Allgemeiner Überblick

Zahnersatz und Gesundheit bei Senioren

239800-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin
Derzeit ist in unserer Gesellschaft ein zunehmender Anstieg des Anteils älterer Patienten zu beobachten. Es ist davon auszugehen, dass in etwa zehn Jahren knapp 25 Prozent der Menschen älter als 60 Jahre sein werden (Abb. 1). Trotz aller Bemühungen der Prophylaxe gehen nach wie vor durch die Summation von Karies, Trauma und Parodontopathien Zähne verloren. Der prothetische Behandlungsbedarf steigt mit zunehmendem Lebensalter an.

Dank der unzweifelhaften Erfolge der Prophylaxe ist aber eine Verschiebung der notwendigen Behandlungsmittel eingetreten: Gestern war die Totalprothese und heute ist der herausnehmbare Zahnersatz das therapeutische Medium der Wahl. In Zukunft wird sich dies weiter verschieben bis hin zum festsitzenden, insbesondere implantatgetragenen Zahnersatz. Probleme entstehen dabei nicht so sehr durch den Zerstörungsgrad der Zähne, sondern eher durch den überall anzutreffenden reduzierten Parodontalzustand. Nach dem Verlust der eigenen, natürlichen Zähne setzt unweigerlich ein weiterer Abbau ein. Wenn davon der Teil des Alveolarknochens betroffen ist, in dem die Zähne zuvor verankert waren, ist es oftmals nicht möglich, ohne vorherigen Aufbau des Knochens Implantate einzusetzen.   

Insgesamt ist die prothetische Behandlung älterer Patienten zeitaufwändig. Der Behandlungsaufwand wird schon heute auf eine Größenordnung von 30 bis 40 Prozent des gesamten Praxisaufwandes geschätzt. Die Gerostomatologie wird also zunehmend an Bedeutung gewinnen. Dabei ist das Feld der Alterszahnheilkunde sehr weit: Es erstreckt sich von kleineren konservierenden Maßnahmen – etwa der Versorgung von Zahnhalsdefekten (Abb. 2) – über implantologische Rehabilitationen (Abb. 3 und 4) bis hin zur totalprothetischen Versorgung und oralhygienischen Betreuung solcher Patienten, die zu einer eigenen, effizienten Mund- und Prothesenhygiene nicht mehr in der Lage sind. Leider ist das Wissen um die Zahngesundheit in der Altenpflege und auch im Bereich der Allgemeinmedizin nach wie vor sehr gering. Da eine diesbezügliche Ausbildung in den Pflegeberufen bis heute vollständig fehlt, fühlt sich das Personal der Alten- und Krankenpflege verständlicherweise oft überfordert.  

Dabei wird viel zu häufig übersehen, dass der oft mangelhafte Gebisszustand älterer Patienten [12] und die daraus resultierenden Funktionseinschränkungen des Kauorgans die Möglichkeit zur Nahrungszerkleinerung reduzieren. Ein Patient aber, der seine gewohnte Nahrung nicht mehr ausreichend zerkleinern und deshalb das Kaugut nicht adäquat schlucken kann, weicht zwangsläufig auf andere, leichter schluckbare Speisen (Brei und Ähnliches) aus und ernährt sich in der Folge möglicherweise nicht mehr richtig und ausreichend (Abb. 5) [15]. Auch über das Auftreten gastrointestinaler Störungen infolge ungenügenden Kauens und sogar Darmobstruktionen wird berichtet. Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen gastrointestinalen Reizerscheinungen und Zahnverlust hin [4]. Bei Patienten mit Schluckstörungen (etwa nach einem Schlaganfall) besteht zusätzlich die Gefahr, dass ein unzureichend zerkauter und noch zu großer Bissen „im Halse stecken bleibt“ und möglicherweise sogar zu einer Obstruktion der Atemwege führt [4]. Anderson analysierte tödliche Unfälle durch Aspiration von Fremdkörpern und fand, dass es sich zu einem großen Teil um nicht ausreichend zerkleinerte Nahrung handelte [3].  

Ältere Patienten, die oftmals mit schleimhautgetragenem Zahnersatz versorgt sind, bedürfen einer intensiven Kontrolle durch den Zahnarzt, da die Abdeckung von Schleimhautarealen durch den Zahnersatz – insbesondere bei manifestem Diabetes – der Entstehung von Pilzerkrankungen (Candidosen) Vorschub leistet [1, 2, 7, 11]. Auf der anderen Seite obliegt es natürlich dem Zahnarzt, gerade bei älteren Patienten, bei denen sich ohne anderen erkennbaren Grund eine Candidainfektion eingestellt hat, an eine diabetogene Ursache zu denken und eine diesbezügliche Kontrolle zu veranlassen. Vitkov und Mitarbeiter [14] konnten bei immerhin 13 Prozent der von ihnen untersuchten Patienten mit unspezifischer Entzündung der Mundschleimhaut durch Candida-Pilze (Candidastomatitis) einen vorher nicht bekannten Typ-IIDiabetes nachweisen.   

Gerade bei Totalprothesenträgern kommt der Einstellung der Stoffwechsellage erhebliche Bedeutung für die Prothesenfunktion zu. Für die Funktion und den Halt von totalem Zahnersatz ist ein uneingeschränkter Speichelfluss von großer Wichtigkeit [17]. Eine Reduktion der Speichelfließrate – etwa bei schlechter Einstellung eines Diabetes – führt damit beinahe zwangsläufig zu einer reduzierten Prothesenfunktion. Diese kann die Kaufunktion einschränken und damit die Möglichkeit, diätetische Kost zu essen, was die Stoffwechsellage weiter verschlechtern kann [13]. In diesem Zusammenhang ist selbstverständlich das Faktum zu berücksichtigen, dass auch Multimedikationen, wie sie nicht selten bei geriatrischen Patienten vorkommen, oftmals eine Mundtrockenheit (Xerostomie) mit dem gleichen Effekt auf die Prothesenfunktion bedingen [5,6]. 

Der lebenslange Funktionserhalt des Kauorgans dient daher keineswegs nur ästhetischen Aspekten oder auch dem oralen Wohlbefinden, sondern weit über dies hinaus auch der Steigerung der Lebensqualität und sogar -quantität. Leider wird vielfach der falsche Eindruck erweckt, als wenn insbesondere Implantatversorgungen vornehmlich kosmetischen Zielen dienten. Dies ist sachlich aber keineswegs gerechtfertigt. Denn der vor allem kaufunktionelle Vorteil von Implantatversorgungen gerade und besonders bei der Rehabilitation zahnloser Patienten bleibt dabei völlig unberücksichtigt. 

Zahnarztbehandlungsziel beim älteren Menschen

Ziel der zahnärztlichen Behandlung von Senioren ist es daher, das Kauorgan möglichst lange funktionsfähig zu halten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine – insbesondere umfangreiche – zahnärztliche Therapie gerade den älteren Patienten anstrengt und belastet. Darüber hinaus ist auch das Nachlassen motorischer und sensorischer Fähigkeiten eine typische Begleiterscheinung des höheren Lebensalters. Dies zieht nicht selten eine reduzierte Mund- und Prothesenhygiene nach sich. Die zahnärztliche Behandlung muss deshalb so ausgerichtet sein, dass sie eher die Mundhygiene erleichtert, aber nicht erschwert. Dazu haben sich folgende Grundsätze bewährt:  

Reduziert festsitzend versus herausnehmbar

Festsitzender Zahnersatz wird nicht nur von den meistens Patienten gegenüber dem herausnehmbaren Ersatz als angenehmer empfunden, sondern er gewährleistet auch meistens eine vergleichsweise höhere Kaueffizienz. Zudem liegt die Haltbarkeit von festsitzendem Ersatz und auch von Implantatversorgungen weit höher als die von einfachen Klammerprothesen und auch kompliziertem herausnehmbarem Zahnersatz (Kombinationsarbeiten) [9, 10 ,16]. Wann immer möglich, empfiehlt es sich daher, festsitzenden gegebenenfalls implantatgetragenen Zahnersatz zu wählen, auch wenn eine Komplettierung der Zahnreihe so nicht erreicht wird. Im Allgemeinen wird heute eine Anzahl von zehn Antagonistenpaaren sowohl kau- als auch organfunktionell als ausreichend angesehen, wenn der Patient über keine Kiefergelenksbeschwerden (Dysfunktionen) klagt. Nach Untersuchungen von Käyser [8] wird von den Patienten selbst erst ab einer Verkürzung auf weniger als sechs Antagonistenpaaren eine deutliche Reduktion der Kaufunktion angegeben! Interessanterweise verläuft dieser Eindruck der Patienten absolut komplementär zu ihrem ästhetischen Empfinden (Abb. 6).

Robust, pflegefähig, einfach handhabbar

Zahnersatz für Ältere muss leicht handhabbar, pflegefähig und aber auch robust sein. Doppelkronen (Teleskop-, Konus-, Marburger Doppelkrone) (Abb. 7) haben in dieser Situation zweifellos Vorteile. Sie können effizient und einfach gereinigt werden. Stege sowie komplizierte Riegel und Geschiebeverankerungen stellen dagegen ungünstige Versorgungsformen dar (Abb. 8). Es ist zu bedenken, dass sowohl der ältere Patient – mit seiner möglicherweise begrenzten Feinmotorik – als auch gegebenenfalls die ihn Pflegenden – in der Lage sein müssen, mit dem Ersatz zurechtzukommen.  

Notwendige Versorgungen nicht aufschieben

Sofern bei einem Patienten eine zahnärztliche Behandlung – insbesondere eine prothetische Neuversorgung – erkennbar notwendig wird, sollte diese nicht unnötig lange aufgeschoben werden. Gerade im höheren Lebensalter muss mit plötzlichen Erkrankungen gerechnet werden, die praktisch „über Nacht“ die Behandlungsfähigkeit eines Patienten erheblich einschränken können.

Heute schon an morgen denken

Sehr viele der in der Alterszahnheilkunde auftretenden Probleme sind durch Versäumnisse in der Vergangenheit bedingt. Gerade in zunehmendem Alter stehen für viele Patienten andere Erkrankungen im Vordergrund, die an den regelmäßigen Zahnarztbesuch zuletzt denken lassen. Hinzu kommt die leider immer noch zu weit verbreitete Überzeugung, dass nach erfolgter Neuanfertigung von Zahnersatz dieser in den nächsten Jahren keiner Nachsorge bedarf. Wird Zahnersatz aber nicht engmaschig (am besten alle sechs Monate) kontrolliert und nachgesorgt, dann ist die Gefahr ernsthaft gegeben, dass größere biologische als auch technische Defekte auftreten können. Diese sind dann nicht mehr einfach zu beseitigen, sie erfordern vielmehr eine komplette Neuanfertigung des Ersatzes. Wenn dann von zahnärztlicher Seite die Pflege- und Erweiterungsfähigkeit des Ersatzes zu wenig bedacht wurde, sind erhebliche Behandlungserschwernisse vorprogrammiert. Die Planung von Zahnersatz muss daher bereits beim älter werdenden Patienten so ausgerichtet sein, dass Nachbehandlungen möglichst einfach sind. 

Die zunehmende Zahl älterer Patienten in unserer Bevölkerung wird die Zahnärzteschaft in diesem neuen Jahrtausend in erheblichem Maße fordern. Nur wenn schon heute bei möglichst vielen Patienten sinnvolle und zukunftsweisende Therapieentscheidungen getroffen werden, lassen sich die Weichen richtig stellen. Auf einen Weg nämlich, der es erlaubt, dem Patienten mit zunehmendem Alter – mit immer weniger Therapieaufwand, möglichst ausschließlich durch intensive oralhygienische Betreuung – ein funktionstüchtiges Kauorgan zu erhalten. So kann man dem Patienten oralen Komfort und Lebensqualität lebenslang erhalten und von dieser Seite die Voraussetzungen für ein umfassendes gesundheitliches Wohlergehen schaffen. 

Prof. Dr. Bernd WöstmannPoliklinik für Zahnärztliche ProthetikGerostomatologische Forschungsstelle derJustus-Liebig-UniversitätSchlangenzahl 1435392 GießenE-Mail:Bernd.Woestmann@dentist.med.uni-giessen.de

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.