Magersucht und Bulimie: Rebellion gegen einen fremden Körper

Wenn Fasten und Essen zum Lebensinhalt werden

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Meist geschieht es in der Pubertät, dass Körper und Psyche einfach keinen Weg zueinander finden. Ein übersteigertes Schönheitsideal lässt jedes Gramm auf der Waage zur Katastrophe werden. Der Verzicht auf Elementares schafft ein Gefühl der Macht. Andere versuchen ihre innere Leere durch Fressanfälle auszufüllen. Essstörungen nehmen seit Jahren zu, und die Patienten werden immer jünger – doch keiner spricht darüber. Ein aufmerksamer Hausarzt oder auch der Zahnarzt können die dramatische Entwickung frühzeitig erkennen und eine umfassende Behandlung einleiten.

Eine Essstörung besteht dann, wenn die Nahrung einen ihr unangemessenen Stellenwert im Leben eines Menschen einnimmt. Betroffen sind meist die Jüngeren.

Im Alter von 14 bis 30 Jahren wird die Lebenszeitprävalenz von Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa in Deutschland mit drei Prozent beschrieben [43]. Seltener treten diese Essstörungen nach dem 40. Lebensjahr auf [7]. Zunehmend werden allerdings Erstmanifestationen auch bei Kindern im Alter von sieben Jahren beschrieben [9]. Mädchen und Frauen sind zehnmal häufiger betroffen als Jungen. Dabei scheint die Prävalenz in den Industrienationen in den letzten Jahrzehnten zuzunehmen, während in Ländern der dritten Welt Magersucht und Bulimie praktisch nicht bekannt sind – abgesehen von den jeweils wohlhabenden Kreisen.

Die Mortalität beträgt über fünf Prozent [13, 25, 38]. Pro Jahr wurde eine Mortalitätsrate von 0,56 Prozent berechnet, die das zwölffache der Quote der Allgemeinbevölkerung beträgt. Die Hälfte der Patienten mit Essstörungen werden vollständig gesund, bei 30 Prozent ist es möglich, die Symptomatik zu verbessern [29, 36].

Die Ätiologie ist nach derzeitigem Wissensstand multifaktoriell. So werden psychische Faktoren, genetische, neurochemische und soziokulturelle Einflüsse angenommen. Frühkindliche Störungen in der Entwicklung, ungünstige spätere soziale und familiäre Situation, spezifische Probleme der Adoleszenz oder Verlustsowie Trennungsereignisse werden in unterschiedlicher Gewichtung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Krankheitssymptomatik verantwortlich gemacht [17].

Frühe Zeichen einer Essstörung

Die Essstörungen sind psychosomatische Erkrankungen, die schwere bis lebensgefährliche Folgen haben können (Tabelle 1). Die meisten Symptome resultieren aus der mangelnden Nahrungszufuhr und/oder dem häufig herbeigeführten Erbrechen und/oder dem Abusus von Laxantien und Diuretika. Ausgeprägtes Untergewicht mit einem Bodymass-Index unter 17,5, Kachexie und Amenorrhö können als Leitsymptome einer Anorexia nervosa gewertet werden. Die pubertäre Entwicklung verzögert sich, wenn die Erkrankung vor oder während der Pubertät beginnt. Bereits das massive Untergewicht lässt schnell an die Diagnose Anorexia nervosa denken. Zur Abgrenzung müssen die Differenzialdiagnosen eines Gewichtsverlustes berücksichtigt werden (Tabelle 2).

Eine Patientin mit Bulimie kann hingegen nicht beim ersten Augenschein erkannt werden. Auffälligstes Symptom bei der Bulimie ist häufig der schlechte Zahnstatus. Die Kenntnis der in Tabelle 1 aufgeführten Symptome und Laborwerte können für den Hausarzt hilfreich sein, um den Verdacht einer Essstörung bei einer Patientin, die wegen diffuser Beschwerden gekommen ist, anzusprechen. Dies kann für die Patientin erleichternd wirken [17]. Denn bevor die Diagnose gestellt und akzeptiert worden ist, sprechen die Patientinnen die Essstörung entweder aus Scham (meist Patientinnen mit Bulimie) nicht an oder sie leugnen die Probleme aus mangelnder Krankheitseinsicht (meist Patientinnen mit Anorexia nervosa).

Anorexie/Bulimiepatienten sind unauffällig

Vor der Erkrankung werden die Patientinnen als in der Familie problemlos funktionierend, überangepasst, gehorsam und hilfsbereit erlebt. Bruch beschrieb das Wesen der psychischen Struktur anorektischerPatientinnen mit dem Vorliegen einer Körperschemastörung, Störungen der Wahrnehmung von Hunger und anderen Gefühlszuständen und Hilflosigkeitsgefühlen [10].

In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation werden für Anorexia nervosa und Bulimia nervosa klare klinisch-diagnostische Leitlinien angegeben [14].

In neueren Studien werden entsprechend des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (deutsche Übersetzung: Saß et al. 1998 [35]) zwei Subtypen der Anorexia nervosa unterschieden: Anorexia nervosa vom restriktiven Typ und Anorexia nervosa vom binge-eating/purging Typ. Patientinnen mit Anorexia nervosa vom restriktiven Typ reduzieren ihr Gewicht allein durch strenge Diät und körperliche Bewegung, anorektische Patientinnen vom bingeeating/purging Typ regulieren ihr Gewicht auch durch Ess-/Brechanfälle, Diurektika-, Laxantieneinnahme und Klistieranwendung [5].

Mithilfe verschiedener diagnostischer Tests (ANIS, EDES, EAT, EDI) kann die Essstörung entsprechend ihrer Symptomatik in die verschiedenen Subtypen eingeordnet werden. Eine psychiatrische Diagnostik ist zusätzlich aufgrund der hohen Prävalenz einer Komorbidität notwendig. Angststörungen [12, 22, 23, 37], anankastische Persönlichkeit oder Zwangssymptomatik [11, 19, 40] und depressive Symptome [3, 24] wurden beschrieben.

Die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen ist mit einer ungünstigen Prognose behaftet [30]; sie kommt häufiger bei an Bulimie Erkrankten vor [27, 42]. Dagegen können sich bei Patientinnen mit Anorexia nervosa Magersucht und Heroinabhängigkeit abwechseln.

Schritt 2: Machen Sie den Ernst der Lage klar

Es konnte gezeigt werden, dass 60 bis 80 Prozent der Patientinnen mit Essstörungen von einer Psychotherapie profitieren. Verhaltenstherapeutische Verfahren, Familientherapie und Psychoanalyse sind effektiv [1, 16, 26, 34, 39]. Um eine Chronifizierung verhindern zu können und einen ungünstigen Verlauf zu vermeiden ist ein früher Beginn einer Psychotherapie wichtig. Allerdings wollen die Patientinnen die Schwere der Erkrankung vor allem anfangs oft nicht wahrhaben und sind daher häufig nur schwer von der Notwendigkeit einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Therapie zu überzeugen [31, 33].

Die Therapie sollte eine Aufklärung über die möglichen gesundheitsschädigenden Folgen der Essstörung beinhalten. Mögliche Gefahren müssen frühzeitig erkannt werden. Ambulante, tagesklinische und stationäre Therapiesettings werden angeboten. Gemeinsam mit der Patientin sollten das am besten geeignete Setting und die Therapieart geplant werden.

Ein stationäres Setting sollte immer dann gewählt werden, wenn eine somatische Gesundheitsgefährdung vorliegt. Dies ist beispielsweise der Fall bei Arrhythmien, Symptomen wie Brustschmerz oder Schwindel, einem Gewichtsverlust von mehr als 40 Prozent insgesamt oder mehr als 30 Prozent in den letzten drei Monaten sowie dem gleichzeitigen Vorhandensein weiterer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Asthma und mehr.

Interdisziplinäre Therapie so früh wie möglich

Eine interdisziplinäre Kooperation sollte es ermöglichen, dass mit Beginn der Psychotherapie auch die Folgen der Essstörungen behandelt werden. Dem Hausarzt kommt hinsichtlich der Diagnosestellung, der Motivierung zur Therapie, der Therapieeinleitung und der Therapiekoordination eine sehr wichtige Rolle zu.

Eine frühe Diagnosestellung kann Folgeschäden lindern oder gar verhindern und ist insgesamt mit einer günstigeren Prognose assoziiert. Bei sehr schweren Verläufen und bereits weit fortgeschrittener Erkrankung mit extremem Untergewicht kann die somatische Behandlung anfangs im Vordergrund stehen. Eventuell kann sogar eine intensivmedizinische Behandlung akut notwendig sein. Dabei muss beachtet werden, dass eine zu rasche parenterale Ernährung ein akutes Phosphatmangelsyndrom mit neurologischen Komplikationen auslösen kann [6].

Primäres Ziel bei einer Patientin mit Anorexia nervosa ist die Gewichtszunahme. Damit normalisiert sich auch der Zyklusverlauf. Die durch Östrogen-, Vitamin-D- und Kalziummangel bedingte Osteoporose kann zu multiplen Frakturen führen [41]. Allerdings führt eine Östrogensubstitution zu keiner besseren Knochendichte. Entscheidend ist die Gewichtszunahme unter Mulivitamin- (Vitamin D 400 IE/Tag) und Kalziumzufuhr von 1000 bis 1500 mg/Tag [8]. Die Anorexia nervosa lässt sich psychopharmakologisch nicht effektiv behandeln. Auch bei der Bulimia nervosa ist die Psychotherapie der Psychopharmakologie überlegen [32]. Allerdings scheinen Serotoninwiederaufnahmehemmer, wie Fluoxetin, in Kombination mit einer Psychotherapie bei Patientinnen mit Bulimie hilfreich zu sein [2, 28]. Eine zusätzliche depressive Erkrankung sollte unter Berücksichtigung der Kontraindikationen, insbesondere bei Hypokaliämie und QT-Zeitverlängerung, mit Antidepressiva behandelt werden.

Fazit

Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sind häufige Erkrankungen heranwachsender Frauen mit einer hohen Mortalität. Bei der frühen Diagnosestellung spielt der Hausarzt eine wichtige Rolle. Eine Kooperation zwischen Internisten, Psychosomatikern und Psychiatern ist sinnvoll. Psychotherapeutische Verfahren, wie Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und Familientherapie ambulant, teilstationär oder stationär, sind effektiv, wobei gleichzeitig die somatischen Folgen der Essstörungen behandelt werden sollten.

Zusammenfassung

Essstörungen sind unter weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen weit verbreitet und können zu ernsthaften gesundheitlichen Komplikationen führen. Anorexia nervosa vom restriktiven Typ, Anorexia nervosa vom binge-eating/purging Typ und Bulimia nervosa zeichnen sich durch verschiedene Verhaltensmuster aus. Die Nahrungsaufnahme wird stark eingeschränkt, Fressanfälle mit anschließendem Erbrechen, dem Einsatz von Abführmitteln oder extremem körperlichen Training und eine übertriebene Kontrolle von Figur und Körpergewicht bestimmen den Tag. Die Mortalitätsrate liegt allein für Anorexia nervosa bei 0,56 Prozent im Jahr und ist damit zwölfmal so hoch wie die junger Frauen der Allgemeinbevölkerung. Essstörungen sollten frühzeitig erkannt und behandelt werden, um eventuelle Folgeerkrankungen zu vermeiden. Dabei sollten eine Psychotherapie sowie eine Ernährungsberatung die Behandlung durch den Hausarzt ergänzen.

Dr. med. Markus BackmundKrankenhaus München SchwabingKlinik 3 – Bereich SuchtmedizinKölner Platz 1, 80804 MünchenE-Mail:Markus.Backmund@kms.mhn.de|_blank

Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigungdes Verlags aus 298|31 MMW-Fortschr.Med. Nr. 17 / 2004 (146. Jg.)

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