der Studentenschaft auf die Ideologisierung des Unterrichts und die Vertreibung von Hochschullehrern. Die Mitwirkung von Schulzahnärzten innerhalb der Verbrechensstruktur der Gesundheitsämter bedarf weiterer Aufklärung. Die im Fall des „Zentralblatts“ vorliegende kritische Aufarbeitung der Fachpresse hinsichtlich rassenhygienischer, sozialdarwinistischer und kriegsvorbereitender Inhalte bedarf der Ausweitung auf das gesamte zahnmedizinische Schrifttum dieser Zeit. Unbearbeitet blieb die internationale ökonomische Bedeutung des Goldraubs in den Konzentrationslagern. Es fehlen kritische Studien über die epidemiologische und soziale Bedeutung der gemeinsam von den Eliten des NS-Systems und der Zahnärzteschaft betriebenen Liquidierung von Ambulatorien, Zahnkliniken7, den Institutionen der Kinder- und Jugendzahnheilkunde mit ihren Auswirkungen bis in die heutige Zeit. 

Die Folgen der sozialdarwinistischen Berufseinstellung der Zahnärzteschaft und deren Einfluss auf die gesundheits- und sozialpolitische Versorgungsrealität in der BRD bedürfen der wissenschaftlichen Analyse. Es fehlen auf die Zeit nach 1945 bezogene Ergebnisse über das Schicksal der Remigranten, die kritische Analyse des Einflusses ehemaliger NS-Funktionsträger auf die Marginalisierung des ÖGD hinsichtlich der Jahrzehnte anhaltenden desaströsen Zustände in der Kinder- und Jugendzahnpflege und auf die Auswirkungen der Monopolisierung des renditeorientierten Versorgungssystems in Westdeutschland. 

Die führende Rolle des bis 1987 noch mit einem ehemaligen NSDAP-Mitglied besetzten Vorstands des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte (FVDZ) hinsichtlich der langjährigen inhaltlichen/personellen Dominanz der Selbstverwaltungsorgane der westdeutschen Zahnärzteschaft und der Kontinuität ihrer noch immer aktuellen Versuche einer Zerschlagung der Grundlagen der GKV blieb ausgespart. Für die Mitglieder des FVDZ bedeutete allein die Existenz des Krankenscheins die Verwirklichung des Sozialismus. Ohne die seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannte Akkumulation von Risikofaktoren bei der Entstehung von Karies und Parodontopathien zu berücksichtigen, propagierten sie die Selbstverschuldungslegende und beschimpften die sich ihnen anvertrauenden Patienten und Patientinnen sozialdarwinistisch tradiert als „Oralsäue“. 

Die These des BZÄK-Präsidenten Dr. Peter Engel, dass die frühen Beiträge zur Aufarbeitung der zahnärztlichen Rolle im Nationalsozialismus von Autoren außerhalb des fachhistorischen Wissenschaftsbetriebs von einer Gruppe niedergelassener Zahnärztinnen und Zahnärzte ohne Außenwirkung verfasst und publiziert wurden, ist unzutreffend. Diese Deutung dokumentiert die Persistenz eingeübter Abwehrstrategien. Es ist der Versuch, die Fülle und die Präsenz des im Zeitraum von 1980 bis 2000 erarbeiteten wissenschaftlichen Materials zu externalisieren, um die damalige Untätigkeit der Zahnärzteschaft in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Mit sehr wenigen Ausnahmen, zu denen ein Teil der Arbeiten des Autors dieses Beitrags zählt, handelte es sich um Publikationen mit aus Dissertationen destillierten Forschungsergebnissen ost- und westdeutscher Universitäten. 

Die Legende von der frühen Aufarbeitung 

Zutreffend ist, dass sich eine Gruppe idealistisch eingestellter, niedergelassener Zahnärztinnen und Zahnärzte in der VDZM zusammengeschlossen hatte und die Publikation dieser Arbeiten in der Vereinszeitschrift „der artikulator“, teilweise im Rahmen von Sonderheften (1983, 2002), durch ihre Mitgliedsbeiträge ermöglichte. Von 1978 bis 2002 ging diese Zeitschrift komplett allen medizin-historischen Instituten, Bibliotheken, Universitätszahnkliniken und den Institutionen der Selbstverwaltung kostenfrei zu. Zutreffend ist auch, dass die Publikationen dieser Autorinnen und Autoren „nicht in breit rezipierten zahnärztlichen Standesorganen erschienen“. 

Die Begründung dafür ist profan: Unter anderem die zm übten eine berufsinterne Zensur mit der Begründung aus, man dürfe die Kollegenschaft durch Informationen dieser Art „nicht spalten“. Während die zm vorgaben, einen Beitrag über den Zahnarzt von Anne Frank wegen etwaiger ideologischer „Spaltung der Kolleginnen und Kollegen“ nicht zu publizieren, mag man nicht zu Ende denken, aus welchen Gründen zum Beispiel die Biografie der NS-Stütze und Reichdozentenführers, Teilnehmers des Novemberputsches von 1923 und Blutordensträgers Karl Pieper mit dem Hinweis auf äußerst fragwürdige Nachkriegsverdienste publiziert wurde.

Die hier zur Diskussion stehende Thematik war in der Öffentlichkeit präsent. Der Kongress „Zahnmedizin und Faschismus“ der VDZM in Hannover fand 1982 unter Teilnahme bekannter Wissenschaftler statt. Es gab öffentliche Vorträge an den Universitäten Marburg (1984, 1990), der Universität Regensburg (1998) und öffentliche Ringvorlesungen an der Technischen Universität Dresden (1993, 1999, 2003) zu diesem Thema. Im Rahmen der seit 25 Jahren regelmäßig von der TU Dresden durchgeführten öffentlichen Veranstaltungsreihe „Medizin und Judentum“ wurden zahlreiche Vorträge über die jüdischen Protagonisten der sozialen Zahnheilkunde gehalten und anschließend publiziert8.

Die skandalösen Diskurse über die Verleihungen des Otto-Loos-Preises (Reichsdozentenführer) der Landeszahnärztekammer Hessen wurden in „Der Hessische Zahnarzt“ öffentlich und intern mit teilweise heute noch Standespolitik praktizierenden Zahnärzten ausgetragen. Ein ehemaliger geschäftsführender Direktor der Frankfurter Universitätszahnklinik und gleichzeitig unbelehrbarer Apologet des Reichsdozentenführers Otto Loos drohte 1988 den demokratischen Aufklärern als „treuloser Minderheitsgruppierung von ideologischen Dialektikern“ in tradierter Diktion mit den „Selbstreinigungskräften“(!) der Zahnärzteschaft9. Diese und andere Ausschnitte aus der Nachkriegszeit umfassend und kritisch-historisch aufzuarbeiten, wäre genuiner Bestandteil der „Bringschuld“ gewesen.

Die Wissenschaft hat total versagt

Unstrittig ist das totale Versagen der zahnmedizinischen Wissenschaft von 1933 bis 1945. Für die Zeit nach 1945 markierte Prof. Dr. Frankenberger deren fortgesetztes Versagen mit den Eigenschaften des politisch angepassten Verhaltens, des Ausblendens und dauerhaften Wegschauens. Das betraf die meisten Medizinhistorischen Institute und Universitätszahnkliniken Westdeutschlands – das betraf etwa ab Mitte der 1980er-Jahre nicht mehr die Institute in Berlin-Ost, Dresden oder Leipzig. In Westdeutschland wurde nicht nur ausgeblendet und weggeschaut, es wurden mithilfe von inhaltlich revisionistischen Dissertationen Hochschullehrer rehabilitiert. 

Im Kontrast dazu wurden einige medizin-historisch relevante Dissertationsthemen zur Verfügung gestellt, deren Zielsetzung einer seriösen wissenschaftlichen Bearbeitung galt. Dazu zählten für den Zeitraum vom Ende der 1980er-Jahre bis etwa zur Jahrtausendwende die Dissertationen von Dr. Norbert Guggenbichler (Frankfurt 1988) und Dr. Gisela Kleine (Dresden 1989) als Gesamtübersichten, von Dres. Kerstin Pfeifer & Rüdiger Pfeifer (Dresden 1988) über die Geschichte der sozialen Zahnheilkunde, von Dr. Wilhelm Schulz die Durchführung der zahnmedizinischen Versorgung durch die Waffen-SS in den Konzentrationslagern (Bonn 1989), von Dr. Thomas Nickol die Biografie über Carl Röse (Leipzig 1991) und andere Beiträge, von Dr. Ulrich-Wilhelm Depmer über Flucht und Exil (Kiel 1993), von Dr. Michael Köhn über Berufsverbote, Emigration und Verfolgung der Berliner Zahnärzte (Berlin 1994), Dr. Andreas Moerner über die Dentistenfrage (Leipzig 1996), Dr. Kai Peter Müller über die Schulzahnpflege bis 1945 (Göttingen 1997) und Dr. Bettina Wündrich über die „neue deutsche ZHK“ (Heidelberg 2000). Hinzu kam eine größere Anzahl von Dissertationen über die Schicksale von Zahnärzten und Zahnärztinnen jüdischer Abstammung aus verschiedenen Regionen Deutschlands, deren Daten von der VDZM gesammelt, erweitert und ab 2002 als „Opferliste“ ins Netz gestellt wurden. 

Wichtig: Ein Bekenntnis zur Mitverantwortung

Prof. Dr. Frankenberger kam auf der Pressekonferenz zu dem realistischen Schluss, dass hinsichtlich der Aufarbeitung grundlegende Erkenntnisse gewonnen wurden, doch viele Fragen offen sind. Zu hoffen ist daher, dass auf dem Weg zu weiteren Forschungsergebnissen beim nächsten Deutschen Zahnärztetag ein der Nürnberger Erklärung des 115. Ärztetages vom Mai 2012 analoges Bekenntnis über die wesentliche Mitverantwortung der Zahnärzteschaft an den Unrechtstaten der NS-Medizin abgelegt wird. 

Dr. med. dent. Wolfgang Kirchhoff

Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher und medizin-historischer Veröffentlichungen zur NS-Vergangenheit der Zahnärzteschaft

1 Eßer W. Dokumentation der Ergebnisse des Forschungsprojekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“. Pressekonferenz am 28.11.2019 in Berlin. S. 2/3;

2 Römer F. Die Patienten waren Mit-Akteure. zm 73:1582–1583. 1983;

3 Dokumentation der Ergebnisse des Forschungsprojekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“. Pressekonferenz am 28.11.2019 in Berlin. S. 1;

4 Kirchhoff W (Hg). Zahnmedizin und Faschismus. Marburg 1987;

5 Guggenbichler N. Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz. Frankfurt 1988.

6 Kirchhoff W / Heidel CP. „…total fertig mit dem Nationalsozialismus“? Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus. Frankfurt 2016; s. Rezension Thieme V. Die weißen Flecken in der braunen Geschichte der Zahnmedizin. In: zm 107, Nr. 21, 1.11.2017, (2518); s. Rezension ACW. „..total fertig mit dem Nationalsozialismus“? In: Der Hessische Zahnarzt. Heft 1–2. Jan./Febr. 2020. S. 94; 

7 Kirchhoff W. Schwarze Löcher in der zahnmedizinischen Geschichte? In: zm 106. Nr. 11 A, 1.6.2016, (1222);

8 Vergl. u.a. Kirchhoff W. Ärzte und Judentum im Spiegel der Geschichte. www.zm-online.de/archiv/2010/04/gesellschaft/aerzte-und-judentum-im-spiegel-der-geschichte/; zuletzt aufgerufen am 18.02.2021;

9 Vergl. ausf. Kirchhoff W. Faschismusrezeption der deutschen Zahnärzteschaft – die Wahrheit verjährt nicht. In: Kirchhoff W / Heidel CP. „…total fertig mit dem Nationalsozialismus“? Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus. Frankfurt 2016. S.325–426;

Dr. med. dent. Wolfgang Kirchhoff


Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher und medizin-historischer Veröffentlichungen zur NS-Vergangenheit der Zahnärzteschaft

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