Wirtschaftsfaktor Gesundheit in Europa

Ein gewaltiger Boom

Heftarchiv Gesellschaft
Die Gesundheitswirtschaft blickt europaweit einer rosigen Zukunft entgegen. Denn immer mehr Menschen werden immer älter und benötigen eine adäquate Versorgung. Zugleich steigt die Zahl chronisch Kranker in Europa stetig an. Die Kehrseite der Medaille: Teure oder langwierige Therapien belasten die Solidarkassen, Arbeitsausfälle wirken sich negativ auf die Volkswirtschaften aus. Gefragt sind Konzepte, die das Wachstum der Gesundheitsbranche fördern und die Finanzierung der Versorgungssysteme neu ordnen. Ein Umdenken hin zur PKV tut not.

Chronische Erkrankungen sind in Europa kontinuierlich auf dem Vormarsch und verschlingen jährlich Milliarden Euro. Dies gilt vor allem für den Diabetes mellitus, Herzkreislauf- sowie Demenzerkrankungen, aber auch Allergien und Asthma sowie Osteoporose. So leiden beispielsweise bereits rund 14 Millionen Europäer an Fettleibigkeit (Adipositas), darunter drei Millionen Kinder – Tendenz steigend. Nach Angaben der europäischen Kommission gehen derzeit ungefähr sieben Prozent der Gesundheitsausgaben in der Europäischen Union (EU) auf das Konto der Versorgung der mit Adipositas zusammenhängenden Krankheiten. „800 Millionen Arbeitstage gehen zudem Jahr für Jahr durch Krankheitsbedingte Ausfälle verloren“, so die stellvertretende Generaldirektorin der WHO, Dr. Cathérine Le Galès-Camus.

Asthma. Auf schätzungsweise bis zu 25 Milliarden Euro pro Jahr beläuft sich der Schaden für die Volkswirtschaften in Europa. „Ursächlich hierfür sind vor allem falsche oder unzureichende Therapien und Fehltage im Job“, sagt Professor Dr. Torsten Zuberbier, Generalsekretär des europäischen Allergie- und Asthmanetzwerks Ga2len.

Dass hier mit adäquaten Therapien und präventiven Ansätzen gegengesteuert werden kann und muss, ist längst eine Binsenweisheit. Allerdings gelingt dies bislang nur vereinzelt. Beispiel Finnland: „Durch konsequente Gesundheitserziehung konnten die Finnen innerhalb der letzten 20 Jahre das Risiko bei der männlichen Bevölkerung, an einem Herzleiden zu erkranken, um 65 Prozent senken“, macht Anne Hoel von der European Public Health Alliance deutlich. Ausschlaggebend für den Erfolg der Maßnahmen sei insbesondere der politische Wille gewesen, Veränderungen herbeizuführen

Die Finnen haben offensichtlich erkannt, dass Gesundheit und Gesunderhaltung nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch ein Wirtschafsfaktor sind, der zum Wohlstand einer ganzen Volkswirtschaft beitragen kann.

Strategien entwickelt

Um diese Erkenntnis europaweit zu fördern, unternimmt die EU-Kommission in Brüssel zahlreiche Anstrengungen. Beispiel hierfür sind die Bestrebungen, gemeinsam mit den EU-Ländern Strategien im Kampf gegen übermäßigen Tabakgenuss und ausufernde Körperfülle zu entwickeln und zugleich den europäischen Gesundheitsmarkt voranzutreiben. Denn der Gesundheitsbranche wird wegen der Vielzahl der chronischen Erkrankungen und der Altersentwicklung der europäischen Bevölkerung ein gewaltiger wirtschaftlicher Boom prophezeit. EU-Beamte haben fleißig Berechnungen angestellt, welche Dimensionen dieser Markt annehmen könnte. So schätzt die EUKommission, dass es im Jahr 2010 etwa 69 Millionen Menschen geben wird, die dann über 65 Jahre alt sind. Das entspräche einer Verdopplung der Zahl der Rentner gegenüber 1960. Personalintensive Leistungen in der ambulanten und stationären Versorgung, einschließlich der Pflegebranche werden folglich zunehmend gefragt sein. Auch Zulieferer und Nachbarbranchen, wie die Pharmaindustrie, Medizinproduktehersteller, Dentallabore, Beratungsunternehmen für Gesundheitseinrichtungen sowie Forschungsinstitute werden von den Entwicklungen profitieren, ist sich die EU-Kommission sicher.

Der dargestellte Trend ist allerdings keine reine Zukunftsmusik. Vielmehr verzeichnet die Gesundheitsbranche schon seit Jahren Wachstumsraten. Nach Angaben der Brüsseler Behörde wurden seit 1995 in Europa mehr als zwei Millionen Arbeitsplätze im Gesundheitswesen und in der Sozialarbeit geschaffen. Das entspricht einem jährlichen Zuwachs von durchschnittlich 2,4 Prozent und einem Anteil an den insgesamt neu geschaffenen Arbeitsplätzen in der EU von 18 Prozent. Inzwischen arbeitet etwa jeder zehnte Erwerbstätige in Europa im gesundheitlichen beziehungsweise sozialen Bereich.

Medizinprodukteindustrie verzeichnet seit Jahren zweistellige Zuwachsraten. Ähnlich sieht es in der Dentalbranche aus. Nach Angaben des Verbandes der deutschen Dentalindustrie (VDDI) machten die Unternehmen im Jahr 2004 einen Umsatz von 3,2 Milliarden Euro. „Gegenüber 2003 ist dies ein Zuwachs um 2,3 Prozent“, so Dr. Martin Rickert, Vorsitzender des VDDI. Der Löwenanteil des Exports landete in der EU. Wie wichtig es Brüssel ist, den Gesundheitsmarkt zu fördern, zeigt auch eine Initiative der für die Industrie und Unternehmen zuständigen Abteilung. EU-Unternehmenskommissar Günter Verheugen will nämlich bis Mitte nächsten Jahres eine Gesamtschau über die Gesundheitsbranche in Europa erstellen lassen. Hintergrund des Engagements ist es zu identifizieren, welche bürokratischen Hemmnisse das Wachstum bremsen könnten und inwieweit die EU dem entgegenwirken kann, wie ein Sprecher der Abteilung bestätigt.

Eine Frage der Finanzierung

Derweil stellt sich die Frage, wie die ständig steigenden Gesundheitsausgaben in Europa langfristig finanziert werden können. „Adäquate Finanzierungsmodelle sind eine Voraussetzung dafür, eine qualitativ hochwertige Versorgung auch weiterhin garantieren zu können“, heißt es in einem von der europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Bericht. In dem Strategiepapier mit dem bezeichnenden Namen „Health is Wealth“ sprechen sich die Autoren – 30 Experten medizinischer Fachgesellschaften, der OECD und WHO, Ärzte und Vertreter der Industrie sowie von Kostenträgern und Patientenorganisationen – dafür aus, nur wissenschaftlich belegte Methoden aus den Solidarkassen zu bezahlen. „Das wiederum erfordert, bestehende Versorgungsstandards zu überdenken und Prioritäten neu zu setzen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Finanzierung“, so Professor Dr. Felix Unger, Vorsitzender des European Instituts of Medicine, dem Urheber des Berichts.

Bei der öffentlichen Finanzierung sei auf ein Gleichgewicht zwischen Steuerlast und Pflichtbeiträgen zu achten, so eine Quintessenz der Strategen. Die zweite lautet: Elemente zur Co-Finanzierung, wie private Zusatzversicherungen, gewinnen in Zukunft stärker an Bedeutung.

Umdenken hin zur PKV

Ein Umdenken in diese Richtung ist auch dringend erforderlich. Denn der Wirtschaftsausschuss der europäischen Kommission hat errechnet, dass die öffentlichen Gesundheitsausgaben in der EU von aktuell durchschnittlich rund 6,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) auf voraussichtlich acht Prozent im Jahr 2050 steigen werden – wenn sich am Status quo nichts ändert.

Bislang jedoch spielen die Privatversicherungen in Europa noch eine sehr untergeordnete Rolle, auch wenn der Anteil der Mitglieder in einigen Ländern – beispielsweise Deutschland, Belgien, Österreich, Portugal, Frankreich, Spanien und Slowenien – in den letzten Jahren leicht gestiegen ist. Dies geht aus einer aktuellen Übersicht des europäischen Verbandes der Versicherungsunternehmen über den europäischen Krankenversicherungsmarkt hervor, dargestellt anhand von elf ausgewählten Staaten (Comité Éuroéen des Assurances (CEA): CEA Eco n°23 – Health Insurance Europe in 2004, Brüssel, Mai 2006).

Zwar gibt es in einigen Ländern die Möglichkeit, eine private Voll- oder Zusatzversicherung abzuschließen. Allerdings sind die Angebote allein schon aufgrund des unterschiedlichen Leistungsumfangs nicht unbedingt vergleichbar. In der ein oder anderen beziehungsweise beiden Varianten existieren derartige Optionen zum Beispiel in Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Portugal oder auch Großbritannien.

Gemeinsam ist allen europäischen Ländern vielmehr, dass nach wie vor der öffentliche Sektor das Gros der Gesundheitsausgaben bestreitet (siehe Tabelle). Den höchsten Anteil erzielte 2004 das steuerfinanzierte System Großbritanniens mit knapp 86 Prozent. Aber auch in Ländern wie Deutschland, Belgien, Frankreich, Finnland, den Niederlanden und Slowenien, in denen die Sozialversicherungen die Hauptfinanzierungsquelle bilden, geht der Anteil der aus dem eigenen Portmonee oder von privaten Versicherungen bezahlten Gesundheitsausgaben kaum über ein Viertel hinaus.

Petra SpielbergRue Colonel Van Gele 98B-1040 Brüssel

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Jahr

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Land

2004

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AT

2004

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BE

2004

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CH

2003

\n

DE

2004

\n

DK*)

2003

\n

ES

2004

\n

FR

2004

\n

GB

2004

\n

IT

2003

\n

NL

2002

\n

SL

\n

Öffentlicher Sektor

73,8 %

73,9 %

65,9 %

74,0 %

80,0 %

71,2 %

78,0 %

85,7 %

75,0 %

79,1 %

87,1 %

\n

Staatl. Budget

5,5 %

23,2 %

2,8 %

69,4 %

1,3 %

5,6 %

\n

Sozialversicherung

68,3 %

6,8 %

67,2 %

14,8 %

76,7 %

79,1 %

87,1 %

\n

Andere Finanzquellen

35,9 %

4,0 %

65,2 %

1,8 %

\n

Privater Sektor

26,2 %

26,1 %

31,1 %

26,0 %

20,0%

28,8 %

22,0 %

14,3 %

25,0 %

20,9 %

12,9 %

\n

Privatversicherung **)

3,2 %

4,7 %

7,4 %

9,7 %

12,9 %

3,5 %

1,0 %

15,5 %

12,9 %

\n

Arbeitgeber

0,4 %

4,6 %

\n

Private Haushalte

21,0 %

25,8 %

11,5 %

9,1 %

7,7 %

5,5 %

\n

Andere Finanzquellen

0,9 %

3,3 %

\n

*) in Dänemark ist das staatliche Gesundheitsbudget Teil des allgemeinen öffentlichen Haushalts, **) sowohl Zusatz- als auch Vollversicherungen

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Quelle: CEA

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