Im Zweifel für den Angeklagten

Zur zivilrechtlichen Arzthaftung haben die Richter neue Urteile gefällt. Zwar fußt die Rechtsprechung hier oft auf Einzelfällen – dennoch hat sie Grundsätze entwickelt, um„ärztliche Kunstfehler“ zu beurteilen. Wie die Richter hierurteilen, ist durchaus auch für Zahnärzte interessant.

Geht es um die zivilrechtliche Haftung von Ärzten, beruft sich die Rechtsprechung aus zwei Gründen auf die Kasuistik, der Rechtsfindung auf Grund von Einzelfällen.

Erstens: Der Arztvertrag ist nicht speziell im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt.

Zweitens : Die Arbeit mit Menschen erfordert viele Reaktionsmöglichkeiten. Dabei kommt eine Haftung des behandelnden Arztes und/oder Krankenhausträgers auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Betracht für

• Behandlungsfehler

• Diagnosefehler

• Organisationsfehler

• Aufklärungsfehler und

• Dokumentationsmängel.

Beweislast und Beweismittel spielen in Arzthaftungsprozessen eine besondere, von sonstigen Zivilprozessen zum Teil abweichende, Rolle. Grundsätzlich liegt es aber auch hier am Patienten, zu beweisen,

• dass ein Fehler der oben genannten Art vorliegt,

• dass dieser Fehler seinen Gesundheitsschaden verursacht hat

• und dass den Arzt ein Verschulden trifft – er also mindestens fahrlässig gehandelt hat. Sind alle Beweismittel (Zeugen, Parteivernehmung, Sachverständige, Urkunden) erschöpft, gilt es zu entscheiden, wen die Folgen der Nicht-Nachweisbarkeit treffen. Deshalb unterscheidet die Rechtsprechung nach Risikobereichen.

Dem Patienten, genauso aber auch dem Arzt oder Krankenhaus, können Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zukommen. Solche Beweiserleichterungen gelten für Patienten bei groben Behandlungs- oder Diagnosefehlern: Verstößt ein Arzt gegen elementare Behandlungsregeln und gesicherte Erkenntnisse der Medizin – das heißt, ihm unterläuft ein Fehler, der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf – muss er nachweisen, dass sein grober Fehler die Schädigung nicht verursacht hat oder, etwa wegen der körperlichen Konstitution des Patienten, auch bei fehlerfreier Behandlung aufgetreten wäre.

I. Behandlung

Unter einem Behandlungsfehler verstehen Juristen einen Verstoß gegen den Standard ärztlicher Kunst und Wissenschaft zum Zeitpunkt der Behandlung. Der Sachverständige beurteilt, ob der Arzt die Maßnahmen ergriffen hat, die bei einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus Sicht seines Fachbereiches vorausgesetzt werden.

Hält der Arzt zum Beispiel die Hygienevorschriften nicht ein, kann auch dies ein grober Behandlungsfehler sein. Das entschied das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf am 15. 6. 00 (Versicherungsrecht 2000, 1019): Punktiert der Arzt ein Knie, muss er bei einem Spritzenwechsel bei liegender Kanüle nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie sterile Handschuhe tragen. Sonst macht er sich eines groben Versäumnisses schuldig.

II. Diagnose

Dem Arzt kann ein Diagnosefehler angelastet werden, wenn er einen gebotenen Befund nicht erhebt oder einen tatsächlich erhobenen Befund fehlinterpretiert. Der Bundesgerichtshof (BGH) stuft Behandlungsirrtümer und Fehldeutungen von Befunden jedoch sehr zurückhaltend als Diagnosefehler ein: Da der Arzt über einen ausreichenden Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum für Diagnose und Therapie verfügen müsse. Dagegen wird ein Diagnosefehler bejaht, wenn Krankheitsbilder in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise gedeutet und elementare Kontrollbefunde nicht erhoben werden. Beweiserleichterungen für den Patienten ergeben sich auch hier, sobald der Arzt grob fehlerhaft darauf verzichtet, einen Befund zu erheben, der wahrscheinlich ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis erbracht hätte und nicht hätte verkannt werden dürfen (BGH Monatsschrift für Deutsches Recht MDR 99,36).

III. Organisation

Arzt und Krankenhaus sind verpflichtet, den Behandlungsablauf ordnungsgemäß zu organisieren und zu koordinieren: Sie haben einen Sicherheitsstandard gegen bekannte Risiken zu gewährleisten, sogar organisatorisch bedingte OP-Verzögerungen können einen schweren Behandlungsfehler darstellen.

Krankenhausträger haben grundsätzlich den Facharzt- Standard vorzuhalten. Das bedeutet: Operiert ein Anfänger, ist es notwendig, dass ein Facharzt assistiert. Die Einhaltung ärztlicher Standards ist ausschlaggebend, auch bei der Frage, ob dem Krankenhaus ein Organisationsfehler zuschulden kommt. Mängel können im Bereich der Hygiene, des medizinischen Geräts oder der Bereitstellung und Überwachung von Personal auftreten.

Pflicht zur Überwachung

Weit ausgedehnt hat der BGH auch die Pflicht, Patienten zu überwachen. Wird ein Patient ambulant so stark sediert (Midazolam, Flumazenil), dass er für längere Zeit nur stark eingeschränkt am Straßenverkehr teilnehmen kann, muss der Arzt sicherstellen, dass sich der Patient nach der Behandlung nicht unbemerkt entfernt (BGH Neue Juristische Wochenschrift NJW 2003,2309). Kann das verabreichte Mittel eine Amnesie auslösen, sollte der Arzt damit rechnen, dass sich der Patient nicht mehr daran erinnert, dass er das Krankenhaus in diesem Zustand weder verlassen noch Auto fahren darf. Deswegen fordert der BGH für diese Fälle, den Patienten in einem besonderen Raum – nicht etwa im Flur – unterzubringen. So kann das Personal ihn beaufsichtigen und gegebenenfalls daran erinnern, dass er die Klinik nicht eigenmächtig verlassen darf.

IV. Aufklärung

Wenn der Arzt seine Aufklärungspflicht verletzt, ist er ebenfalls zum Schadensersatz verpflichtet. Allerdings wird diese Verletzung häufig erst dann ins Feld geführt, wenn es nicht gelingt, einen Behandlungsfehler zu beweisen. Der Arzt ist verpflichtet, über die Aufklärung einen Nachweis zu führen. Man unterscheidet zwischen der „therapeutischen Aufklärung“, bei der es um therapeutische Beratungs-, Hinweisund Kontrollpflichten des Arztes geht, und der Eingriffs- und Risikoaufklärung, die als grundlegende Voraussetzung für eine Einwilligung des Patienten in den körperlichen Eingriff gilt.

Aufklären muss der behandelnde Arzt – und zwar auch dann, wenn er den Eingriff nicht für erforderlich hält, sondern nur auf Wunsch des Patienten vornimmt. Die schriftliche Einwilligungserklärung kann nur als Indiz herhalten – maßgeblich ist das Aufklärungsgespräch. Das umfasst Informationen über Art, Dringlichkeit und Verlauf des Eingriffs sowie den Zustand danach. Der Umfang der Aufklärung hängt von der Schwere des Eingriffs und seiner Dringlichkeit ab.

Der Patient hat das Recht auf eine so genannte Grundaufklärung: Der Arzt klärt ihn über alle in Betracht kommenden Risiken im Großen und Ganzen auf, also nicht über alle denkbaren Risiken, aber über die spezifischen Gefahren und das schwerste in Betracht kommende Risiko. Tut er das nicht und stellt sich eines der unaufgeklärt gebliebenen Risiken ein, wird gehaftet.

Eine erhöhte Aufklärungspflicht besteht dann, wenn der Arzt sich für eine neue Behandlungsmethode, insbesondere mit ungeklärten Risiken entscheidet. Da Ärzte in der Wahl ihrer Behandlungsmethoden frei sind, brauchen sie grundsätzlich nicht über Behandlungsalternativen zu unterrichten. Der Operateur muss aber über die verschiedenen Verfahren informieren, wenn die vorgesehene Methode sich nicht als echte Alternative mit unterschiedlichem, sprich niedrigerem Risiko darstellt. Das gilt auch, wenn der Arzt eine ältere und mittlerweile weniger gebräuchliche oder risikobehaftete Methode wählt.

Wichtig ist, dass der Patient rechtzeitig und umfassend aufgeklärt wird. Eine Formularaufklärung zwischen Tür und Angel mit beschwichtigenden Worten ist gerade bei nicht dringlichen diagnostischen Eingriffen zu wenig. Der BGH präzisierte Anfang 2003 (NJW 2003,2012): Um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu schützen, hat der Arzt ihm schon vorab die mit dem Eingriff verbundenen Risiken aufzuzeigen. Eine daraufhin erfolgte Einwilligung sei jedoch nur wirksam, wenn der Patient unter den gegebenen Umständen noch genügend Zeit hat, sich innerlich frei zu entscheiden.

Keine Infos fünf vor zwölf

Steht eine stationäre Behandlung bevor, sei es deshalb grundsätzlich zu spät, den Patienten erst am OP-Tag einzuweihen – selbst wenn die Aufklärung bereits am Vorabend erfolgte. Auch bei größeren ambulanten OPs mit beträchtlichen Risiken hält der BGH es nicht für rechtzeitig, erst am Tag des Eingriffs aufzuklären, zumal solchen Eingriffen gewöhnlich Untersuchungen vorangingen, bei denen der Arzt seinen Patienten bereits hätte informieren können.

Entscheidend ist freilich auch, dass die Aufklärung für den Patienten verständlich ist. Wurde die Aufklärung versäumt oder war sie unvollständig, kann sich der Arzt oder Klinikbetreiber allerdings noch darauf berufen, dass sich der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zum Eingriff entschlossen hätte. Auch für diesen Einwand trägt der Arzt die Beweislast. Denn umgekehrt genügt es für den Patienten, wenn er nachvollziehbar darlegt, dass ihn die ordnungsgemäße Aufklärung über das Für und Wider ernsthaft vor die Frage gestellt hätte, ob er zustimmen soll oder nicht.

In der Praxis werden Aufklärungsfehler im Arzthaftungsprozess häufig erst dann geltend gemacht, wenn sich im Verlauf der Beweisaufnahme abzeichnet, dass dem Arzt ein Behandlungsfehler nicht nachzuweisen sein wird. So hat das OLG München es zwar nicht als Kunstfehler gesehen, dass nach einer komplizierten OP einer Schienbeinfraktur eine abgebrochene Bohrerspitze noch im Schienbein steckte, wohl aber ein Schmerzensgeld von 2 000 Euro dafür zuerkannt, dass der Patient darüber nicht aufgeklärt wurde und postoperative Röntgenbilder nicht sorgsam ausgewertet wurden (OLG-Report München 2002,257).

V. Dokumentation

Auf die ordnungsgemäße Dokumentation des Behandlungsablaufes kommt es an: In einem späteren Prozess können die Einzelheiten der Behandlung und die erfolgte Aufklärung so dargelegt werden, dass sich die Beweisschwierigkeiten für den Arzt zumindest minimieren. Der Arzt ist auf der sicheren Seite, wenn die EDV-Daten nicht manipuliert werden können – allerdings ist ihr Stellenwert im Verhältnis zur handschriftlichen Dokumentation rechtlich noch nicht endgültig geklärt.

Die unterlassene oder lückenhafte Dokumentation eines aus medizinischer Sicht zu dokumentierenden Schrittes führt zu der Vermutung, dass die Maßnahme unterblieben ist. Sind tatsächlich erhobene Befunde nicht mehr auffindbar, muss der Arzt beziehungsweise das Krankenhaus beweisen, dass sie dies nicht verschuldet haben. Als nicht im OP-Bericht dokumentationspflichtig bewertete das Hanseatische OLG Hamburg das Desinfizieren vor einem Eingriff (OLG-Report 2002,2455). Die Dokumentation sei medizinisch nicht erforderlich und daher auch aus Rechtsgründen nicht geboten. Im konkreten Fall hatten Stäbchenbakterien eine Wundinfektion verursacht. Das Gericht führte aus, dies allein lasse nicht auf einen Behandlungsfehler schließen, weil weder die menschliche Haut präoperativ mit Sicherheit keimfrei gemacht werden könne noch eine Besiedelung durch Raumkeime auf der OP-Wunde sich sicher vermeiden ließe.

Dr. Ingelore König-OuvrierErnst-Ludwig-Str. 7664560 Riedstadt

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