Der Mund ist ein Spiegel der Seele
Forschende haben in einer narrativen Übersichtsarbeit orale Manifestationen psychischer Erkrankungen zusammengefasst. Dazu zählen nicht nur Weich- und Hartgewebsveränderungen, sondern auch Schmerzstörungen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich. Rund 30 Prozent der Patientinnen und Patienten in zahnärztlichen Praxen sollen unter nicht diagnostizierten, psychopathologischen Symptomen leiden [Priyadharshini et al., 2024].
Stress gilt als zentraler Faktor bei der Entstehung seelischer und körperlicher Erkrankungen. Laut der Autoren hat auch „Jede körperliche Erkrankung […] eine psychische Komponente […]. Die Mundhöhle mit ihrem starken psychologischen Potenzial dient als Ventil für bestimmte ,instinktive' Bedürfnisse.“ [Priyadharshini et al., 2024]. So haben psychische Faktoren einen starken Einfluss auf die Mundhöhle und den Verlauf von oralen Erkrankungen. Psychosomatische Störungen sind körperliche Beschwerden, deren Auftreten, Verlauf oder Intensität maßgeblich durch psychische und soziale Faktoren beeinflusst wird.
Die Autoren nennen eine Reihe von körperlichen Veränderungen, die durch ein erhöhtes Stressniveau hervorgerufen werden. Dazu zählen sie unter anderem: „Übergang im Gleichgewicht des autonomen Nervensystems von parasympathischer zu sympathischer Kontrolle, Veränderungen in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, erhöhten Blutdruck, Herzfrequenz und Atmung, erhöhte Blutzuckerwerte, verstärkte Durchblutung der Skelettmuskulatur, Entzündungen, verminderte Regenerationsprozesse, verminderte Verdauungsaktivität und verminderte Durchblutung des präfrontalen Kortex bei erhöhtem Stressniveau […].“ [Priyadharshini et al., 2024].
Stress wird mit zahlreichen orofazialen Erkrankungen assoziiert
Die Forschenden heben hervor, dass Stress mit vielen somatischen Erkrankungen assoziiert wird, unter anderem mit Hypertonie und Magengeschwüren, sowie zahlreichen orofazialen Erkrankungen. So konnten Zusammenhänge zu oralem Lichen planus, rezidivierenden Aphthen, Burning‑Mouth‑Syndrom und myofaszialem Schmerzsyndrom nachgewiesen werden [Priyadharshini et al., 2024].
Personen mit hohem Stressniveau entwickeln außerdem häufig parafunktionelle Habits wie Nägelkauen oder das Kauen auf Gegenständen und leiden vermehrt unter Bruxismus. Stressbedingtes Erbrechen, etwa bei Bulimia nervosa oder Magenbeschwerden, führt nicht selten zu erosiven Schäden an der Zahnhartsubstanz. Zugleich weisen Menschen mit psychischen Erkrankungen oft eine schlechte Mundhygiene und einen erhöhten DMFT‑Index (Decayed, Missing, Filled Teeth) auf.
Priyadharshini et al. unterteilen die oralen Manifestationen psychischer Störungen in verschiedene Hauptkategorien – je nachdem, ob Hartgewebe, Weichgewebe, Schmerzsyndrome oder Autoimmunprozesse betroffen sind (Abbildung 1) [2024]. Im Folgenden werden die häufigsten Krankheitsbilder kurz skizziert:
Burning-Mouth-Syndrom (BMS):
Die Leitsymptome der Erkrankung sind zumeist Brennen, begleitet von Schmerzen und/oder Dysästhesien ohne sichtbare Veränderungen an der oralen Schleimhaut. Die Autoren nennen Angstzustände und Depressionen als häufig mit BMS in Verbindung gebrachte Erkrankungen. Obwohl die genaue Pathogenese noch nicht abschließend geklärt ist, konnte bereits festgestellt werden, „dass Geschmacksveränderungen und anhaltendes Brennen bei BMS mit einer starken Schädigung der myelinisierten Aβ-Afferenzen im Trigeminusnerv oder seinen Hirnstammkreisläufen sowie einer verminderten Aδ-Faser-Signalübertragung bei relativ normaler C-Faser-Funktion verbunden sind.“ [Priyadharshini et al., 2024].Xerostomie:
Besonders depressive Störungen können sowohl subjektiv (Xerostomie) als auch objektiv (Hyposalivation) zu Mundtrockenheit führen. Ursachen sind unter anderem die relative Abschwächung parasympathischer (acetylcholinvermittelter) Einflüsse auf die Speicheldrüsen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen psychotroper Medikamente und der Anstieg des Cortisolspiegels im Speichel.Rezidivierende aphthöse Stomatitis (RAS):
Die Erkrankung, die bei rund 20 Prozent der Erwachsenen im Laufe des Lebens auftritt, hat eine multifaktorielle Ätiologie, bei der Stress jedoch eine zentrale Rolle spielt. Stress aktiviert immunregulatorische Prozesse durch eine erhöhte Leukozytenzahl an den Entzündungsherden und begünstigt so die Ulzerationen [Priyadharshini et al., 2024].Oraler Lichen planus (OLP):
OLP ist eine chronisch-entzündliche, T‑Zell‑vermittelte Erkrankung der Mundschleimhaut. Typisch sind feine, weiße Wickham‑Streifen vor allem an den Wangenschleimhäuten sowie erythematöse oder erosive Areale an Zunge, Gingiva und Lippen. Psychische Belastung und Angst spielen eine bedeutende Rolle: Emotionale Stressoren können das Erstauftreten von OLP begünstigen und bestehende Läsionen reaktivieren oder verschlimmern.Morsicatio labiorum und Morsicatio buccorum:
Morsicatio labiorum und buccorum sind parafunktionelle Selbstverletzungen der Mundschleimhaut, die durch wiederholtes Beißen, Kauen oder Saugen entstehen. Erkennbar sind diese an weißlichen, chronischen Läsionen an Wangen- und Lippeninnenseite. Psychische Faktoren wie Stress, Depressionen und innere Konflikte (zum Beispiel Wut, Eifersucht, Hilflosigkeit) können dieses Verhalten auslösen oder verstärken [Priyadharshini et al., 2024].“Bruxismus:
Bruxismus ist eine Funktionsstörung, deren Entstehung multifaktoriell bedingt ist. Psychischer Stress und emotionale Belastungen gelten als zentrale Auslöser. Merkmale wie Hyperaktivität, Ängstlichkeit, Aufmerksamkeits‑ und Anpassungsschwierigkeiten sowie emotionale Dysregulation werden mit einem erhöhten Bruxismus‑Risiko in Verbindung gebracht [Priyadharshini et al., 2024].Phantomzahnschmerzen (PTP):
Phantomzahnschmerz ist eine neuropathische De‑/Reafferentationserkrankung des Trigeminusbereichs, bei der nach Zahnentfernung persistierende, oft brennende Schmerzen an im Extraktionsbereich auftreten. Die Forschenden weisen darauf hin, dass differenzialdiagnostisch insbesondere Alveolitis, Trigeminusneuralgie, atypische Gesichtsschmerzen sowie entzündliche Prozesse des Kieferhöhlen- oder Nasennebenhöhlenbereichs abgegrenzt werden sollten.Temporomandibuläre Dysfunktionen (TMD):
Temporomandibuläre Dysfunktionen (TMD) resultieren aus einem komplexen Zusammenspiel von muskulären, Gelenk‑ und psychosozialen Faktoren. Insbesondere psychischer Stress kann das Auftreten von TMD-Symptomen begünstigen. Andererseits können anhaltende Kieferbeschwerden ihrerseits die psychische Belastung erhöhen und damit einen selbstverstärkenden Teufelskreis aus Stress und Schmerzen auslösen.Medizinisch nicht erklärbare orale Symptome (MUOS):
Medizinisch nicht erklärbare orale Symptome (MUOS) umfassen chronische Beschwerden wie BMS, Dysästhesien, Halitophobie, Odontophobie oder atypische Odontalgie, bei denen trotz intensiver Diagnostik kein organischer Befund vorliegt (Abbildung 2) [Priyadharshini et al., 2024]. Hinweise sind fehlende Befund‑Symptom‑Korrelation, familiäre Häufung, wiederholte Überweisungswünsche des Behandlerteams und eine ausgeprägte emotionale Anspannung im Behandlungsverlauf.
Des Weiteren steht Parodontitis in unterschiedlichem Maße mit Erkrankungen wie Parkinson, Angststörungen, Depressionen, Schizophrenie und bipolarer Störung in Zusammenhang, während Karies, Xerostomie, Bruxismus und Zahnverlust mit Demenz assoziiert werden [Priyadharshini et al., 2024].
Die Autoren erklären, dass die starke Fachabgrenzung zwischen Psychiatrie und Allgemeinmedizin bei psychosomatischen Krankheitsbildern dazu führen kann, dass Betroffene mit komplexen Beschwerden oft zwischen den Disziplinen „verloren gehen“ und sich unzureichend versorgt fühlen. Sie heben hervor, wie schwierig es ist, Störungen, die Körper und Psyche gleichzeitig betreffen, adäquat zu diagnostizieren und zu behandeln. Zahnärztinnen und Zahnärzte können dabei durch das Erkennen oraler Symptome einen wichtigen Beitrag zur Diagnosestellung leisten. Liegt bereits eine psychische Grunderkrankung vor, sollte umgehend eine Überweisung in eine zahnärztliche Praxis erfolgen – idealerweise in engem interdisziplinären Austausch mit psychologischen Fachkräften, um Ängste und Fragen der Patientinnen und Patienten bestmöglich zu adressieren.
In Bezug auf die Diagnostik heben die Forschenden die Bedeutung von Biomarkern hervor, die „als physiologische Indikatoren objektiv testbarer Prozesse entweder Marker des Geschehens selbst oder Bausteine des Wegs von Stress zur Erkrankung sind“ [Priyadharshini et al., 2024]. Genannt werden in diesem Zusammenhang Hitzeschockproteine, oxidative Stress-Marker, angeborene Immunmarker wie Akute-Phase-Proteine sowie im Speichel und Urin nachweisbare Substanzen.
Fazit
Abschließend fassen die Autoren zusammen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen eine besonders vulnerable Gruppe im Hinblick auf orale Erkrankungen darstellen. Die Ursachen hierfür reichen von Selbstvernachlässigung und mangelndem Gesundheitsbewusstsein bis zur Angst vor zahnärztlichen Behandlungen. Gleichzeitig kann eine schlechte Mundgesundheit selbst zur Entstehung oder Verschlechterung psychischer Störungen beitragen. Daher kommt der zahnärztlichen Rehabilitation eine immense Bedeutung im Gesamtbehandlungsplan zu.
Priyadharshini G, Ramalingam K, Ramani P. Unveiling the Unspoken: Exploring Oral Manifestations of Psychological Disorders. Cureus. 2024 Jan 25;16(1):e52967. doi: 10.7759/cureus.52967. PMID: 38406056; PMCID: PMC10894318.