Gastkommentar

Notbremse ziehen

Die jüngste Gesundheitsreform steht bei Versicherten, Patienten wie auch den Leistungserbringern in der Kritik. Das nicht ohne Grund. Dennoch gibt es Punkte, die durchaus den Weg in eine Zukunft freier, privater Vertragsgestaltung zwischen Arzt und Patient weisen könnten. Dazu gehört beispielhaft das Prinzip der Kostenerstattung. Könnte diesem Prinzip zu einem Durchbruch in der Breite geholfen werden, so würde die Beziehung zwischen Behandler und Versicherten eine völlig andere Qualität erfahren. Doch es funktioniert nicht.

Klaus Heinemann
Freier Journalist

Die Ursachen für die überaus zögerliche Entscheidung, das anonyme Sachleistungssystem mit seinen verschleierten Kostenströmen zu verlassen und von der Patientensouveränität Gebrauch zu machen, sind vielfältig. Sie lassen sich im Kern jedoch auf die Befürchtung der Versicherten zurückführen, abgezockt zu werden. Die Tatsache, dass diese Angst von interessierter Seite kräftig geschürt wird, sei in diesem Zusammenhang nur am Rande vermerkt. Jenen Kräften, die in einer freien Vertragsgestaltung zwischen Arzt und Patient vornehmlich die Gefahr eigenen Machtund Einflussverlustes sehen, wurde allerdings der Boden politisch optimal bereitet.

Die Auswirkungen der Gesundheitsreform treffen die Masse der Versicherten wie ein Hammer. Das vor allem finanziell. Und zwar als Doppelschlag: sowohl hinsichtlich der Beitragshöhe, als auch, was die Zuzahlungen anbelangt. In einer solchen Situation höchster Verärgerung, Verunsicherung, ja Zorns den Versicherten den Gedanken einer Kostenerstattungswahl mit einjähriger Bindung über alles nahe bringen zu wollen, hieße sie glatt überfordern. Im Gegenteil sucht ein derart gebeutelter Bürger eher sein Heil in vertrauten Verhaltensmustern, bleibt folglich im Sachleistungssystem.

Die ebenso unanständige wie überfallartig in Szene gesetzte Einbeziehung der Betriebsrenten in die volle Beitragspflicht hat bei den Versicherten tiefe Spuren hinterlassen. Die Betroffenen haben zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Politik nicht mehr gewillt ist, dem Prinzip des Vertrauensschutzes zu folgen, dass demnach alles der Tagesopportunität unterliegt, der politischen Willkür preisgegeben ist. Das ist nicht der Nährboden für Vertrauen. Und Vertrauen ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Entschluss, sich aus dem staatlichen Zwangssystem zu lösen und die Entscheidung über den Umfang der Behandlung in die eigene Hand zu nehmen.

Die im Gesetz verankerte Möglichkeit, Kostenerstattung zu wählen, wird aus einem weiteren Grund ins Leere laufen: Das GMG ist seinem ganzen Wesen nach nicht als Strukturreform angelegt, erschöpft sich vielmehr in bloßem Abkassieren. Die Grundstruktur, nämlich die Anbindung des Systems an die Arbeitseinkommen (sogar auf verbreiterter Bemessungsgrundlage) bleibt bestehen. Ein sich aus Zwangsabgaben ernährendes, kollektivistisches Gebilde verhindert bereits an der Wurzel, also bei der individuellen Wahl des Versicherungsumfangs, jede Autonomie. Und die immer noch gepflegte Fiktion, in diesem System sei nahezu alles „kostenlos“ erhältlich, korrumpiert den Restbestand an Selbstverantwortung und freiem Entscheidungswillen.

Folglich wäre die völlige Loslösung der Beitragsleistung vom Faktor Arbeit/Einkommen die Grundvoraussetzung für den Übergang von der Pflichtversicherung zu einer Pflicht zur Versicherung und damit zur Kostenerstattung. Die Gesellschaft in ihrer großen Mehrheit ist in dieser Hinsicht wesentlich weiter entwickelt, als die Politik und die Kassenbürokratie dies wahrhaben wollen. Die Bürger organisieren in ihren Familien massenhaft die privaten Lebensumstände nach diesen Prinzipien. Mit dem vorgeschobenen Argument, Gesundheit bedeute nun einmal ein höheres Gut als alles andere, wird dem mündigen Bürger nach wie vor die autonome Entscheidungsbefugnis in diesem Bereich verwehrt.

Solange der Staat jedoch seine vornehmste Aufgabe darin zu erblicken scheint, die im Zwangssystem Gefangenen abzukassieren und ihnen zugleich immer mehr Leistungen vorzuenthalten, befördert er lediglich die Unzufriedenheit, schafft Verunsicherung. Welch abstruse Auswirkungen das zeitigen kann, lässt sich zum Beispiel daran ablesen, dass Universitätskliniken die Notbremse ziehen mussten, weil immer mehr Menschen ihren Körper testamentarisch der Pathologie vermachen wollen. Begründung: Das Sterbegeld sei gestrichen, die Beerdigungskosten nicht mehr tragbar. Das kann nur als Ausdruck von Patientenautonomie in ihrer zynischsten Form bezeichnet werden.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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