Gastkommentar

Schrebergarten- Perspektive

Das Ergebnis der Bundestagswahl stellt sich bei genauerer Betrachtung in der Tat als Richtungsentscheidung dar. Eine – wenn auch knappe – Mehrheit hat sich für den Umverteilungsstaat und gegen eine Leistungsgesellschaft, für Gleichheit und gegen Freiheit, für Solidarität und gegen Eigenverantwortung entschieden. Das muss Anlass für ernste Befürchtungen sein.

Klaus Heinemann
Freier Journalist

Wahlergebnisse werden stets erst dann begreifbar, wenn die den Entscheidungen zugrunde liegenden Motive analysiert und seziert sind. Die damit betrauten Forschungsinstitute kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Rot-Grün mit einer – wenn auch hauchdünnen – Mehrheit ausgestatteten Wähler sich für die ungeschmälerte Beibehaltung des Prinzips der Solidarität in den Sozialsystemen ausgesprochen haben. Was sie auch immer darunter zu verstehen meinen, so dürfte doch unbestreitbar der Wunsch nach Beibehaltung dessen, was sie als soziales Konsumgut zu schätzen gelernt haben, dahinter stehen. Dagegen rangieren Kategorien wie Leistungsorientierung, ein größeres Maß an Selbstverantwortung und autonomer Entscheidung eindeutig nachgeordnet. Die Schwerpunkte für ein derartiges Wählerverhalten sind klar in den nördlichen und östlichen Bundesländern auszumachen, vornehmlich dort, wo die wirtschaftliche Lage schlecht und die Arbeitslosigkeit hoch ist.

Ein völlig anderes Bild ergibt sich hinsichtlich der Ergebnisse unter der Klientel von Union und Liberalen; dort wird mit deutlichem Abstand den Prinzipien von Leistungsorientierung und freiheitlicher Selbstverantwortung der Vorrang eingeräumt. Drei Aspekte verdienen hierbei besondere Beachtung: Zum einen ist diese Bevölkerungsgruppe im Vergleich zur letzten Bundestagswahl deutlich angewachsen, wenn auch noch nicht ganz mehrheitsfähig. Sodann offenbart sich ein deutliches Süd-Nord-Gefälle. Und schließlich ist eine zwischen West und Ost verlaufende Drift unverkennbar. Auf den Punkt gebracht heißt das, dass sich die Richtungsentscheidung, ob mehr Freiheit und Selbstverantwortung oder mehr Staat gewünscht wird, am jeweils erreichten Wohlstand, also auch maßgeblich am Niveau der Arbeitslosigkeit orientiert.

Zyniker könnten nun schlussfolgern, dass es der so knapp bestätigten Bundesregierung letztlich gar nicht um die einst versprochene Senkung der Arbeitslosigkeit gehen konnte, da sie andernfalls ihre Wiederwahl gefährdet hätte. Eine derartige Aussage bleibt jedoch deutlich an der Oberfläche. Viel entscheidender ist die Erkenntnis, dass den Bürgern die Einsicht in die Notwendigkeit von mehr Eigenvorsorge, Selbstverantwortung und freiheitlicher Entscheidung hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer sozialen Absicherung nur dann abverlangt werden kann, wenn sie in gesicherten materiellen Verhältnissen leben. Und diese werden nun einmal maßgeblich durch Ausbildungs- und Arbeitsplatz bestimmt.

Diese Schlüsselfunktion des Arbeitsmarktes spiegelt sich im regionalen Vergleich auch in dem Anteil der Selbständigen. Die Tatsache, dass Rot-Grün diesen Dynamikern mit ausgeprägtem Misstrauen begegnet – was sich in der Steuer- und Sozialgesetzgebung, aber auch in der Bildungspolitik mühelos belegen lässt – schürt einen bösen Verdacht: Wird hier immer noch, sozusagen in Schrebergarten-Perspektive, auf ein Gesellschaftsmodell hingearbeitet, das sich auf Parolen wie „Die da oben und wir hier unten“ stützt? Ist der wirtschaftlich Schwache leichter zu ängstigen und müheloser zu erreichen mit Versprechungen auf staatliche Segnungen, die aber zugleich seine Entmündigung zur Voraussetzung haben? Die Antworten darauf werden nicht auf sich warten lassen.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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