Bericht der Grünhelme

Einsatz in Syrien

Wie wichtig sind Zahnstein oder Karies, wenn es Bomben regnet? Wer denkt schon an einen Zahnarztbesuch, wenn er um sein Leben fürchten muss? Was, wenn der eigene Zahnarzt längst das Land verlassen hat und die Praxis gar nicht mehr existiert? Vor gut fünf Jahren haben wir Grünhelme, ein humanitärer Verein mit Sitz in Bonn, erfahren, dass es in Syrien kaum Hilfe im zahnmedizinischen Bereich gibt.

Zwar sind in Syrien einige Hilfsorganisationen im Einsatz, die sich um die Basis-Gesundheitsversorgung kümmern, die Zahnmedizin bleibt jedoch oft außen vor, da sie in der allgemeinen Notlage als nicht dringlich angesehen wird. Da traf es sich gut, dass uns ein großes, voll funktionsfähiges Wohnmobil geschenkt wurde, das wir kurzerhand zu einer mobilen Zahnarztpraxis umbauten. Eine fahrende Praxis also, die sich flexibel zwischen den verschiedenen Standorten rund um Aleppo bewegen und Patienten behandeln kann. Deutsche Zahnärzte nach Syrien zu senden, wäre zu gefährlich gewesen.

Mit der syrischen Organisation Independent Doctors Association (IDA) war schnell und unbürokratisch ein verlässlicher Partner vor Ort gefunden. Seither fährt das Zahnarztmobil von Flüchtlingscamp zu Flüchtlingscamp und führt kostenlos Behandlungen durch. Das medizinische Personal besteht aus einem Zahnarzt und seiner Assistentin, beide arbeiten an sechs Tagen die Woche von morgens bis abends in dem Mobil.

Nach zehn Jahren Bürgerkrieg ist das provisorische Leben in den Zelten in Syrien leider an vielen Orten und für viele Menschen zum Dauerzustand geworden. 

Viele haben seit Jahren keinen Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung

Von Anfang an begleitet der Zahnarzt Dr. Basil Orfali das Projekt, er ist unser wichtigster Mann vor Ort. Er erzählt: „Ich sehe einige Patienten, die zu lange mit dem Zahnarztbesuch gewartet haben, oft weil sie schlicht keine Möglichkeit dazu hatten. Ich hätte viele Zähne retten können, wenn ich die Patienten früher gesehen hätte. Ungefähr die Hälfte der Patienten sind Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Sie leiden unter Karies, aber auch unter kieferorthopädischen Problemen. Alle medizinischen Leistungen sind in der mobilen Zahnklinik verfügbar, mit Ausnahme von festen und mobilen Zahnprothesen. Oft wurde eine Zahnbehandlung an einem alten Wohnort angefangen, und dann nicht fortgeführt. Viele Menschen hatten jahrelang einfach keinen Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung – weil es keinen Zahnarzt gab oder weil sie kein Geld für die Behandlung hatten – und nehmen viele Schmerzmittel.“

Die Schlangen vor dem Zahnarztmobil waren jeden Tag sehr lang. Zu lang, um sie an einem Tag abzuarbeiten. Schließlich fragte IDA an, ob wir ein zweites Mobil schicken könnten. Gesagt, getan! Wir konnten einem Lebensmittelhändler sein gut erhaltenes Fahrzeug abkaufen und bauten auch das zu einer Zahnarztpraxis um – mit Zahnarztstuhl, sämtlichen Geräten für eine Basisausstattung und einer Grundversorgung an Verbrauchsmaterialien. Wie bei der ersten fahrenden Praxis wurde eine Solaranlage aufs Dach montiert, damit das Mobil sich selbst mit Strom versorgen kann.

Wir vereinbarten, dass die benötigten Utensilien in Zukunft vor Ort beschafft werden sollten. Das ist logistisch wesentlich einfacher und billiger, außerdem können die beiden Zahnärzte so mit den Materialien arbeiten, die sie kennen. Die zweite mobile Zahnarztpraxis wurde 2019 in die Türkei verschifft, nach Aleppo gefahren und ist seitdem ebenfalls unermüdlich an verschiedenen Standorten nördlich der Stadt im Einsatz.

Mehr als 39.000 zahnmedizinische Behandlungen konnten in den vergangenen fünf Jahren in beiden Zahnarztmobilen durchgeführt werden, allesamt kostenfrei. Die sonst sehr hohen Behandlungskosten übersteigen meist die finanzielle Kapazität vieler Menschen – wenn überhaupt Privatkliniken oder Praxen in der Nähe des Wohnorts auffindbar sind. Zwei Drittel der Behandelten sind weiblich. Das liegt daran, dass viele Familien auseinandergerissen wurden, viele Männer leben in der Türkei, um dort Geld zu verdienen und nach Hause zu schicken.

„Viele Patienten befinden sich in einem labilen psychischen Zustand, aber es ist immer auch Hoffnung da und der Traum von einer besseren Zukunft“, erzählt Orfali. „Der schlechte Zustand ihrer Zähne ist für viele Menschen eine zusätzliche Belastung – sowohl was die Schmerzen angeht, als auch der ästhetische Aspekt. Sichtbare Karies oder eine auffällige Fehlstellung der Zähne führen häufig auch zu sozialen Problemen – etwa zur Angst, vor anderen zu sprechen und zu lächeln.“

Die Kinder durchleben die Angst vor den Raketen immer wieder

Aleppo ist zu großen Teilen zerstört. Die Einwohner verteilen sich auf verschiedene Camps rund um die Stadt, geblieben sind diejenigen, die das Land nicht verlassen haben oder bei Verwandten anderswo in Syrien unterkommen konnten. Wie Orfali berichtet, haben vor allem viele Kinder psychische Probleme. Sie durchleben die Angst und Panik wegen der Raketen, die oft im Schlaf auf ihren Häusern landeten, immer wieder. Viele von ihnen sahen unter den Trümmern des Hauses tote Familienmitglieder. Viele Familien wurden getrennt. Bis heute leben die Kinder in dieser instabilen Umgebung, die kleineren unter ihnen können sich an kein anderes Leben als das unstete und improvisierte Hausen in den Camps erinnern.

Orfali erzählt auch seine eigene Geschichte als Zahnarzt, als Familienvater und als Ehemann im Krieg. 2016 musste er in die Region nördlich von Aleppo fliehen. Das habe bei ihm viel psychisches und physisches Leid verursacht, sagt er. Sein Weg zur Arbeit sei gefährlich geworden, er sei mehrmals verletzt worden. „Viele Freunde und Patienten, mit denen ich Kontakt hatte, starben oder flohen. Unser medizinisches Zentrum in Aleppo wurde mehrmals bombardiert und wir versteckten uns viele Male mit Patienten in den Kellern bis zum Ende der Razzien oder des Beschusses.“ Schließlich sei er gezwungen gewesen, seine Familie an einen sichereren Orte gehen zu lassen. Die Angst um ihr Leben war zu groß geworden. Er blieb allein in Syrien, ohne seine Frau und die vier gemeinsamen Kinder. Er selbst sieht es als seine Pflicht an, in Aleppo zu bleiben, um den Menschen zu helfen. Das ist seine Heimatstadt, hier hat er studiert.

In Aleppo gab es während der für die Stadt akuten Kriegsphase nur fünf Zahnärzte auf 400.000 Einwohner, Orfali war einer von ihnen. „Ich leide sehr unter der Trennung von meiner Familie, aber ich bin jetzt als Arzt für die Menschen in Aleppo und in den Flüchtlingscamps da.“

Was er sich wünscht? Orfali: „Ich wünsche mir jeden Tag Frieden und Sicherheit für mein Land und seine Bewohner, und dass wir diesen Krieg endlich hinter uns lassen. Auf persönlicher Ebene möchte ich einfach nur wieder mit meiner Familie zusammen sein.“ 

Yvonne Neudeck

Geschäftsführerin Grünhelme e.V.

Die Grünhelme

Die Grünhelme engagieren sich weltweit in Krisenregionen. Die Organisation konzentriert sich dabei auf den Bau und Wiederaufbau von Schulen und Krankenstationen in Afrika und im Nahen Osten – immer gemeinsam mit den Menschen vor Ort. Die mobilen Zahnarztpraxen sind für sie eine gute Möglichkeit, die Syrer trotz der schwierigen Sicherheitslage zu unterstützen. Auch im Libanon helfen sie syrischen Geflüchteten, indem sie deren Wohnverhältnisse verbessern – viele leben seit zehn Jahren in Zelten – und Schreiner-Fortbildungen anbieten, um jungen Menschen bessere Berufschancen zu ermöglichen.

Die Grünhelme stehen in engem Kontakt mit der Independent Doctors Association und finanzieren die laufenden Kosten für beide mobile Zahnarztpraxen. Das umfasst die Gehälter für beide Zahnärzte und ihre Assistentinnen, die Kosten für zahnmedizinische Verbrauchsgegenstände sowie die Wartung und den Diesel für die beiden Fahrzeuge. Um den Betrieb eines Zahnarztmobils in Aleppo einen Tag lang am Laufen zu halten, werden durchschnittlich 75 Euro benötigt. 

Wer das Projekt unterstützen möchte:

IBAN: DE08 4306 0967 0001 0700 02 
BIC: GENODEM1GLS GLS
Bank Stichwort: Zahnarztmobil

gruenhelme.de

Yvonne Neudeck

Geschäftsführerin Grünhelme e.V.

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