Stellungnahme der DGZMK

Vorgehensweise nach Läsionen der sensiblen Mandibularisäste

Nervus lingualis, Nervus alveolaris inferior oder Nervus mentalis

Zurzeit sind noch keine den Regenerationsprozess induzierenden oder fördernden Medikamente verfügbar, die einen konservativen Therapieansatz nach akzidentellen Nervläsionen unterstützen könnten. Der Nutzen von Medikamenten, wie etwa von Vitamin B-Komplexen (Milgamma®, Neurobion®, Keltican® und mehr), Zink, Nukleotiden oder Gangliosiden für die Nervenregeneration, ist bisher nicht wissenschaftlich gesichert. Eine Differentialtherapie nach einer Läsion des N. lingualis (NL), N. alveolaris inferior (NAI) oder N. mentalis (NM) muss sich an folgenden Gegebenheiten orientieren:

• Die elektrische Leitfähigkeit und damit die Funktion eines Nerven kann bei Läsionen ohne Kontinuitätstrennung, das heißt bei äußerlich intakten Nervenstrukturen, vorübergehend oder abhängig vom Schweregrad irreversibel aufgehoben sein.

•  Kontinuitätsunterbrechungen eines Nerven haben keine Aussichten auf Spontanregeneration, denn die Diastase zwischen den Stümpfen verhindert, dass proximale Axonsprossen den Weg zum Endorgan wiederfinden. Dieser Läsionstyp ist deshalb als absolute Indikation zur mikroneuralen Reparatur anzusehen.

•  Nervverletzungen während dento-alveolär chirurgischer Eingriffe bleiben intraoperativ in aller Regel unbemerkt. Ob die Läsion durch stumpfe oder scharfe Gewalteinwirkung entstanden ist und ob infolgedessen eine Kontinuitätstrennung vorliegt oder nicht, entfällt deshalb als mögliches Beurteilungskriterium.

•  Unmittelbar nach einer Läsion erlaubt auch die klinische Symptomatik keine Differentialdiagnostik der zugrundeliegenden Schadenstypen und keine Aussage über eine Spontanerholung oder permanente Sensibilitätsstörung.

•  Schlüsse auf die zu Grunde liegende Pathologie einer Sensibilitätsstörung sind oft erst nach monatelanger Verlaufsbeobachtung zu ziehen.

•  Entscheidungskonflikte zwischen Abwarten und mikroneuraler Intervention sind in der Akutsituation nach einer Läsion dadurch vorprogrammiert, dass bei Kontinuitätstrennungen nur eine Primär- oder frühe Sekundärversorgung (bis zu drei bis vier Wochen) zu optimalen funktionellen Ergebnissen führt.

•  Bei den nur selten intraoperativ festgestellten Kontinuitätstrennungen eines Nerven ist eine Sofortreparatur (innerhalb von zwei bis drei Tagen) mit mikroneuralen Techniken obligat.

•  Bei Ungewissheit über den Typ akzidenteller Läsionen gestattet bisher nur eine chirurgische Exploration eine relativ exakte morphologische Schadensklassifikation.

Das zeitliche Prozedere bei NL-Läsionen wird aus einigen Gründen anders aussehen als für den NAI oder NM:

•  Die Ausfallsymptomatik nach NL-Läsionen wird gegenüber einem Sensibilitätsverlust nach NAL beziehungsweise NMLäsionen subjektiv als gravierendere Beeinträchtigung empfunden, so dass dringend Handlungsbedarf besteht.

•  Sowohl der NL als auch der NM ist einer chirurgischen Exploration problemloser zugänglich als der im Mandibularkanal durch den Unterkiefer verlaufende NAI.

•  Andererseits dient der Knochenkanal dem NAI nach einer Verletzung möglicherweise als Leitschiene und schafft anscheinend günstigere Regenerationsbedingungen; vielleicht schützt der Kanal aber den Nerven nur besser.

Nach dento-alveolären Eingriffen mit akzidenteller Läsion des NL oder NM und komplettem Funktionsausfall empfiehlt sich eine Revision innerhalb weniger Tage, und zwar umso dringender, je mehr Indizien (Schnittführung, Knochendefekte im Röntgenbild oder CT) den Verdacht auf eine Läsion mit Kontinuitätsunterbrechung nahe legen. Bei noch unvernarbten Weichteilen ist eine Exploration von zehn bis 15 Minuten einfach durchführbar, bedarf jedoch einer Intubationsnarkose, falls eine mikroneurale Reparatur erforderlich ist. Nach narbiger Abheilung werden zur Darstellung weitaus zeitaufwändigere externe Neurolysen notwendig.

Haben sich Patient und Behandler zunächst zu einer konservativ abwartenden Vorgehensweise entschlossen, wurde aber eine operative Behandlung nicht grundsätzlich ausgeklammert, so sollten Kontrolluntersuchungen in kurzfristigen Intervallen von zirka zwei bis vier Wochen durchgeführt werden. Persistieren komplette Funktionsausfälle, dann bleibt der Zeitraum bis zur Intervention kurz.

Auch nach Schädigungen des NAI mit komplettem sensiblen Funktionsausfall ist einem Frühversorgungskonzept der Vorzug zu geben. Allerdings ist die laterale Dekortikation des Mandibularkanals mit späterer Knochendeckelreplantation zur Exploration mit dem Risiko einer weiteren Nervenschädigung verbunden und technisch relativ anspruchsvoll. Nach Möglichkeit sollte die Revision nicht länger als sechs bis acht Wochen hinausgeschoben werden, wenn bei klinischen Kontrollen keinerlei Funktionsrückkehr feststellbar ist.

In den Entscheidungsprozess für oder gegen eine operative Revision wird man die Röntgenbefunde (Wurzelverhältnisse, Mandibularkanal, Knochendefekt) vor und nach dem Läsionseintritt mit einfließen lassen, da sie wertvolle Hinweise auf den Schädigungstyp geben können. Vor jeglicher Maßnahme ist es durchaus vertretbar und sinnvoll zu besprechen, ob, der Patient sich den Sensibilitätsausfall der Unterlippe als Langzeitszenario vorstellen kann und gewillt ist, ihn zu tolerieren.

Bei Patienten, die unter Umständen erst Monate nach einer Verletzung im Versorgungsgebiet des NAI mit persistierenden kompletten Ausfallerscheinungen und dem dringenden Wunsch nach Verbesserung zur Vorstellung kommen, wird man eine operative Revision nicht weiter verzögern.

Nerventeilläsionen in Form einer partiellen Kontinuitätstrennung sind durch Readaptation der betroffenen Faszikel prinzipiell technisch angehbar. In klinischen und elektro-physiologischen Befunden, die präoperativ auf eine Teilläsion deuten, wird gegenwärtig aber noch eine Kontraindikation zum aktiven Vorgehen gesehen. Gründe dafür sind einerseits das unklare pathologische Substrat (Kontinuitätstrennung oder eine reversible/irreversible Läsion in Kontinuität?), zum anderen die Gefahr, funktionell intakte Faserpopulationen zu beschädigen und die klinische Symptomatik zu verschlechtern.

Chemisch-toxisch induzierte Nervenläsionen verlangen andere Vorgehensweisen als mechanische Verletzungen.

Durch Überstopfung in den Mandibularkanal eingedrungenes Wurzelkanalfüllmaterial muss umgehend entfernt werden. Eine Penetration des Materials nach interoder intrafaszikulär macht eine interne Neurolyse nötig. Die Entfernung der Materialien ist als Sofortmaßnahme innerhalb von Stunden durchzuführen, da mit zunehmender Einwirkungszeit irreversible Schäden entstehen.

Für Ausfallerscheinungen infolge von Nerveninjektionsschäden nach Leitungsanästhesien gibt es in der Frühphase außer Zuwarten keine etablierte Behandlungsoption. Die Frage nach einer operativen Intervention in Spätstadien wird sich nur in dem seltenen Fall stellen, dass sich neben einem langfristig persistierenden (> ein Jahr) kompletten sensiblen Funktionsausfall Schmerzsymptome entwickelt haben. Unter intraoperativem „Neuromonitoring“ mit elektrophysiologischen Techniken kann versucht werden, die Longitudinalausrichtung der Läsion zu definieren und nach der Resektion durch Insertion des proximalen Stumpfes in Knochen oder Muskulatur, eventuell auch durch eine Nervinterposition, ein neuerliches Kontinuitätsneurom zu verhindern, um wenigstens eine Schmerzreduktion zu erreichen.

G.-P. Cornelius, Basel

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