Deutschlands Mediziner sind müde – und manches leid

Junge Ärzte braucht das Land

Die Klinikärzte sind müde. Weil sie zu lange am Stück arbeiten. Weil sie in der Arbeitszeit Verwaltungskram erledigen, dafür als Arzt Überstunden leisten und zusätzlich kostenfrei auf Abruf bereit stehen sollen. Die niedergelassenen Kollegen durchleben ähnliche Nöte. Erstmalig mit Streiks versuchte der Marburger Bund (MB) als Vertretung der Klinikärzte jetzt, gegen die Vereinnahmung von Medizinern durch die Politik und Verwaltung vorzugehen.

Die Unmutswelle kocht hoch, die Ärzte wollen der Politik mit organisierten Warnstreiks „die rote Karte zeigen“, weil diese von ihnen „mehr Arbeit für weniger Geld“ fordere. Die Erkenntnis, dass die Forderung „Mehr Output für weniger Input“ ein ökonomisches Paradoxon ist, hindert den Marburger Bund seinerseits nicht daran, mit der Umkehr-Formel „Mehr Geld für weniger Arbeit“ gegenzuhalten. Die Folge: Die Kommunikation zwischen den Kontrahenten bleibt unterbrochen.

Die Auseinandersetzung schien zunächst ihr Ende zu finden, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 9. September 2003 entschied, ein Bereitschaftsdienst habe als Arbeitszeit zu gelten. Klarer Fall? Die Definition von „Arbeitszeit“ erwies sich als so dehnbar wie eine Nylonstrumpfhose. Die Masche dabei: die Unterteilung des Bereitschaftsdienstes in aktiven und inaktiven Dienst. Mit der Definition dieser „Teilung“ von „Bereitschaft“ stellte die zuständige EU-Kommission die klare Aussage des EuGH wieder in Frage.

Opt-out im Kommen

Die Kommission wollte schon 2003 das individuelle Opt-out, also das Abweichen von der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden strenger regeln. Doch gleichzeitig sollten Bereitschaftszeiten in aktive und inaktive unterschieden werden. Der so genannte „inaktive Bereitschaftsdienst“ – wenn der Arzt zwar an seinem Arbeitsplatz anwesend ist, jedoch gerade keinen vertraglichen Pflichten nachkommt – gilt demnach nicht als Arbeitszeit. Kritik der Ärzteschaft: Gerade diese völlig neue Zeitkategorie könnte es erlauben, die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden auszuhebeln.

Die EU-Parlamentarier dagegen stimmten zeitgemäß Mitte Mai 2005 in Straßburg mehrheitlich dafür, dass Bereitschaftsdienste von Ärzten und anderen Arbeitnehmern grundsätzlich als Arbeitszeiten gelten müssen. „Wir begrüßen den Beschluss des Europäischen Parlaments zum Bereitschaftsdienst. Damit folgt das Parlament dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 9. September 2003, das Bereitschaftsdienst klar als Arbeitszeit definiert hat“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe. Er forderte die EUKommission auf, ihre Überlegungen zur Neufassung der Arbeitszeitrichtlinie nunmehr dem Votum des Parlaments anzupassen. „Es ist nicht zu akzeptieren, dass durch die von der Kommission bislang beabsichtigte Neudefinition der Bereitschaftsdienste in aktive und inaktive Zeit die Rechtsprechung ad absurdum geführt wird.“

Das Limit

Das deutsche Arbeitszeitgesetz zieht die Höchstgrenze der wöchentlichen Arbeitszeit grundsätzlich bei 48 Stunden. Die berüchtigten Marathondienste waren ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, zumal im Interesse der Patienten 36-Stunden- Schichten der Ärzte abgelehnt wurden. Im Bus sei ein Mensch besser aufgehoben als im Krankenhaus, denn dort wachen Kontrollen über die Einsatzbereitschaft des Verantwortlichen, sprich den Fahrer, und damit über das Wohl des Passagiers – so lautete die einhellige Kritik an den Marathondiensten in Krankenhäusern. Das Echo auf 36-Stunden-Dienste lautet in der Presse zum Beispiel: „Klinikärzte in Baden-Württemberg verstoßen noch immer regelmäßig gegen die gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften.“ Das hätten Überprüfungen der Gewerbeaufsichtsämter des Landes im Auftrag des Sozialministeriums ergeben. Mit neuen Arbeitszeitmodellen sollen die Chefs der Häuser dieses Dilemma in den Griff bekommen. Denn, wie dieses Sozialministerium herausstellt: Der Arbeitgeber ist verpflichtet, bei der Beschäftigung von Arbeitnehmern die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes zu beachten. „Überlange Arbeitszeiten und unzureichende Ruhezeiten gefährden die Gesundheit und die Sicherheit der Beschäftigten“ und im Falle der Kliniken auch die der Patienten.

Zeit- und Lustfresser

Die Unzahl an Überstunden sei jedoch auch auf hausgemachte Desorganisation in den Kliniken zurückzuführen, monieren besonders Assistenten ihre Vorgesetzten. „Wir hatten die 35-Stunden-Woche so gern, dass wir sie dienstags Abends schon erfüllt hatten“ erinnert sich der Mediziner Cay von Fournier an seine Zeit in der Berliner Charité. Er hat den Arztberuf an den Nagel gehängt und in die Unternehmerbranche gewechselt, weil die Zeitvergeudung seinem ökonomischen Verständnis schlicht zuwiderlief. So würden zum Beispiel immer noch einige Oberärzte auf einem Pulk von Mitarbeitern bei der Chefvisite bestehen und diesen prompt – wie ein Autokrat einst seine Höflinge beim ‚Lever‘ – durch ihre Unpünktlichkeit zu anschließender Aufholarbeit durch Überstunden zwingen. Dabei zeigten moderne Geister in zeitgemäß gemanagten Kliniken bereits, dass die Chefvisite mit einem kleinen Stab effektiver sei. Andere Krankenhäuser verbesserten ihre interne Kommunikation. In einer Kölner Klinik etwa wurden digitale Diktate gegen das anfängliche Misstrauen der Belegschaft mit Erfolg durchgesetzt – in doppeltem Sinne zur Erleichterung aller Beteiligten.

Nix wie weg

Angesichts wachsender Arbeitszeiten, überbordender Bürokratie sowie abnehmender Verdienstaussichten geben immer mehr junge Ärzte – wie von Fournier – ihre Profession auf.

Studenten brechen ab, Assistentenstellen bleiben unbesetzt, Niederlassungen ohne Nachfolger. In Baden-Württemberg blieben just 2003 auf dem Land bereits 365 (Assistenten-) Stellen für Zahnarztpraxen unbesetzt. Es fehlten Bewerber. Wo sind sie geblieben, wer hat sie geseh’n? Mit „Wir“ können zum Beispiel die Briten auf diesen bekannten Refrain antworten. Auf der Insel verdiene ein Facharzt bei einer geregelten 50-Stunden-Woche das Dreifache des hiesigen Gehaltes“, monierte Hoppe öffentlich. MB-Chef Dr. Ulrich Montgomery bezeichnete es „als Skandal“, dass deutsche Ärzte im internationalen Vergleich mit am wenigsten verdienten. Auswandern scheint in Mode zu kommen.

Ein Incentive allein macht noch keine Schwemme

Das Land spürt die Folge. Also wurde die Politik einmal mehr aktiv. Das Incentive: Geld. Zum Beispiel Finanzspritzen für neue Klinikärzte, Fachleute schätzten die Kosten für die 15 000 Ärzte auf ein, andere auf zwei Milliarden Euro per anno. Oder Anschubfinanzierungen für Niederlassungswillige in Thüringen – hier sind von 1 500 Hausärzten 900 über 50 Jahre alt und für 2008 droht eine Unterversorgung. Die KV erwägt, eine Tochtergesellschaft zu gründen, die junge Ärzte befristet anstellt und in die Niederlassung begleitet, oder Zweitpraxen in Mangelregionen zu bezuschussen. Doch bleibt die Frage, ob schnöder Mammon die Entwicklung stoppen kann? Mittlerweile fehlt der Nachwuchs schlicht. Und eine Umfrage des MB unter den deutschen Medizinern macht deutlich: Die meisten haben die Nase voll von der Überdehnung der Arbeitszeiten und wollen ihren ärztlichen Einsatz besser honoriert sehen. So oder so.

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