Der Problempatient

Das Orofazialsystem als Schnittstelle zwischen Psyche und Soma

Heftarchiv Zahnmedizin
Professor Dr. Müller-Fahlbusch nannte sie „Lehrerinnen mit Doppelnamen, Alter über 40“ und heimste sich mit dieser Beschreibung nicht nur Freunde ein. Gemeint hatte der große Psychosomatiker aus Münster aber genau die Patientengruppe, die auch ohne jeden zahnärztlichen Befund immer wieder mit Problemen in der zahnärztlichen Sprechstunde auftaucht(e). Seit einigen Jahren hat sich der so genannte Problempatient als der „psychosomatische Patient“ entpuppt. Wie vielschichtig dieses Krankheitsbild ist, stellt hier Primarius Dr. Dr. Gerhard Kreyer, Langenlois, in allen Einzelheiten vor.

Obwohl bereits in der Literatur der Antike in zahlreichen Textstellen [17,18] eindrucksvoll psychosomatische Manifestationen im Bereich des Orofazialsystems in präziser Art und Weise beschrieben wurden, ist es erstaunlich, dass es nahezu zweieinhalb Jahrtausende dauern musste, bis die Psychosomatik ihren Weg als anerkannte und akzeptierte Disziplin in das Gebäude der wissenschaftlichen Medizin fand.

Für das lange Zeit überwiegend mechanistisch orientierte Spezialgebiet der Zahnmedizin war dieser Weg noch mühsamer und erfolgte mit erheblicher Zeitverzögerung. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich gerade bei der Mund-Kiefer-Region aus mehreren Gründen um eine besonders persönlichkeitsnahe Intimzone hohen emotionalen Stellenwertes handelt.  

Einerseits kommen in der Ausnahmesituation der Zahnbehandlung oft mit besonderer Deutlichkeit tiefenpsychologische Aspekte mit Bezug zur Oralregion zum Tragen, auf welche Sigmund Freud als erster hingewiesen hatte [6, 7], andererseits ist auch aus neurologischer Sicht die Repräsentation des Mundes sowohl im Bereich des motorischen als auch des sensorischen Kortex von besonderer Bedeutung: Beim so genannten „Penfield’schen Homunculus“ ist die Oralregion der dominierende Bereich schlechthin [25].

Waren es für den Bereich der Allgemeinmedizin vor allem die grundlegenden Arbeiten von Freud [6,7], Jung [11] und Alfred Adler [2] sowie – neben vielen anderen – Persönlichkeiten wie Mitscherlich [21], Hoff [11], Ringel [10] und nicht zuletzt auch Thore von Uexküll [29], denen dieser Durchbruch zu verdanken ist, so gebührt dieser Verdienst für den Bereich der Zahnmedizin wohl in erster Linie Pionieren wie Drum [4], Graber [8], Kreyer [12,13,14], Marxkors [19], Müller-Fahlbusch [22,23,24] sowie Neuhauser [25] und Sergl [28].

Problemdarstellung

Da psychosomatische Manifestationen im Bereich des Orofazialsystems zurzeit weder in der aktuellen Version der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10) noch im „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen“ (DSM-IV) ausreichende Berücksichtigung finden, soll der Versuch unternommen werden, jene somatischen Manifestationen, Störungen oder Krankheiten psychischen Ursprungs im Bereich des Orofazialsystems darzustellen, welche von Praxisrelevanz sind und bei extensiver Interpretation des Begriffes als „psychosomatisch“ verstanden werden können.

In erster Linie handelt es sich dabei um die Kategorien für neurotische Störungen mit ihren diversen Unterklassifikationen, vor allem im Sinne von Somatisierungsstörungen und somatoformen Störungen, insbesondere somatoformen Schmerzstörungen sowie autonomen Funktionsstörungen und körperlichen Funktionsstörungen psychischen Ursprungs. Darüber hinaus kommen auch Persönlichkeitsstörungen und anderweitig zu klassifizierende Erkrankungen, bei denen psychische Faktoren eine Rolle spielen, in Frage. Nicht zuletzt sind dabei aber auch affektive Störungen im Sinne eines manisch-depressiven Krankheitsgeschehens in Betracht zu ziehen.

Patienten und Methoden

Aufbauend auf den Erfahrungen, die in den vergangenen 32 Jahren im Rahmen von über 50 000 Interventionen an der Zahnstation des „Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien“ mit der Behandlung psychisch Kranker und psychisch Behinderter gemacht wurden, sollen die aus der Sicht der Zahnmedizin wesentlichsten Aspekte dargestellt werden.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit, wie auch aus pragmatischen Überlegungen in Hinblick auf diagnostische wie therapeutische Konzepte empfiehlt sich eine Unterteilung in drei Problemkreise:

• Psychosomatik des Bezahnten

• Psychosomatik des Zahnverlustes

• Psychosomatik des Unbezahnten

Psychosomatik des Bezahnten

Hier geht es einerseits um die Problematik des Angst-Patienten in der Zahnmedizin an sich, um die Manifestationen dieser Angst, sei es auf der bewussten Ebene, sei es auf der Ebene des Unbewussten oder auf der Ebene des Vegetativen, wie etwa bei den psychogenen Störungen der Speichelsekretion (psychogene Hyper- beziehungsweise. Hypo-Salivation), der Zungen- und Lippenfunktion oder des Kau- und Schluckaktes.

Von ganz besonderer Bedeutung im Sinne der „Gate-Control-Theorie“ nach Melzack und Wall [20] sind in diesem Zusammenhang individuelle Mechanismen der Schmerzperzeption beziehungsweise der Schmerzverarbeitung des jeweiligen Patienten, da sich daraus wesentliche Konsequenzen für das im Einzelfall optimale therapeutische Vorgehen ableiten lassen, etwa in Hinblick auf das therapeutische Konzept der so genannten „Integrativen Anxiolyse“ in der Zahnmedizin [13, 14].

Andererseits ist hier der zahlenmäßig bedeutende Bereich der so genannten „orofacialen Parafunktionen“ anzusprechen. Dabei handelt es sich um Fehlfunktionen im Bereich des Orofazialsystems, wie den Bruxismus (Zähnepressen, Zähneknirschen), das Zungenpressen, Lippenbeißen, Lippenlecken, Bleistiftkauen, Daumenlutschen, Nägelbeißen und dergleichen mehr. Parafunktionen können als so genannte „gnathogene Parafunktionen“ eine rein organische Ursache (wie Bruxismus) im Kausystem haben (Engstand, Okklusionsstörungen, fehlerhafter Zahnersatz und mehr) oder als „psychogene Parafunktionen“ auf psychische Faktoren zurückzuführen sein. In diesem Sinne scheint dem Bruxismus als offensichtlich besonders effektiver somatischer Mechanismus der Aggressionsentladung besonderer Stellenwert zuzukommen.

In den allermeisten Fällen findet man so genannte „Misch- oder Überlagerungsformen“, wo neben organischen Faktoren auch psychische Mechanismen mitbeteiligt sind. Im Sinne des dann erforderlichen organmedizinischen und psychotherapeutischen „bifocalen Therapieansatzes“ ist es in diesen Fällen eine Frage der diagnostischen und therapeutischen Kompetenz des Behandlers, eine dem Einzelfall jeweils gerecht werdende Gewichtung vorzunehmen.

Eine weitere interessante orale Manifestation überwiegend psychischen Ursprungs ist das so genannten „Burning-Mouth-Syndrome“:

Es ist gekennzeichnet durch brennende Schmerzempfindungen im Mundbereich, insbesondere der Zunge, was auch durch andere in der Literatur dafür gebräuchliche Begriffe wie „Glossodynie“, „orale Dysästhesie“ oder „Glossopyresis“ unterstrichen wird.

Im amerikanischen „National Health Interview“ des Jahres 1989 wird von einer Prävalenz von 0,7 Prozent ausgegangen, was für Österreich einer Zahl von rund 64 000 und für Deutschland von mindestens einer halben Million Personen entspräche.

Neben lokalen Ursachen, wie einer Kontakt-Allergie, Zungen-Fehlfunktionen und Candida-Infektionen, kommen auch systemische Faktoren, wie vasomotorische Störungen und hämatologische Befunde (Perniciöse Anämie, Eisen-Mangel-Anämie) sowie Störungen der Speichelsekretion, in Frage. In über 50 Prozent der Fälle wird allerdings eine psychische Ursache für das Burning-Mouth-Syndrome angenommen [9].

Um eine aktuelle Problematik aus jüngster Zeit handelt es sich bei der „psychogenen Amalgamintoleranz“.

Eine kürzlich publizierte Studie [16], welche 25 Patienten mit „psychogener Amalgamintoleranz“ einer aufwändigen testpsychologischen Untersuchung unterzog, konnte nachweisen, dass es sich bei den sich „amalgamgeschädigt“ fühlenden Patienten überwiegend um Frauen jenseits der Lebensmitte handelte, bei welchen sich in der Anamnese in vielen Fällen ein „Live-event“ nachweisen ließ. Dieses kam als Auslöser für – in aller Regel höchst unspezifische – Beschwerdebilder in Frage.

Während sich keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Zahl der im Munde befindlichen Amalgamfüllungen mit dem Beschwerdebild nachweisen ließ, ergab die Auswertung eine klare Korrelation mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, wie etwa einer „hohen allgemeinen Angstbereitschaft“ im Sinne des „State- and Trait-Anxiety-Inventory“. Es ist daher davon auszugehen, dass es sich bei der so genannten „Amalgamintoleranz“, abgesehen von seltenen Fällen echter Amalgam-Allergie oder von Quecksilberintoxikation, in den allermeisten Fällen um „somatoforme Störungen“ im Sinne von ICD-10 beziehungsweise DSM IV handeln dürfte.

Psychosomatik des Zahnverlustes

Gerade aus tiefenpsychologischer Sicht kommt der Oralregion besonderer Stellenwert zu. Wir wissen seit den Arbeiten Freuds (6,7), Abrahams (1), Elhardts (5) und anderer um die Bedeutung des Zahnes als Sinnbild von Aggressivität, Vitalität, Kraft und Potenz. Zahnverlust wird oftmals empfunden als Potenzverlust oder Verlust der sexuellen Attraktivität.

Entsprechender Stellenwert kommt dieser Problematik bei der Indikationsstellung zur Zahnextraktion zu, insbesondere dann, wenn es sich um den Verlust von Frontzähnen handelt, welche sowohl in phonetischer als auch in ästhetischer Hinsicht für die Außenpräsentation und für die soziale Interaktion von überragender Bedeutung sind.

Eine weitere Akzentuierung ist dann gegeben, wenn es sich um Patienten in der Lebensmitte, der Zeit der so genannten „Midlife-Crisis“ handelt. Hier bedarf es sehr genauer Überlegungen, ob tiefe Eingriffe in dieses in besonderer Weise sensible und persönlichkeitsnahe orofaziale System des Mundes, zum Beispiel im Sinne von Reihenextraktionen – womöglich an Frontzähnen –, von diesen Patienten psychisch verkraftet werden können.

Obwohl in jedem Fall auf die Einzelproblematik einzugehen ist – sowohl aus zahnärztlich- technischer als auch aus psychologischer Sicht – gibt es doch gewichtige Argumente, wo immer möglich, festsitzenden Zahnersatz zu bevorzugen.

Bei einwandfreier Anfertigung geht dabei die Inkorporation rascher und unproblematischer vonstatten als bei abnehmbarem Zahnersatz, bei welchem die Adaptationsphase durch das aus hygienischen Gründen immer wieder erforderliche Herausnehmen der Prothese erheblich verlängert wird.

Bei sensibilisierten Patienten wird dadurch – bildlich gesprochen – jedesmal ein neuerliches psychisches Mikrotrauma gesetzt, welches erst verarbeitet werden muss.

Allerdings wissen wir, dass auch festsitzender Zahnersatz (und hier in erster Linie Implantat-getragener) keinen absoluten Schutz vor psychogener Ablehnung darstellt.

Insbesondere bei Neurotikern kann es im Rahmen einer Konversionssymptomatik, von funktionellen Störungen aber auch von Somatisierungsstörungen, zu einer Projektion innerpsychischer Probleme auf die Oralregion kommen.

Dies gilt auch für zyklothyme Persönlichkeiten mit affektiven Störungen im Sinne eines manisch-depressiven Krankheitsgeschehens, welches vor allem, wenn es larviert auftritt, den psychodiagnostisch wenig geschulten Zahnarzt vor erhebliche Probleme stellen kann.

Die – nicht zuletzt im Zuge der Balint-Arbeit – mit Zahnärzten gemachten Erfahrungen können plakativ mit Termini wie: „Pain-Games“, „Doctor-shopping“ oder „Koryphäen-Killer-Syndrom“ umschrieben werden.

Als eigener Symptomen-Komplex zahnmedizinischer Auffälligkeiten, welche gehäuft bei Patienten mit neuropsychiatrischen Diagnosen auftreten, wurde von Kreyer [13] das so genannte „psychodentale Begleitsyndrom“ beschrieben.

Dabei finden sich einerseits für die Oralregion bedeutsame vegetative Veränderungen wie eine reduzierte Speichelmenge, eine erhöhte Speichelviskosität, eine reduzierte Pufferkapazität des Speichels mit gesteigerter Aktivität der kariogenen Keime Streptococcus mutans und Lactobacillus acidophilus sowie auch funktionelle Störungen im Sinne von Parafunktionen, Abrasi- onszeichen an über 50 Prozent des Kausystems, andererseits eine Häufung von Zahn- und Kieferfehlbildungen sowie „psychogene Prothesen-Unverträglichkeit“ beziehungsweise im gegenteiligen Fall „psychogene Prothesen-Verträglichkeit“.

Psychosomatik des Zahnlosen

Hier geht es im Wesentlichen um zwei diametral verschiedene Krankheitsbilder: Einerseits handelt es sich um die von Müller-Fahlbusch [22,23,24] so bezeichnete „psychogene Prothesen-Unverträglichkeit“, ein Begriff dem sich auch andere Autoren anschlossen [12,19,28], andererseits um die von Kreyer [13,14,15] erstmals beschriebene „psychogene Prothesen-Verträglichkeit“. Von „psychogener Prothesen-Unverträglichkeit“ spricht man dann, wenn Patienten mit ihrem Zahnersatz nicht zu Rande kommen, obwohl dieser nach zahnmedizinischen Kriterien funktionstüchtig sein müsste.

Als zugrunde liegende psychiatrische Diagnosen fand Müller-Fahlbusch (13):

• 57% phasische Depressionen

• 21% abnorme Persönlichkeitsentwicklungen

• 19% abnorme Erlebnisreaktionen

• 3% Schizophrenien

Lediglich 15 Prozent des Patientenkollektives waren Männer, 85 Prozent waren Frauen. Dieser extreme Unterschied in der Geschlechtsprävalenz kann mit der Tatsache, dass Depressionen beim weiblichen Geschlecht häufiger vorkommen als beim männlichen, nicht ausreichend erklärt werden.

Im Gegensatz dazu bezeichnet man als „psychogene Prothesen-Verträglichkeit“ jenes Krankheitsbild, wenn Patienten aus zahnärztlicher Sicht inakzeptablen Zahnersatz aufgrund psychischer Besonderheiten unter Umständen jahrelang tolerieren, wobei es zu massiven Schädigungen im Bereich des Orofazialsystems, wie etwa Ulcerationen, Kiefergelenksschädigungen, Gaumenperforationen, Präkanzerosen und letztlich sogar zur Tumorentstehung, kommen kann. Bei einer Untersuchung an 38 Patienten des „Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien“ fand Kreyer [13,15] bei etwa gleicher Geschlechterverteilung folgende psychopathologischen Befunde:

• 55 % arteriosklerotische und senile Demenz

• 19 % Oligophrenie

• 16 % chronischen Alkoholismus

• 5 % hirnorganisches Psychosyndrom

• 5 % Morbus Alzheimer

Zusammenfassung

Als besonders persönlichkeitsnahe Intimzone des Menschen mit überproportionaler kortikaler Repräsentation erscheint die Orofazialregion offenbar besonders prädisponiert für eine Vielzahl verschiedener funktioneller und somatoformer Störungen. Diese betreffen sowohl bezahnte als auch unbezahnte Patienten in gleicher Weise bei zum Teil erheblichen Differenzen in der Geschlechtsprävalenz mit Überwiegen des weiblichen Geschlechtes.

In vielen Fällen kommt es zu einer massiven Beeinträchtigung des psycho-physischen Wohlbefindens, gelegentlich mit massiven somatischen Folgeschäden.

Viele Patienten haben aufgrund offensichtlicher Mängel – sowohl in der Primärversorgung wie auch in der präliminären Diagnostik – charakteristischerweise eine lange und komplizierte Anamnese mit zahlreichen negativen Untersuchungen und ergebnislosen somatischen Therapieversuchen beziehungsweise chirurgischen Eingriffen hinter sich.

Es war eines der Ziele der vorliegenden Arbeit, die Sensibilität für psychosomatische Aspekte im Bereich der Zahnmedizin zu erhöhen.

Prim. Univ.-Lekt. Dr. Dr. Gerhard KreyerKremser Straße 9, A-3550 Langenlois

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