Probleme einer überalternden Gesellschaft

Vom Wert der Methusalems

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Angst vor dem Alter ist so alt wie die Menschheit. Doch mit der Überalterung der Gesellschaft entsteht eine neue Art von Angst: die vor einer Übermacht der Alten. Was kommt als Nächstes? Die Angst der Alten vor dem Zorn der überforderten Jungen? Oder kommt der Wertewandel vom ewigen Jugend- Kult zum „Old is beautiful“? Die Diskussionen sind heftig, kreisen vorrangig um Befindlichkeiten. Aber Lösungen des Problems gibt es bisher keine.

Frank Schirrmacher ist „Journalist des Jahres 2004“. Vom Fachblatt „Medium-Magazin“ gekürt wurde der zurzeit in der Öffentlichkeit viel herumgereichte FAZ-Mitherausgeber wegen seines Bestsellers „Das Methusalem-Komplott“ (Karl Blessing Verlag, München 2004, ISBN 3-89667-225-8). In Sachen Zeitgeist hat der FAZ-Chef mit diesem Buch eine glatte Punktlandung hingelegt. Und zwar über einen Sachverhalt, der nicht einmal neu ist: „Am Horizont der Zukunft baut sich eine der erbittertsten Streitmächte gegen die Alten auf, die es je gegeben hat. Sie marschiert auf uns zu, die wir heute 20, 30 oder 60 Jahre sind, denn wenn der Krieg beginnt, werden wir die Älteren sein.“

Klar, Generationen streiten sich. Aber von „Krieg“ war bisher nicht die Rede. Sozialund Volkswirtschaftswissenschaftler warnen seit Jahren vor den Problemen, die die „Vergreisung“ unserer Republik bringen wird: Die Zahl der Deutschen soll – ohne Einrechnung etwaiger Zuwanderer – von heute knapp 82 Millionen bis zum Jahr 2050 auf voraussichtlich unter 60 Millionen Bürger schrumpfen. Die Folge: Ein jenseits der Ballungsräume hochgradig entvölkertes Deutschland, in dem immer weniger Leute das Geld verdienen, von dem alle leben müssen.

Bleibt es bei den derzeitigen Konditionen, wird um die Mitte dieses Jahrhunderts ein Beschäftigter für zwei Rentner aufkommen müssen (bei einem angesetzten Rentenalter über 60 Jahren). Ein Verhältnis, das die Anfang des 20. Jahrhunderts noch intakte, heute immerhin noch erkennbare Pyramidalstruktur der Altersverteilung (viele Junge sorgen für wenige Alte) bis 2050 zu einem „plumpen Ball“ verkommen lässt. Sind derzeit noch etwa 23 Prozent der Deutschen 60 Jahre oder älter, werden es im Jahr 2050 bereits über 40 Prozent sein.

Auch durch Zuwanderung aus dem Ausland können diese Strukturen nicht mehr großartig gesunden. Bei zurzeit rund 1,4 Geburten pro Frau ist der inzwischen weit fortgeschrittene Schrumpfungsprozess unserer Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr umkehrbar. Das gilt für Deutschland und in der Tendenz auch für die anderen Staaten Westeuropas.

Keine biblischen Zustände

Die Überalterung ist aber kein rein europäisches Problem, sondern – mit mehr oder weniger starken Ausschlägen – eins fast aller derzeitigen und auch kommenden Industriestaaten. Während sich in Deutschland die Zahl der über 65-Jährigen von 1990 bis 2050 fast verdoppelt, wird sie sich laut Angaben der Vereinten Nationen in China in gleicher Zeit vervierfachen. Heute ist jeder zehnte Chinese über 60, 2030 wird es jeder vierte, 2050 jeder dritte sein. „In Bildern gesprochen heißt das“, so warnt Journalist Schirrmacher, dass „die Erde wie ein riesiges Altersheim durchs Weltall kreisen“ wird. Medizinischer Fortschritt hat inzwischen auch in anderen Teilen der Welt den Weg zu ganz anderen Lebensalterszahlen geebnet. Trotzdem trifft das Dilemma in erster Linie die wirtschaftlich seit Jahrzehnten starken und künftig die frisch erstarkenden Länder. Vor allem die in Europa und Nordamerika aufgewachsene Generation der „Baby-Boomer“ der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts legt ihr ganzes Streben auf immer mehr Fitness und Gesundheit. Ihr erklärtes Ziel ist es, bei guter Gesundheit das Leben möglichst lange auskosten zu können.

Die Statistik gibt Anlass für berechtigte Hoffnung: Frauen haben beispielsweise in den letzten 160 Jahren rechnerisch jedes Jahr drei Monate an Lebenszeit gewonnen. In Deutschland hat, so macht es der Wissenschaftsjournalist Manfred Reitz in seinem Buch „Prinzip Uhr-Gen“ (S. Hirzel Verlag, Stuttgart/Leipzig, 2004, ISBN 3-7776-1302-9) deutlich, eine heute 60-Jährige statistisch noch 23,5, ein Mann gleichen Alters noch 19,25 Jahre zu leben.

In dieser Disziplin sind die Deutschen aber keineswegs die Spitzenreiter: Im ostasiatischen Inselreich Japan lag die statistische Lebenserwartung im Jahr 2002 um rund drei Jahre über der von Leuten aus deutschen Landen. Aber es geht auch noch mehr: Der bisher älteste Mensch, die Französin Jeanne Calment, wurde 122 Jahre, fünf Monate und neun Tage alt.

Kommen also biblische Zustände? Werden die Baby-Boomer von gestern die Methusalems von morgen?

Letztlich sind die Chancen auf so ein Maximum trotz aller medizinischer Fortschritte nach wie vor Fiktion. „Ein Leben bis an die biologische Altersgrenze“, so wähnt Buchautor Reitz, „bleibt vermutlich für den einzelnen Menschen auch in Zukunft so selten wie ein Hauptgewinn im Lotto“. Und: „Es wird geschätzt, dass zum Erreichen eines Lebensalters von 100 Jahren und mehr zu etwa 70 Prozent die genetische Ausstattung verantwortlich ist, und nur zu etwa 30 Prozent die Lebensumstände.“ Also kein Thema für die meisten, wie Jeanne Calment noch im Alter von 100 Jahren mit dem Fahrrad durch die Straßen zu radeln.

Dennoch: Die Zahl derjenigen, die das dreistellige Alter erreichen, steigt beständig: Lebten 1960 in Westdeutschland noch 119 über 100-Jährige, waren es 1990 bereits 2 528. Und längst nicht alle Altersforscher sind, was das maximal erreichbare Lebensalter betrifft, so zurückhaltend wie der Biologe und Fachjournalist Reitz. Angespornt durch erfolgreiche Versuche mit genetisch „umprogrammierten“ Fruchtfliegen und Spulwürmern reichen die Spekulationen inzwischen schon auf Lebensspannen von mehreren Jahrhunderten. Der Traum – oder, wie manche Zeitgenossen auch meinen, Alptraum – vom ewigen Leben geht also weiter.

Junge und alte Alte

Aber zurück auf den Teppich der Wahrscheinlichkeiten: Für die Menschheit geht es nach wie vor eher um kleinere Schritte. Die medizinische Beseitigung der großen Volkskrankheiten Krebs, Diabetes, Herzkrankheiten und Schlaganfälle würde statistisch betrachtet der durchschnittlichen Lebensspanne „nur“ zusätzliche eineinhalb Jahrzehnte einbringen. Jahrhunderte bleiben bisher Wunschdenken einiger Gerontologen.

Aber selbst wenn jahrhundertelange ewige Jugend bisher nicht auf dem Plan steht, ist es, so Schirrmacher, eindeutig die Mission der Menschen von heute, merklich älter zu werden als ihre Vorfahren.

Die bisherigen Erfolge, das Altern der Menschen zu verzögern, sind deutlich messbar: „Menschen, die heute in den hoch entwickelten Nationen 70 Jahre alt geworden sind, können körperlich und geistig als so fit gelten wie die 65-jährigen vor 30 Jahren“, weiß Buchautor Reitz. Und die Wissenschaft hat sich bereits darauf eingestellt. Sie unterscheidet heute zwischen „jungen“ (drittes Alter von 60 bis 80) und „alten Alten“ (viertes Alter ab 80 Jahre). Im „Dritten Alter“, so Reitz, zeigt sich der Fortschritt unserer Zeit: „Die gute Lebensqualität beim Altern konnte in den letzten 30 Jahren um etwa fünf Jahre verlängert werden.“

Was die Alten allerdings möglichst nicht wollen, ist alt auszusehen: 26 Prozent der Deutschen wollen, so hält es die Meinungsforschung fest, mit 60 Jahren noch so aussehen wie mit 20.

Und darauf setzt die Anti-Aging Industrie. Hinter den Werbeversprechen altersverzögernd wirkender Vitamin- oder Hormoncocktails steckt eine Strategie für Milliardenmärkte. Aber auch die Apotheken bieten mit: Die von den Pharmazeuten mit ins Sortiment genommenen „Geriatrika“ sind Mittel, die, so betont Reitz, „zwar durchaus das Wohlbefinden des Einzelnen fördern, das Altern aber nicht verzögern“.

Eine auf anderem Selbstverständnis beruhende Aufgabe hat hingegen die Geriatrische Medizin. Ihr Bestreben ist vorrangig die Behandlung von Krankheiten im Alter, nicht die Verzögerung oder Ausbremsung von Altersmechanismen. Gerade angesichts der alternden Gesellschaft wird es ein immer wichtigeres Anliegen der Medizin sein, den Weg ins hohe Alter möglichst frei von körperlichen Beschwerden und Krankheiten zu halten. Prävention wird angesichts wachsenden Lebensalters zur Pflicht.

Fünf Jahre gewonnen

„Die Art und Weise, wie Menschen im Lebenslauf gelebt haben, entscheidet mit über ihre physische und psychische Gesundheit sowie über den Grad ihrer Selbstständigkeit im Alter“, ist Prof. Andreas Kruse, Direktor des Institutes für Gerontologie der Universität Heidelberg, überzeugt. Genau diesem Aufgabengebiet hat sich auch die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in den letzten Jahren vermehrt gewidmet. Auf der Bundesversammlung der Bundeszahnärztekammer im November 2002 in Hamburg plädierte Gerontologe Kruse dafür, „die Zahn-, Mund- und Kieferdiagnostik viel intensiver als bisher in die Diagnostik des gesundheitlichen und funktionellen Status einzubeziehen“ – eine Forderung, die nicht nur das Selbstverständnis der Zahnärzte als „ZahnMediziner“, sondern auch die vielfachen Aktivitäten der Kammern in Sachen lebenslanger Prävention und wachsender Bedeutung der Alterszahnheilkunde stützt.

Die Einschätzung dieses mehr und mehr wachsenden Schwerpunktes ist realistisch: „Bei einem möglichen Altenquotienten von eins zu zwei wird jeder dritte Patient in der Zahnarztpraxis der Gruppe Senioren angehören“, rechnete Prof. Reiner Biffar von der Ernst-Moritz-Arnt-Universität Greifswald in einer gemeinsam mit Dr. Torsten Mundt und Dr. Florian Mack in „Quintessenz“ veröffentlichten Arbeit zum „Demographischen Wandel und seinen Auswirkungen auf den Zahnbestand in der Bevölkerung“ (Quintessenz 12/2004).

Geht es um den Zahnstatus, so werden die Alten von Morgen weitere Erfolge für sich verbuchen können: Im Jahr 2020, so stellten die Greifswalder Wissenschaftler auf Basis von Zahlen der DMS-Studien des Instituts der Deutschen Zahnärzte heraus, werde unter optimistischen Bedingungen der Zahnbestand eines 65-Jährigen im Jahr 2020 dem des heute 60-Jährigen entsprechen.

Die Bundeszahnärztekammer hatte erst Mitte vergangenen Jahres die Mundgesundheitsziele erneut modifiziert und entsprechend hoch gesteckt (siehe zm 14/2004): Danach soll bis zum Jahr 2020 bei den 65- bis 74-Jährigen die Prävalenz schwerer parodontaler Erkrankungen von 24,4 (1997) auf 20 Prozent, die Häufigkeit vollständiger Zahnlosigkeit von 24,8 auf unter 15 Prozent reduziert werden.

Diese positive Erwartungshaltung in der Zahnmedizin hält der Heidelberger Gerontologe Kruse für übertragbar auch auf andere Disziplinen der Medizin: „Es wird erwartet, dass sich die Gesundheit älterer Menschen in den künftigen Kohorten weiter verbessern wird.“ Dass zunehmendes Alter und die damit wachsende Zahl älterer Menschen sich in gleichem Maße auf die Zahl der Pflegebedürftigen auswirkt, wird bisher hingegen nicht erwartet. Die vielfach artikulierte Annahme, dass Deutschland wegen der demographischen Entwicklung in einen Pflegenotstand gerate, sei „kritisch zu bewerten“, meint Altersmediziner Kruse.

Kosten kontra Ethik

Für das Miteinander in der künftigen Altersgesellschaft aber ganz wesentlich – und in der berufspolitischen Argumentation der deutschen Zahnärzteschaft seit Jahren fester Bestandteil – ist die Bedeutung der Eigenverantwortung des Einzelnen. „Angesichts der gestiegenen durchschnittlichen Lebenserwartung, des demographischen Wandels sowie der begrenzten Ressourcen des sozialen Sicherungssystems gewinnt die erhöhte sozial gerechte Selbstverantwortung des Menschen für sein Alter zunehmend an Bedeutung“, weiß Andreas Kruse: „Das hohe Gut der sozialen Sicherung wird nur dann erhalten werden können, wenn die Selbstverantwortung des Menschen für sein Alter gestärkt wird.“

Und an dieser Thematik entzündet sich immer wieder einer der härtesten Streitpunkte der Republik. Gewaltig missverstanden wurde beispielsweise 1998 der damalige Präsident der Bundesärztekammer Karsten Vilmar. Sein Versuch, mit der provokantironisierenden Wortprägung des „sozialverträglichen Frühablebens“ Problembewusstsein zu erzeugen, schlug fehl. Vilmar zog sich den Zorn der Gesellschaft zu. Der Versuch des damaligen BÄK-Präsidenten, den Deutschen endlich die Augen für die unweigerlich auf uns zukommenden Probleme der Überalterung zu öffnen, machte ihn letztlich nur zum Schöpfer des „Unwortes des Jahres 1998“. Weit radikaler agierte im Sommer 2003 der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder. Seine Forderung, dass 80-Jährige künstliche Hüften oder Zahnprothesen nur noch mit entsprechender Selbstbeteiligung erhalten sollten, kratzte an einer ganz anderen Stelle gesellschaftlich-ethischen Selbstverständnisses. Mißfelders Brachialversuch, durch provokante Äußerungen die Problematik der so genannten „Generationengerechtigkeit“ zu thematisieren, sondierte erneut die Grabentiefe zwischen jung und alt und endete mit der Entschuldigung des Fehlschlags. Auch der im gleichen Sommer mit seiner Forderung, medizinische Leistungen für Ältere zu begrenzen, massiv angeeckte Bochumer Theologieprofessor und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Sozialethiker Joachim Wiemeyer hat nicht zu einer sachbezogenen Diskussion um die Bewältigung des ökonomischen Drucks beitragen können.

Letztlich sind es dann doch wieder die Mediziner, die fehlerhaften Denkansätzen dieser Art eine klare Antwort erteilen: „Die Forderung, älteren Menschen aus Kostengründen keine teuren medizinischen Leistungen zu gewähren, ist an Menschenverachtung kaum zu überbieten“, sprach im Sommer 2003 der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, wohl allen Heilberuflern aus der Seele.

Nachteilig für eine sachgerechte Befassung ist aber auch, dass die Debatte immer vom ökonomischen, nicht vom ethisch-solidarischen Ansatz aus geführt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die Diskussion immer wieder mit anderen ebenfalls emotionsbelasteten Themen wie Euthanasie, Stammzellenforschung und anderen medizinischethisch zu erörternden Fragen unserer heutigen Gesellschaft vermischt wird.

Ausschlaggebend ist nach wie vor die sozialethische Argumentation. Dennoch sind damit die volkswirtschaftlichen Folgen des Demographie-Desasters nicht gelöst. Weitgehender Konsens ist, dass der „Wert der Methusalems“ nicht an ökonomischen Motiven gemessen werden darf. In Frage gestellt wird inzwischen immerhin – und das nicht nur in der Zahnmedizin –, ob das wachsende Lebensalter kongruent wachsende Anforderungen an die medizinische und pflegerische Versorgung der Menschen stellen wird.

Die Defizite in der Finanzierung der Krankenversicherungen, so hat es jüngst das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherungen (WIP) vorgerechnet, sind nicht in erster Linie das Ergebnis sinkender Einnahmen und höherer Kosten aufgrund des medizinischen Fortschritts. Auch in diesem Bereich kommt der Überalterung eine größere Rolle zu als den anderen Faktoren: In den kommenden Jahren wird mehr und mehr die stetig wachsende Zahl der Rentner in Deutschland eine Rolle bei den steigenden GKV-Beiträgen spielen. Derzeit sind es in Deutschland jährlich 36 Milliarden Euro. Diese Entwicklung erfordert, so das WIP, einen immer größeren Transfer von der jeweils jungen Generation an die Älteren.

Das PKV-Institut empfiehlt Abfederung: „Kapitaldeckung oder kapitalbildende Elemente werden in der gesetzlichen Krankenversicherung notwendig sein, um eine Antwort auf die demographische Herausforderung im Allgemeinen und auf die strukturellen Kosten- und Ausgabenprobleme im Speziellen zu finden.“

Eine Antwort, die die rot-grüne Bundesregierung in der Rentenproblematik durch vermehrte eigene Vorsorge bereits gegangen ist. In der gesetzlichen Krankenversicherung neigt man aber bisher eher dazu, die Lösung der Probleme durch Einführung einer Bürgerversicherung aufzuschieben. Ein falscher Weg, meint das WIP, denn Nachhaltigkeit, so zeigt die Analyse, bringt letztlich die Annahme von mehr Eigenverantwortlichkeit.

In Würde altern

Dass diese Ansätze ausreichen, um das Alterungsproblem wirklich in den Griff zu kriegen, bleibt unwahrscheinlich. FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher geht in seiner Analyse tiefer. Die Mission, alt zu werden, erfordert von den künftigen Methusalems ein ganz anderes Selbstverständnis. Das bisherige Prinzip der – seit Jahrhunderten auch von den Alten akzeptierten – Entmündigung der Menschen über 60 müsse einer neuen Selbstdefinition Platz machen.

Und hier liegt Schirrmachers eigentliche Erkenntnis: Ansätze zur Lösung des Demographieproblems erfordern eine „grundstürzende und grundlegende Revolution des Bildes, das wir uns von unserem Leben und unserem Alter machen“. Die von den künftigen Alten zu bewältigende Aufgabe ist keine geringe. „Die Frage ist, wie wir den Steinzeitmenschen in uns an eine fast verfünffachte Lebenserwartung gewöhnen können.“

Wenn die Deutschen diese Aufgabe ernst nehmen, können sie „das Blatt zum Guten wenden“, so könnte man das Fazit des Buches auf einen kurzen Nenner bringen. „Wir müssen verlernen, was unsere Kultur und unsere Biologie uns über das Alter eingaben. Sie haben, um es trivial auszudrücken, nicht mehr Recht. Es ist vorbei mit der unbestrittenen Herrschaft der Jugend über das Alter.“

Erste Anzeichen, dass die Menschheit inzwischen fähig ist, die Sehnsucht nach ewiger Jugend zwischenzeitlich zu vergessen, kommen interessanterweise aus der Werbung. Unilever hat im Rahmen der Vermarktung von Kosmetika eine Kampagne gestartet, die nicht mehr auf die Nullachtfünfzehn-Regeln herkömmlicher Schönheit setzt. Eines ihrer Models ist die 95-jährige Britin Irene. Sie hat ein ganz eigenes Selbstverständnis von Schönheit: „Ich habe viele Freunde im Alter von über 90, und ich glaube, dass ich besser aussehe als sie. In meinem Leben war ich nie schön, aber heute fühle ich mich schön. Es hat etwas mit würdevollem Altern zu tun.“

Nur ein Beispiel für eine Grundhaltung, die das neue Selbstverständnis der Jungen von heute, die die Alten von Morgen und Übermorgen sein werden, prägen kann.

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