Ärzte bei der WM

Alles in Schuss

Manchmal ist nach dem Spiel eben nicht vor dem Spiel. Wenn sich der Kapitän verletzt, zum Beispiel. Oder der Libero vom Platz geschickt wird. Ein ganzer Medizinerstab arbeitet daher daran, unsere Elf körperlich und mental topfit zu machen. Und stürmt mit dem Arztkoffer aufs Feld, falls doch ein Spieler per Blutgrätsche zu Boden geht.

D

er Fußballtrainer als großer Zampano hat ausgedient. Zumindest in Fußballdeutschland. Hier baut Bundescoach Jürgen Klinsmann nicht nur auf sein eigenes Können, sondern auf die Kompetenz der Fachleute. Zwölf Experten kümmern sich um die 23 Kicker: Drei Ärzte, vier Physiotherapeuten, einen Psychologen und vier Fitnesstrainer umfasst die Helferliga.

Der Nationaltrainer propagiert flache Hierarchien statt autoritäres Gehabe, Teamgeist statt Einzelkämpfergebaren oder Starallüren: „Die frühere Form der Hierarchie, dass alle anderen tun, was der Cheftrainer vorgibt, ist nicht mehr produktiv.“ USAKonzepte, die in der eher konservativen deutschen Fußballwelt nicht unbedingt ankommen. Das weiß auch Klinsmann: „Die Öffentlichkeit ist gespalten. Der aufgeschlossene Teil hält es für cool, neu und denkt, wir sollten uns auch im Ausland umschauen. Dann gibt es die Konservativen, die sich nur hinstellen und sagen: ‚Wir sind dreifacher Weltmeister‘. Das ist lächerlich!“ Von einer Amerikanisierung des deutschen Fußballs will er dennoch nichts wissen. „Das ist fortschrittliche Sportwissenschaft – sonst nichts.“

Gymnastik im Akkord

Wer beim Training der deutschen Nationalelf zusieht, dem sticht jedenfalls eins ins Auge: Es wird nicht mehr bloß drauflos gebolzt. Stattdessen greift man mehr und mehr auf die Sportforschung zurück und versucht die Ergebnisse in der Praxis umzusetzen. Stabilisationsübungen, Medizinballtraining und Ausfallschritte gehören dabei genauso zum Programm wie die von Kritikern belächelte Gymnastik mit dem Thera-Band. Was nach lässiger Hausfrauenrunde klingt, bedeutet für die Fußballprofis freilich ein schweißtreibendes Workout: Gymnastik im Akkord, Zickzack-Sprints, Ausdauertests. Tadellose Fitness soll die fußballerischen Schwachstellen der verjüngten und darum unerfahrenen deutschen Nationalelf ausgleichen.

Prävention und Training: zwei Zweige eines Baums

„Viele sehen einen Unterschied zwischen Prävention und Training. Für mich sind es zwei Zweige eines Baums“, begründet der von Klinsmann aus den USA importierte Fitnessguru Mark Verstegen, warum seine Aufwärm- und Anti-Verletzungsübungen mit dem Gummiband aussehen wie bei der Krankengymnastik. „Als Erstes wollen wir Schmerzen lindern. Dann verhindern, dass sie wiederkommen. Schaffen wir das, kann der Athlet intensiver trainieren – und ich garantieren, dass er Erfolg hat.“

Mit einem umfassenden Körper-TÜV, bestehend aus vier Fitnesstests, will sich Mannschaftsarzt und Internist Tim Meyer ein Bild von der Körperkraft der Kicker machen.

Der „Functional Movement Screen“ etwa misst die Beweglichkeit. Das heißt, die Spieler absolvieren fußballtypische Abläufe im Schnelldurchlauf. Hinterher wird aus den Daten die individuelle Leistungsgrenze berechnet. Beim anschließenden „Agility Test“ steht die Wendigkeit im Mittelpunkt: Abstoppen, drehen und sprinten. Wie lang die Ballkünstler für die Schlangenlinien brauchen, wird via Lichtschranken erfasst. Alles in allem geht es um Kraft, Kondition und Koordination. „Die Spiele werden in den Zweikämpfen entschieden“, argumentiert Klinsmann. „Wir müssen die nötige Körperspannung aufbauen, damit wir den anderen den Schneid abkaufen können.“

Pimp your Body

Das bedeutet im einzelnen:

• Stabilität ist das A und O. Der Rumpf ist Ausgangspunkt jeder Bewegung. Um die Rumpfmuskulatur zu stärken, müssen die Spieler Bauch und Rücken anspannen, Körperrotationen vermeiden.

• Es geht nicht darum, einzelne Muskeln zu stählen, sondern eine komplette Muskelpartie, also die „drei Säulen der Kraft“: Beine, Rumpf, Schultern. Aber nicht allein Kraft ist ausschlaggebend, vielmehr werden Bewegungen geübt. Die Fußballer gewinnen dadurch eine stabilere Schusshaltung und reagieren schneller auf Richtungswechsel.

• Statt Muskelberge anzuhäufen, trimmen die Kicker nach der Schnellkraftmethode: Wenige, extrem schnelle Wiederholungen erhöhen Explosivkraft, Beschleunigung und Schnelligkeit.

• Um Verletzungen zu vermeiden, werden die Spieler besonders in punkto Flexibilität und Beweglichkeit gedrillt.

Einer, der auch zum Ärzteteam gehört, mittlerweile sogar zur Promiriege, ist der Orthopäde Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt. Unter seinen magischen Händen ist schon manch abgeschriebener Fußballer wie ein Phönix von der Trage auferstanden. „Schlüssel zum Erfolg ist die manuelle Diagnostik, die jeder apparativen überlegen ist“, beschreibt Müller-Wohlfahrt seine Arbeit. „Man muss in den Muskel hineinfühlen, um die verletzte Stelle genau aufzuspüren.“ Nicht nur das Körpertuning, auch die Seelenmassage trägt entscheidend dazu bei, dass ein Spieler optimale Leistung bringt. Wer gut drauf ist, kickt besser. Stress und private Probleme schmälern dagegen das Spielvermögen. Deshalb sorgt Mannschaftspsychologe Hans-Dieter Herrmann dafür, dass sich die Dribbler auch seelisch im Lot befinden. Und schickt fürs Wohlbefinden auch die Spielerfrauen plus Kids mit in die Trainingscamps. Denn ist ein Team fit, kann es das Spiel selbst in den Schlussminuten noch drehen.

Stippvisite auf dem Rasen

Vorbereitung – gut und schön. Doch was macht der Arzt, wenn ein Spieler nach einem Foul blutend am Boden liegt? Der Zuschauer sieht in der Übertragung den Doktor auf das Spielfeld rennen: ein Pflaster, ein Spray – plötzlich kann der Verletzte wieder schießen wie ein junger Gott.

Was im Fernsehen wie ein Wunder wirkt, ist in Wirklichkeit freilich dem Reaktionsvermögen des Mannschaftsarztes zu verdanken. Natürlich hat der in seinem Koffer neben Eisspray, Desinfektionsmitteln und Pflastern auch Verband und Tamponaden dabei. Viel wichtiger ist aber, dass er zügig und zuverlässig die Schwere der Verletzung erkennt sowie die Verfassung des Spielers richtig einschätzt, bevor er therapiert. Bei einem harten Kicker heißt es Wunde verbinden beziehungsweise tackern und dann weiter spielen. Beispiel Dieter Hoeneß. Der Bayernstürmer stieß 1982 im DFB-Finale mit einem Gegner so heftig zusammen, dass er eine schlimm blutende Platzwunde am Kopf davontrug. Müller-Wohlfahrt legte ihm einen Verband an und Hoeneß köpfte mit Turban noch den Schlusstreffer zum 4:2. Anders bei Eberhard Lienen von Arminia Bielefeld. Der Spieler wurde 1981 gezielt mit einem Stollen niedergestreckt und erlitt eine 30 Zentimeter lange Risswunde. Lienens Oberschenkel klaffte – kein noch so versierter Notarzt hätte den Arminen via Intensivmedizin wieder auf die Beine gebracht.

Asamoah und das Herz

Auch auf oberster Ebene, beim Weltverband Fifa und dem Organisationskomitee (OK), hat die Gesundheit der WM-Fußballer Priorität. Prof. Dr. Wilfried Kindermann, ehemaliger Internist der deutschen Auswahl und jetzt Chief Medical Officer des OK, hat bereits im Vorfeld einen Untersuchungsbogen für die Kicker entworfen. Wer den nicht ausfüllt, spielt auch nicht mit. Ein Kernthema: der plötzliche Herztod. Eine intensive Herzuntersuchung ist erstmals Pflicht. Aus gutem Grund, schließlich ereilte der tragische Tod auf dem Spielfeld in jüngster Zeit vier Profis – Marc-Vivien Foé (Kamerun, Confed Cup 2003), Miklos Feher (Benfica Lissabon, 2003), Serginho (Sae Caetano, 2004) und Hugo Cunha (Uniao Leiria, 2005) – ohne Vorwarnung und innerhalb weniger Sekunden.

Auch in Deutschland ist das Risiko „plötzlicher Herztod” bekannt: Wegen einer verdickten Herzwand drohte dem Schalker Stürmer Gerald Asamoah vor drei Jahren das Karriere-Aus. Nach einem Zweitligaspiel mit Hannover 96 hatten den Stürmer Schwindel und Schweißausbrüche gepackt. Ein Spezialist stellte einen ererbten Herzfehler fest und riet zum Abschied vom grünen Rasen. Letztlich bezifferten amerikanische Herzspezialisten Asamoahs Gesundheitsrisiko jedoch auf unter ein Prozent. Der Ghanaer durfte weiter spielen. Seit er wieder das Runde ins Eckige lenkt, steht immer ein Reanimationsgerät parat. Die einzige Chance des Ghanaers: ärztliche Hilfe binnen drei, vier Minuten.

Jenseits der Spielerbetreuung müssen aber auch die medizinischen Rahmenbedingungen in den Stadien stimmen. Von der Wegausschilderung bis hin zum 24-Stunden-Dienst in der Notfallklinik. Im Ernstfall muss eben auch eine Kernspintomographie zu nachtschlafender Zeit möglich sein.

Dass in zahlreichen Stadien aus Medizinersicht noch nicht alles perfekt war, stellten Kindermann und Kollegen beim Confed Cup 2005 fest, der als Generalprobe für die WM galt. „Da war ein Fahrstuhl so kurz, dass eine normale Trage nicht hineinpasste“, erinnert sich Kindermann. Inzwischen sind solche Stolpersteine aus dem Weg geräumt.

Hoffen wir also, dass die deutsche Elf nicht allzu früh nach Hause geht. Und machen uns die Haltung Andi Möllers zu eigen. Der hatte immerhin stets „vom Feeling her ein gutes Gefühl.“

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