Gastkommentar

Chaotisierte Gesundheitspolitik

Heftarchiv Meinung
Es ist gegenwärtig wirklich nicht einfach, den Überblick über die gesundheitspolitische Diskussion zu behalten. Ein dichtes Gestrüpp von Gremien und Vorschlägen macht das Chaos zum einzigen Ordnungsprinzip.

Hartwig Broll
Gesundheitspolitischer Fachjournalist in Berlin

Die Bundesregierung ringt wegen der Unionsmehrheit im Bundesrat mit der Opposition um die zukünftige Gesundheitspolitik – diese Zeiten sind wohl vorbei. Nicht Ulla Schmidt und Horst Seehofer stehen mit erkennbaren Konzepten im Fokus der aktuellen Diskussionen. Diese verlieren sich eher in einer unübersehbaren Vielzahl von Gremien und Papieren: Der Bundeskanzler und seine Regierungserklärung, die Interpretationen dieser Erklärung durch die Ministerin, das Spiegelreferat und eine ominöse „strategische Planungsgruppe“ im Kanzleramt, das BMGS, das die Szene ständig mit Rohund Arbeitsentwürfen der nächsten Reform überschwemmt, die Rürup-Kommission, die GKV-Arbeitsgruppe der Rürup-Kommission, das Rürup- und das Lauterbach-Lager in der Arbeitsgruppe, bei all dem soll man noch den Überblick behalten, wer wann mit wem über welche Inhalte der Gesundheitsreform 2003 verhandeln wird? 

Und deutlich besser ist auch die Unionsseite nicht aufgestellt. Sie beklagt das Kommissionsunwesen der Regierung, aber Angela Merkel beruft selber eine „Herzog- Kommission“ zu Finanzierungsfragen. Seehofer streitet mit Edmund Stoiber, Andreas Storm und Annette Widmann-Mauz denken offensichtlich anders als ihr Fraktionsvormann Seehofer – der lange tönt, die 12. SGB V-Novelle scheitern zu lassen, über die er sich mit Gudrun Schaich-Walch schließlich doch einigt.

Den Vogel abgeschossen hat die GKV-Arbeitsgruppe der Rürup-Kommission. Statt eines konsistenten Vorschlags zur nachhaltigen Finanzreform der GKV präsentiert sie zwei vollständig gegensätzliche: ein Kopfpauschalenmodell und die Erwerbstätigenversicherung. Der gemeinsame Stamm dieses „Y-Modells“ besteht aus platter Kostendämpfung. Allein zehn Milliarden Euro „Einsparungen“ sollen aus Erhöhungen, Änderungen oder Neueinführungen von Zuzahlungsregelungen realisiert werden. Statt „kurzfristig“ etwas „Nachhaltiges“ zu entwickeln, präsentiert man – gegen die gewerkschaftsnahe Bank der Kommission – etwas „Kurzfristiges“ – über das „Nachhaltige“ möge die Politik gefälligst selbst entscheiden. Und Karl Lauterbach weist stolz darauf hin, dass die Arbeitsgruppe immerhin ein „Y“ zustande gebracht hat – es hätte ja auch ein „Baum“ werden können – gemeinsamer Stamm Kostendämpfung, dann viele Zweige und Verästelungen. Bleibt abzuwarten, ob das Plenum der Kommission das „Y“ mittragen wird, ob die Bundesregierung es aufnimmt, die Koalition es gutheißt, die Koalitionsfraktionen zustimmen und die Opposition sich wird überzeugen lassen – und Hans Eichel die rund 4,5 Milliarden Euro herausrückt, die als Umfinanzierungen vorgesehen sind. Wahrscheinlicher ist, dass das „Y“ im Papierkorb landet.   

Unter derart chaotischen Zuständen könnte auch die Regierungsroutine zu beinahe absurden Maßnahmen Zuflucht nehmen. So war doch tatsächlich vorgesehen, dass das Kabinett Mitte Mai nur zu „Eckpunkten“ der Reform beschließt, sollte zu diesem Zeitpunkt noch kein abgestimmter Referentenentwurf vorliegen – ein in der Tat ungewöhnlicher Vorgang. Aber bereits eine Woche später tagen die Finanzminister der Europäischen Union, und die wollen bezüglich der Stabilitätskriterien gemachte Hausaufgaben sehen. Immerhin haben sich Seehofer und Schaich-Walch im Vermittlungsverfahren um die 12. SGB V-Novelle als konstruktive – und letztlich erfolgreiche – Verhandler profiliert. Im Sinne der Ministerin kann dies allerdings nicht gewesen sein – weder unter dem Aspekt der handelnden Personen, noch unter dem des erzielten Ergebnisses. Aus dem zur Kostendämpfung vorgesehenen Gesetz ist eines geworden, das Mehrkosten verursachen wird. Ob die EU-Finanzminister dies goutieren werden?

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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