Leitartikel

Medizinisches Ethos - die Balance zwischen Empathie und Autonomie

Sehr verehrte Frau Kollegin,sehr geehrter Herr Kollege,

unsere zahnärztliche therapeutische Tätigkeit, unser ganzes medizinisches Ethos bewegt sich in der Balance zwischen Empathie für den Patienten und der Anerkennung seiner persönlichen Autonomie. Dieser Gedanke, den der Münchner Lehrstuhlinhaber für politische Theorie und Philosophie, Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, auf dem Kongress „Zähne im Alter“ (siehe Bericht Seiten 22 und 24 ) so trefflich formulierte, betrifft den Kern unseres beruflichen Selbstverständnisses. Dieses ist einem Wandel unterzogen. Noch vor 20, 30 Jahren war ein paternalistisches Arztbild in den Köpfen unserer Gesellschaft verankert – der Arzt und Zahnarzt als väterliche Autorität, der seinem Patienten die Entscheidung über seine Therapie abnahm, weil er besser wusste, was für ihn gut und richtig ist. Und der Patient folgte.

Heute hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen – das Arzt-Patienten-Verhältnis ist ein anderes geworden. Der Patient ist informiert, entscheidet mit und steht dem Arzt und Zahnarzt in gleicher Augenhöhe gegenüber. Die Therapieentscheidung erfolgt in einem „informed consent“, das heißt, Arzt und Patient legen gemeinsam fest, welche Wahl die beste ist. Doch in bestimmten Fällen ist es notwendig, dass der Arzt die endgültige Entscheidung trifft. Die Zeit des reinen Paternalismus ist vorbei, die medizinische Autorität des Arztes und die Partnerschaft zum Patienten müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Gerade bei der Behandlung älterer und alter Menschen sollten wir uns dieses Arzt-Patienten- Verhältnisses sehr bewusst sein. Gemäß der demographischen Entwicklung nimmt die Zahl älterer und alter Patienten zu, und die Gerostomatologie gewinnt für unseren Berufsstand an Bedeutung. Wir Zahnärzte sind gefordert, die geänderte Situation aktiv anzugehen: Die Zahn-, Mundund Kieferheilkunde wird sich viel stärker mit dem Alter befassen müssen als bisher. Multimorbidität, Immobilität, die Heterogenität der Altersgruppe selbst – um nur einige Bereiche zu nennen – erfordern ein ganz eigenes Fingerspitzengefühl für den Patienten. Neben verstärktem Wissen über den Zusammenhang zwischen allgemeinmedizinischen und zahnmedizinischen Erkrankungen gehört dazu die Weiterentwicklung kommunikativer und psychologischer Fähigkeiten – eben Empathie.

Es besteht die Gefahr, dass wir uns im Trubel des Praxisalltags und bei vollen Terminkalendern dazu verleiten lassen, mit alten Patienten ungeduldig zu werden, sie zu bevormunden, uns zu wenig Zeit zu nehmen – kurzum, wieder in die paternalistische Rolle zu schlüpfen (Ein älter Mensch braucht im Schnitt zwei Minuten, um dem Arzt den Kern seines Anliegens zu schildern, er wird in der Regel aber nach 22 Sekunden von diesem unterbrochen.) Dabei wird dann ganz außer Acht gelassen, dass wir einen Menschen vor uns haben, der autonom denkt und fühlt, der ein Recht auf Selbstbestimmung hat, der eben nur ein wenig anders ist als der Rest unserer Patienten und deswegen eine besondere Zuwendung braucht.

Die zahnmedizinische Wissenschaft wie auch die Berufspolitik arbeiten stark daran, den notwendigen Wissenstransfer über den Umgang mit älteren und alten Patienten in die Praxen zu leisten. Um einige Facetten zu nennen: Beim Entwurf der neuen Approbationsordnung haben Aspekte wie Gerostomatologie, Kommunikation und Psychologie verstärkt im Fächerkanon Fuß gefasst. Auf Kammerebene werden Modelle entwickelt, um eine besondere Betreuung von Senioren in der ganzen Unterschiedlichkeit ihrer Lebenssituationen zu gewährleisten. Auf Bundesebene haben wir als Bundeszahnärztekammer mit Publikationen und Workshops wichtige Impulse gesetzt. Auf wissenschaftlichen Fortbildungsveranstaltungen findet die Gerostomatologie immer mehr Zulauf.

Bei all dem dürfen wir Zahnärzte in unserem Selbstverständnis als „oral physician“ unser medizinisches Ethos nicht außer Acht lassen. Und dieses Ethos ist auch nur dann tragfähig, wenn wir uns nicht ausschließlich an der Ökonomie orientieren, sondern unsere hohe Verantwortung als Ärzte für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde aktiv leben.

Mit freundlichen kollegialen Grüßen

Dr. Dr. Jürgen WeitkampPräsident der Bundeszahnärztekammer

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