Alterszahnheilkunde aus Sicht der Gerontologie

Prävention sorgt für mehr Mundgesundheit im Alter

Heftarchiv Gesellschaft
pr
Die Tatsache, dass die Gesellschaft immer mehr altert, hat entscheidende Auswirkungen auf die zahnmedizinische Versorgung. Schon bald wird jeder Zahnarzt in seiner Praxis mit dieser Entwicklung konfrontiert: Die Patienten werden älter, haben immer länger ihre eigenen Zähne und verlangen nach spezifischen Behandlungskonzepten. Das Problem ist vielschichtig und erfordert interdisziplinäre Ansätze, wie einer der führenden Gerontologen Deutschlands, Prof. Dr. Andreas Kruse aus Heidelberg, der Zahnärzteschaft bestätigt (siehe dazu auch den Leitartikel von BZÄK-Vizepräsident Dr. Dietmar Oesterreich in diesem Heft).

„Die Art und Weise, wie Menschen im Lebenslauf gelebt haben, entscheidet mit über ihre physische und psychische Gesundheit sowie über den Grad ihrer Selbstständigkeit im Alter.“ In seinem Vortrag im Rahmen der letzten Bundesversammlung der Bundeszahnärztekammer in Hamburg machte Prof. Dr. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, deutlich, dass die Beschäftigung mit dem Alter und die Tatsache, dass die Gesellschaft allmählich immer älter wird, entscheidende Auswirkungen auf die zahnmedizinische Versorgung hat. Fragen der Lebensführung, der lange Erhalt der körperlichen und seelischen Gesundheit und ein gesundes Sozialleben sind Faktoren, die ineinander greifen und die dafür sorgen, dass ein Mensch in Würde und Zufriedenheit alt wird. Es finden sich positive Zusammenhänge der körperlichen Aktivität mit Stimmung, Lebenszufriedenheit und Selbstständigkeit. Geistige Aktivität stellt einen gewissen Schutz gegen den Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter dar. Aus gerontologischer Sicht erscheint es wichtig, die gedankliche Vorwegnahme und Beschäftigung mit dem eigenen Altersprozess als eine Aufgabe der Prävention anzusehen.

Für den Zahnarzt ist es sinnvoll, sich diese Faktoren vor Augen zu halten und gerade auch seine älteren Patienten im Gesamtbild zu betrachten. Das Alter, so Kruse, ist ein für die zahnmedizinische Versorgung immer wichtiger werdender Lebensabschnitt. Seine Thesen:

■ Die Anzahl älterer Menschen mit erhaltenem Zahnbestand wird – auch wegen verbesserter Präventions- und Therapiebedingungen – immer weiter ansteigen.

• Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde soll viel intensiver als bisher in die Diagnostik des gesundheitlichen und funktionellen Status einbezogen werden.

• Erkenntnis und Methoden der Zahnheilkunde sollen noch stärker als bisher in Präventionskonzepte einbezogen werden, die darauf zielen, ein gesundes und selbständiges Alter zu fördern.

• Die Selbstverantwortung des Menschen für sein Alter gewinnt zunehmend an Bedeutung.

• Aus gerontologischer Sicht sind die Projekte und Publikationen der Bundeszahnärztekammer zur Prävention für das Alter zu unterstützen.

Ausführlich ging Kruse auf Aussagen der Berliner Altersstudie ein [I. Nitschke, W. Hopfmüller, 1996. Die Zahnmedizinische Versorgung älterer Menschen. In: K. U. Meyer und P. B. Baltes (Hrsg.): Die Berliner Altersstudie, Seiten 429-448, Berlin: Akademieverlag]. Dort wurde geprüft, inwieweit die Untersuchungsteilnehmer die Anforderung einer halbjährlichen zahnärztlichen Kontrolle erfüllten. Diese Anforderung wurde in keiner der erfassten Altersgruppen (70 bis 103 Jahre) umgesetzt.

Junge und alte Alte

Die ‚jungen Alten‘ (70 bis 84 Jahre) waren im Mittel vor elf Monaten beim Zahnarzt gewesen, die ‚alten Alten‘ (85 Jahre und älter) im Mittel vor drei Jahren. Zwischen dem 45. und 65. Lebensjahr gehen durchschnittlich zehn bis 15 Zähne verloren, wobei der Zahnverlust vor allem in den Stützzonen auftritt. Bei den 65- bis 74-Jährigen fehlen im Durchschnitt 15,4 Zähne. Immer mehr natürliche Zähne bleiben erhalten: 75 Prozent der 65- bis 74-Jährigen verfügen im Durchschnitt über 13,8 eigene Zähne. Ab dem 85. Lebensjahr sind zwischen 55 und 75 Prozent in beiden Kiefern zahnlos. Kruse unterstreicht: Bei Eingliederung von Totalprothesen im Alter ist insbesondere bei schlecht erhaltenen Kieferkämmen mit beträchtlichen Anpassungsproblemen sowie mit einer deutlich reduzierten Kaukraft und Kaueffizienz zu rechnen. Schlecht sitzende Prothesen führen langfristig zu einem nicht bemerkten, verstärkten Abbau der Kieferknochen, der vor allem bei totalen Unterkieferprothesen eine Einschränkung im Halt der Prothese mit sich bringt. Patienten, die ihren Zahnersatz nicht tragen können, leiden manchmal so stark, dass sie sämtliche sozialen Bindungen und Kontakte abbrechen.

„Weiterhin ist zu bedenken“, so Kruse, „dass die eingeschränkte Kaukapazität gerade bei älteren Menschen einen Risikofaktor für Minder- oder Unterernährung darstellt. Die Sicherstellung einer guten zahnmedizinischen Betreuung ist auch davon abhängig, inwieweit Ärzte und Pflegefachkräfte die Oralhygiene als einen bedeutsamen Bereich des geriatrischen Assessments sowie der Beratung betrachten.“

Kruse unterstützte die Forderung von Zahnmedizinern, dass alle Berufsgruppen, die in die Betreuung von alten Patienten einbezogen sind, einen Überblick über die Grundlagen zahnmedizinischer Aspekte in der Prävention und Rehabilitation erhalten sollten. Ärzte müssten geschult werden, Mängel am Zahnersatz, Karies und Parodontopathien im Ansatz zu erkennen. Weiterhin müssten Einrichtungen die Grundlagen der Zahn-, Mund- und Prothesenhygiene beherrschen, sodass (zunehmende) Schäden an einem Gebiss auf Grund von längerer Vernachlässigung vermieden werden.

Zu den zentralen zahnmedizinischen Präventionsansätzen zählen:

• die intensive Mund- und Prothesenhygiene,

• Kontrollbesuche beim Zahnarzt,

• individuelle Prophylaxemaßnahmen,

• die rechtzeitig einsetzende Sanierung bei Zahndefekten.

Drei Szenarien

Kruse skizziert drei mögliche Szenarien der Entwicklung des Zahnbestandes und des zahnärztlichen Behandlungsbedarfes. [Er nimmt dabei Bezug auf die „Kerschbaum- Studie“: DGZPW, Hrsg., 2001: „Bedarfsermittlung für prothetische Leistungen in der Zahnheilkunde bis zum Jahr 2020“. Ein Bericht der I + G Gesundheitsforschung München, Seiten 1-102]. Dabei stellt er unterschiedliche Annahmen über die Effektivität von Präventionsbemühungen bis zum Jahr 2020 vor:

• Das erste Szenario (verhalten-realistische Variante) geht davon aus, dass die heute Zwölfjährigen mit kariesfreien Gebissen nie Karies bekommen werden, eine Annahme, die aufgrund der Schmelzhärtung nach Remineralisation, der positiven Motivationsprägung und des Fehlens von Prädilektionsstellen bei Füllungen vertretbar erscheint. Für die anderen Kinder wird von einer Konstanz der Prävalenzen aus dem Jahre 1997 ausgegangen. Die Implikationen dieses ersten Szenarios für den zahnmedizinischen Versorgungsbedarf in höheren Altersgruppen können naturgemäß erst deutlich werden, wenn die heute Zwölfjährigen die entsprechenden Lebensalter erreichen.

n Das zweite Szenario (kontrollorientiertes Inanspruchnahmeverhalten – realistischoptimistische Variante) geht von dem Befund der DMS-III Studie des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) aus, demzufolge sich ein kontrollorientiertes Inanspruchnahmeverhalten positiv auf den Zahnerhalt auswirkt. Unter der Voraussetzung, dass alle Personen zu einem positiven kontrollorientierten Inanspruchnahmeverhalten motiviert werden können, wäre im Jahre 2020 für die Gruppe der 55- bis 70-Jährigen eine Erhöhung des Zahnbestandes von drei Zähnen zu erwarten, der Zahnbestand eines 65-Jährigen im Jahre 2020 würde dem eines heute 60-Jährigen entsprechen.

• Das dritte Szenario (Verbesserung der Mundhygiene in Risikogruppen – unrealistisch-optimistische Variante) beschreibt die maximal erzielbare Verbesserung des Zahnbestandes. Dieses Szenario geht davon aus, dass sich das durch die schlechteste Mundhygiene gekennzeichnete Fünftel der Bevölkerung im Jahre 2020 wie die verbleibenden vier Fünftel der Bevölkerung verhalten wird. Unter dieser (unrealistischen) Voraussetzung wäre der Zahnbestand der im Jahre 2020 60-Jährigen um drei Zähne höher als jener der heute 60-Jährigen, was eine Verschiebung des heutigen Zahnbestandes in ein sechs bis sieben Jahre höheres Lebensalter bedeuten würde.

Kosten und Nutzen

Ausführlich geht Kruse auf Aspekte der Kosten- und Nutzen-Seite von Prävention ein und bezieht sich dabei auf die Ergebnisse des Workshops der Bundeszahnärztekammer vom Oktober 2001 „Kostenexplosion durch Prävention? Orale Gesundheitsgewinne im Alter und versorgungspolitische Konsequenzen“. Die Ausgaben für die zahnmedizinische Versorgung konzentrieren sich gegenwärtig auf das frühe und mittlere Erwachsenenalter, nicht auf das höhere und hohe Alter, so zitiert Kruse aus dem Tagungsband. Durch zahnmedizinische Prävention lassen sich erhebliche orale Gesundheitsgewinne erzielen; auch alte und sehr alte Menschen würden in Zukunft in ihrem Zahnbestand von Maßnahmen der Prävention und der Gesundheitsförderung profitieren.

Es sei allerdings darauf hinzuweisen, dass zahnmedizinische Prävention kurzfristig nicht in der Lage sein werde, zu einer Senkung der Gesundheitsausgaben beizutragen. Des Weiteren könne angenommen werden, dass der Haupteffekt präventiver Bemühungen auch langfristig weniger in einer Kostensenkung, als vielmehr in einer Verlagerung der in früheren Lebensaltern anfallenden Kosten auf spätere Lebensalter bestehen werde. Auch würden zukünftige orale Gesundheitsgewinne mit hoher Wahrscheinlichkeit mit zunehmenden Versorgungsansprüchen einhergehen.

Kruse zitiert das Fazit der Tagung: Die Zahnheilkunde der Zukunft werde in den nächsten 20 Jahren sicher nicht preiswerter. Der medizinische Fortschritt und eine größere Lebensqualität bei den Älteren hätten ihren Preis. Aber auch die Annahme einer Kostenexplosion in der zahnärztlichen Versorgung müsse als unrealistisch bezeichnet werden. Im Vergleich mit der gesamten Medizin bestehe in Deutschland ein relativ hoher Ausgabenbetrag für die zahnärztliche Versorgung. Dieser sollte auch bei den Veränderungen der Zukunft genügend Flexibilität bieten, um eine vernünftige Gesamtversorgung sicher zu stellen.

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