Gastkommentar

Alter Drachen Krankenkasse

Der Frust der Arbeitgeber und Gewerkschaften in der Selbstverwaltung hat bei den gesetzlichen Kassen ein Machtvakuum erzeugt. An ihrer Stelle will sich die Politik künftig auch um Details kümmern. Am Ende werden die Betriebe und ihre Mitarbeiter für schlechtere Leistung höhere Preise zahlen.
Martin Eberspächer
Leiter der Abteilung Wirtschaft und Soziales, Bayerischer Rundfunk

Von der Fußballweltmeisterschaft zur Festspielzeit – dieser Sommer war nicht die Zeit der sauren Gurken. In Berlin wagte Ulla Schmidt den großen Kassenstich. Sie will einen altersschwachen Drachen bezwingen. Vor 110 Jahren hatte der deutsche Kaiser mit seinem Eisernen Kanzler die Selbstverwaltung als Mitbestimmung der Versicherten und Arbeitgeber eingerichtet. Dieses Modell einer staatsfernen, solidarischen Sozialversicherung ist überholt. So wie sich das EURecht zuletzt entwickelt hat, ist absehbar, dass die Selbstverwaltungen ihren öffentlichrechtlichen Status verlieren werden.

Teile der Wirtschaft wünschen dies seit längerer Zeit. Die Arbeitgeberverbände sind es leid, einzustehen für eine Politik, die Betriebe mit zusätzlichen Kosten belastet. Die Flucht vieler Mitglieder aus den Verbänden zeigt, dass eine derartige Interessenvertretung nicht honoriert wird. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu steigern, erschien es strategisch konsequent, die Versicherungsbeiträge vom Lohn abzukoppeln. Als Oppositionspartei ist die CDU auf das Prämienmodell eingestiegen. Dies war eine Sternstunde für den Hauptgeschäftsführer der BDA, Reinhard Göhner in seiner Doppelfunktion als CDU-Abgeordneter.

Bei den Gewerkschaften ist die Lust an Mitverantwortung unter der Agenda 2010 geschwunden. Für „Sozialabbau“ konnten sie ihre Mitglieder nicht begeistern. Die Reform des Arbeitsmarktes und die Rente mit 67 sollen Arbeitsminister Müntefering und die SPD ohne Segen vom DGB verantworten. Demonstrativen Beifall gab es beim „Parlament der Arbeit“ für Oskar Lafontaine. IG Metall und ver.di verstehen sich als Gegenmacht. Im Bundestag sehen sie die Linkspartei und die Grünen als neue Lobby. Offensichtlich wurde der Kurswechsel beim Sturz der Sozialdemokratin Ursula Engelen-Kefer. Über Jahrzehnte brachte sie differenzierte Interessen der Arbeitnehmer in verschiedenen Selbstverwaltungen auf einen gemeinsamen Nenner. In Treue fest zur SPD stand zuletzt allein die IG Chemie, Bergbau, Energie.

Der Frust, den die Pflichten der Selbstverwaltung bei Arbeitgebern und Gewerkschaftern erzeugen, prägt ihre Haltung zur Reform. Die Aussteigermentalität in den Verbänden hat ein Machtvakuum erzeugt, das die große Koalition jetzt ausfüllen will. Der Gesundheitspool und ein Dachverband aller gesetzlichen Kassen sollen Strukturen aufbrechen und den Durchgriff der Politik im Detail erleichtern. Anders als bei früheren Reformen werden Funktionäre nicht mehr als Ratgeber, sondern als lästige Lobbyisten behandelt.

„Bestellst Du die Kassenfunktionäre, vergiss die Peitsche nicht!“, nach diesem Motto haben Ulla Schmidt und ihr Staatssekretär Klaus Theo Schröder die Widerspenstigen Anfang August drei Tage lang bearbeitet, aber nicht gezähmt. Prompt wurde eine Anzeigenkampagne gestartet. Nach dem Motto: „Die Regierung tut Gutes“ soll die Reform beim Volk ins rechte Licht gerückt werden.

Mitten im heißen Sommer wehrte sich Arbeitgeberpräsident Hundt gegen den Maulkorb der Politik. Warum ist sein Interesse an der GKV erwacht? Der Reformeifer der Koalition enttäuscht. Unter dem Eindruck schlechter Umfragewerte will die Union soziales Profil zurückgewinnen. Es wird immer deutlicher, dass die Betriebe in den Gesundheitsfonds ab 2008 mehr als in die alten Kassen einzahlen sollen. Angela Merkel hatte zunächst nur ein halbes Prozent Beitragserhöhung angefordert. Tatsächlich wird der künftige Satz deutlich über dem heutigen Durchschnitt liegen. Einige Kassen, darunter die AOK im wohlhabenden Bayern hatten Schulden in dreistelliger Millionenhöhe. Außerdem will die Bundesregierung verhindern, dass die wenig populäre, „kleine Kopfpauschale“ von Anfang an fällig wird. Nach Start des Fonds sollen möglichst viele Kassen Überschuss erwirtschaften. Den könnten sie werbewirksam an ihre Versicherten ausschütten. Dieses Erfolgserlebnis auf Kosten der Betriebe ist für den Sommer 2009 eingeplant – wenige Tage vor dem Wahltermin. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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